Am Vortage, also am Karfreitag, ging man, dem alten Brauch entsprechend, schwarz oder dunkel gekleidet zur Andacht in die Kirche. Die Sonne kam hervor und erhellte für kurze Zeit die finsteren, verzweifelten Gesichter der in die Kirche strömenden Menschen. Viele hatten wieder beten gelernt und suchten verzweifelt einen Halt! Manche von ihnen hatten so etwas wie einen sechsten Sinn. Der laue Frühlingswind und die schleichende Vorahnung von Leid, Tod und Verderben.
Dann – am nächsten Tag trat das Unfassbare ein: Gegen zehn Uhr am Morgen stand ich mit meinem Nachbarsfreund Kurt vor dem Tor unseres Hauses. Plötzlich kreischten die Sirenen –Vollalarm. Wir hörten bereits das monotone Brummen am Himmel. Nun sah man sie auch – die 16 Maschinen etwas abseits der Stadt, gegen Osten vorbeiziehend und etwas tiefer fliegend als gewohnt.
Sonderbar, wir dachten noch: „Für die ist scheinbar weder die Zeit noch der Ort heilig!“ Und hofften noch: „Vielleicht haben die Flieger die Roten Kreuze auf den Schuldächern ausgemacht.“ Auf jeder Dachseite der Luitpoldschule, der Topplerschule und dem Krankenhaus befanden sich solche Kreuze mit runder, weißer Hinterlegung. Sie waren flächendeckend aufgemalt, um die als Hospitäler genutzten Gebäude schon von der Ferne aus kenntlich zu machen. Zeitweise waren in diesen Notunterkünften viele Kriegsverwundete untergebracht.
Riesige Wolke aus Stanniolstreifen
Doch es kam anders. Gerade als meine Mutter hinzukam, sagte ich zu Kurt: „Schau mal, was da herunterfliegt. Das sieht aus wie eine riesige Wolke aus Stanniolstreifen.“ Solches Stanniol wurde von den Piloten sehr oft zur Irritation der Flak-Horchgeräte bei Nacht abgeworfen. Da der Wind von Osten kam, dachten wir einen Moment lang an eine derartige, gegen die Stadt getriebene Stanniolwolke. Diese näherte sich behäbig.
Plötzlich merkten wir: „Jetzt wird es ernst!“ Wir versteckten uns gerade noch hinter der Haustüre und schon prasselte und knallte es wie bei einem kräftigen Hagelschauer. Sekunden brauchte ich, um meine Gedanken völlig neu zu ordnen. Alle schrieen durcheinander. Bittere Realität war es geworden – leben oder sterben? Keine fünf Minuten dauerte das alles. Dann wurde es dunkel wie bei einer Sonnenfinsternis. Wir verschlossen die Türen und alle Fenster. Die Sicht draußen betrug gerade mal zwei bis fünf Meter. Die Rauch- und Phosphorschwaden standen urplötzlich da, ruhig, undurchdringlich – und im wörtlichen Sinne mit dem Messer zu schneiden. Langsam krochen diese Schwaden durch alle Ritzen. Wir tauchten bereitliegende Handtücher in