Als „ein bisher kaum gewürdigtes Kriegsverbrechen“ bezeichnete Dr. Richard Schmitt die Ermordung des damals 50-jährigen Rothenburger Volkssturmmanns Johann Leonhard Rößler in seinem gleichnamigen Artikel in „Die Linde“ vom März 2012. Kaum gewürdigt deshalb, weil die standrechtliche Erschießung des Rothenburger Gärtnereibesitzers am 7. April 1945 abends auf dem Rothenburger Friedhof wegen Fahnenflucht in der bisherigen lokalen und überregionalen Berichterstattung in Büchern und Zeitungen nicht und wenn doch, dann meist marginal dargestellt wurde. Wenn das so ist, dann ist das 2010 erschienene Buch von Franz-Josef Merkl „General Simon. Die Lebensgeschichten eines SS-Führers“ die Ausnahme. Merkl widmet sich akribisch diesem wie anderen standgerichtlichen Fällen des furchtbaren SS-Kommandeurs. Allerdings mögen die zeitgleich stattgefundenen und weitaus Aufsehen wirksameren Ereignisse in dem Dorf Brettheim bei Rothenburg, die mit dem Fall Rößler auch personengleich zusammenhängen, den Fokus in Nachforschung und Veröffentlichung abgelenkt haben. In Brettheim wurden drei Tage später drei Männer aus dem Dorf vom Standgericht desselben Gerichtsherrn zum Tode verurteilt und an Bäumen am Friedhof aufgehängt und hängen gelassen. Gerichtsherr war der SS-General Max Simon, in jenen Tagen der Kriegsherr in Rothenburg und Umgebung (über den Fall Brettheim siehe Artikel an anderer Stelle dieser Dokumentation: „Blick nach Brettheim I und II“).
Sich mit dem deftigen Götz-Zitat aus dem Krieg verabschiedet
Johann Rößler wurde am 22. Juli 1894 als Sohn des Gärtnereibesitzers Johann Rößler sen. geboren, war evangelisch, nahm am Ersten Weltkrieg teil, wurde verwundet und litt an der Fußverletzung chronisch. Er wohnte zuletzt in der Unteren Schmiedgasse, wo die Rößlers einen Gemüseladen hatten. Die Gärtnerei befand sich in der Buttstedtstraße. Den Ersten Weltkrieg überlebte Johann Rößler, wenn auch verwundet. Doch das Drama, das sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs um den Rothenburger entwickelten sollte, überlebte er nicht. Rößler gehörte in den letzten Kriegsmonaten der Volkssturmkompanie 4 des in Ansbach gegründeten „Volkssturmbataillon Franken 7/108“ an. Von dort kam im Januar 1945 der Befehl, den Hitlerjungs an die Volkssturmmänner in Rothenburg überbrachten, sich umgehend in der Oberschule am Bezoldweg einzufinden, um anderntags an der „Ostfront“ nach Frankfurt an der Oder in Marsch gesetzt zu werden. Dem Bataillon gehörten vier Kompanien an: Rothenburg, Ansbach, Dinkelsbühl und Weißenburg. Sie waren mit veralteten oder unbrauchbaren Waffen schlecht ausgerüstet. Wegen seiner Fuß-Krankheit kam Rößler in Frankfurt an der Oder zunächst ins Lazarett, während seine Volkssturm-Einheit bereits in Abwehrkämpfen verstrickt war. Daher wurde der Rothenburger anderntags ebenfalls an die Front geschickt. Als der Zugführer die Volkssturmmänner in ihre Kampfstellungen einwies, packte Rößler seinen Rucksack und seine Waffe und machte sich mit den deutlich gesprochenen Worten zu seinem Vorgesetzten „Leck mich am Arsch“ nach hinten davon. Nach Fußmärschen und Mitnahme in Kraftfahrzeugen kam er am 12. Februar in Rothenburg wieder an. „Hier ging er seiner gewohnten Arbeit nach und beteiligte sich sogar Ende März an Schanzarbeiten des Volkssturms“ (Franz Josef Merkl).
Inzwischen war die NSDAP-Kreisleitung in Rothenburg von Rößlers „unerlaubter Entfernung von der Truppe in Erwartung eines sowjetischen Angriffs“ informiert worden. Der zuständige Nürnberger Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Karl Holz wies den Rothenburger NSDAP-Kreisleiter Höllfritsch an, einen Gerichtsoffizier mit der Untersuchung zu beauftragen. Höllfritsch hielt sich nicht daran, sondern gab die Unterlagen an den NSDAP-Landrat Meißner weiter. Dieser ließ die Sache liegen. Zwischenzeitlich meinten Rothenburger Freunde zu Rößler, er solle sich „verdrücken“. Doch Rößler blieb.
Peter Wittman erhielt sechs Jahre Zuchthaus
Als der Kommandierende SS-General Max Simon von dem Fall Rößler hörte, riss er ihn an sich, indem er die Unterlagen bei der NSDAP abholen ließ, und beauftragte seinen juristisch nicht ausgebildeten Stabsoffizier Friedrich Gottschalk, eine Standgerichtsverhandlung gegen Rößler durchzuführen. Dies und der weitere Vorgang geht aus den Gerichtsakten des Landgerichts Ansbach vom 19. Oktober 1955 hervor. Gleichzeitig wollte der SS-Kommandeur Max Simon den „Altfall“ Peter Wittmann mit erledigen, den nach Simons Ansicht Parteistellen unerledigt liegen gelassen haben. Der 45-jährige Postkraftwagenfahrer Wittmann hat nämlich bei Anrücken der Amerikaner in Rothenburg gesagt, dass man jetzt die weiße Fahne aufziehen sollte. Nach Denunziation wurde er von Feldgendarmen des von Simon befehligten XIII. SS-Armeekorps festgenommen und am 5. April 1945 von dem in der Oberschule am Bezoldweg zusammengestellten Standgericht wegen defätistischer Äußerung zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Vorsitzender war SS-Offizier Friedrich Gottschalk, Beisitzer der Wehrmachtsmajor Ernst Otto und der Eisenbahnarbeiter und Volkssturmmann Georg Habelt. Ohne Beratung fällte Gottschalk das Urteil. Die SS-Feldgendarmen nahmen danach Wittmann zur Wartung ihrer Fahrzeuge mit nach Tirol. Er überlebte den Krieg und sagte nach dem Krieg vor Gerichten in Augsburg und Ansbach als Zeuge gegen die SS-Offiziere aus.
Nach einer Stunde das Todesurteil
Am Nachmittag des 5. April wurde Rößler ebenfalls von SS-Feldgendarmerie in seiner Wohnung festgenommen und im Anschluss an die Verhandlung gegen Wittmann vor ein Standgericht gestellt. Es gab weder einen Ankläger noch einen Verteidiger. Vorsitzender war wieder der SS-Führer Gottschalk, Beisitzer Habelt und ein nicht mehr bekannter Mann. Johann Rößler entschuldigte sein unerlaubtes Entfernen von der Truppe mit seiner Behinderung durch den schlechten Zustand seiner Füße. Das nützte ihm nicht. Nach einer Stunde sprachen die drei Standrichter das Todesurteil wegen „Feigheit vor dem Feind und Fahnenflucht“. Rößler wurde gegen 23 Uhr in das Rothenburger Gerichtsgefängnis gebracht. Gerichtsherr Max Simon bestätigte erst mit Verzögerung das Urteil, weil er durch den Durchbruch amerikanischer Panzer bei Crailsheim beschäftigt war. Johann Rößler wurde am Abend des 7. April gegen 22.30 Uhr auf dem Rothenburger Friedhof von Angehörigen der SS-Feldgendarmeriekompanie erschossen. Major Ernst Otto leitete die Exekution. An der Mauer des Hinrichtungsortes fehlt bislang jeder gedenkende Hinweis (siehe Bild).
Standgerichte des SS-Generals Simon hinterließen Blutspur
Die Standgerichte den SS-Generals Max Simon hinterließen eine breite Blutspur in den verschiedensten Orte seines Kommandobereichs des XIII. SS-Armeekorps: Brettheim, Neuhof, Bad Windsheim, Rummelsmühle bei Seenheim, Leutershausen, Ansbach, Kaisheims, Deinigen, Westendorf, Holzheim, Thierhaupten und so weiter. Franz Josef Merkl bewertete in seinem Buch „General Simon. Lebensgeschichten eines SS-Führers“ das Verhalten Simons:
„Dass sich der Kommandierende General wie sein für die Feststellung und Bewertung der Feindlage zuständiger SS-Führer in einer militärisch mehr als bedrohlichen Lage mit angeblichen oder tatsächlichen Verfehlungen von Zivilisten befassten, wirft ein bezeichnenden Licht auf Simon, seinen Stab und ihre Vorstellungen, welcher Feind eigentlich zu bekämpfen war.“ –
SS-General Max Simon wurde 1955 vom Landgericht Ansbach freigesprochen.
- Nachtrag: Die Herausgeber dieser Online-Dokumentation werden an der Mauer, an der Johann Rößler am 7. April 1945 erschossen wurde, eine bronzene Gedenktafel anbringen, die am 70. Jahrestag der Erschießung enthüllt wird. Dem Antrag hat am 26. Februar 2015 der Rat der Stadt Rothenburg einstimmig zugestimmt. Dieter Balb vom „Fränkischen Anzeiger“ hat nun die genaue Stelle der Erschießung an der Innenseite der Umfriedungsmauer des Friedhofs herausgefunden. Zur Enthüllung der Bronzetafel am 7. April 2015, 18 Uhr, ist jedermann eingeladen.
Über die Feierstunde am Friedhof am 7. April 2015 unter Mitwirkung von Vertretern der Stadt berichtet Dieter Balb (Fränkischer Anzeiger): Die Rehabilitierung kam spät…
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Quellen: Franz Josef Merkl: „General Simon. Lebensgeschichten eines SS-Führers. Erkundungen zu Gewalt und Karriere, Kriminalität und Justiz, Legenden und öffentliche Auseinandersetzung“, Wießner-Verlag Augsburg 2010. – Richard Schmitt: „Ein bisher kaum gewürdigtes Kriegsverbrechen. Die Ermordung des Rothenburger Volkssturmmanns Johann Rößler 1945“ in „Die Linde“ 3/2012,17–23, Beilage des Fränkischen Anzeigers. – Landgerichtsakten Ansbach 1955: Justiz und Verbrechen XIII, XIV. – Stadtarchiv Rothenburg. – Über Max Simon und den Brettheimer Fall siehe „Blick nach Brettheim I“ und „Blick nach Brettheim II“ in dieser Online-Dokumentation. – Auskunft Manfred Jakobi (Rothenburg). – Recherchen Dieter Balb. – Harald Rößler (Würzburg). – Weitere Nachkommen Johann Rößlers (Familien Dienelt und Braun).
Der Hans Rößler stand noch im Krieg und jahrelang schon davor auf dem Marktplatz. Mit einer Bank, einem einfachen Brett auf vier Füßen, und verkaufte Gemüse. Er war ein großer derber Mensch, mit brauner Haut, weil er immer draußen war, etwas vierschrötig. Ich sehe ihn deutlich vor mir, mit einer Lederhose, ich könnte ihn malen. Und die ganze Zeit unter dem Verkaufen hat er geschimpft auf die Nazis und die Partei, und die Leute haben zu ihm gesagt: Halt doch dein Maul, sonst passiert dir noch was.
Im Haus Untere Schmiedgasse 17, das seiner Familie gehörte, stand er genauso mit der Bank im offenen Hauseingang und bot Gemüse und auch Obst an.
Notiz nach Tel. anruf vom 24. Jan. 2012 bei Gertrud Schubart (1926 – 2019)
Die Gedenktafel erinnert mich an den Spruch: stellt euch vor, es ist Krieg, und keiner geht hin! Die Gedenktafel ist eine gelungene Würdigung für einen Deserteur, der mutig mit dem Ausspruch Leckt mich am Arsch u. mit dem Ausspruch, ich verkaufe an alle, nur an den Kreisleiter nicht, seinen Widerwillen gegen den Krieg und den Kreisleiter zum Ausdruck gebracht hat.
Am 30. 11. 2017 um 14 Uhr wird während einer Gedenkstunde eine kleine Gedenktafel am Grab auf dem Friedhof der beiden in Leutershausen erschossenen Deserteure Friedrich Döppel und Richard Köhler enthüllt, die sich durch ihr Verhalten ebenfalls geweigert hatten, weiter am Krieg teilzunehmen. Burkhard Rühl
Hat zu lange gedauert mit der Gedenktafel, aber besser spät als nie.
Endlich!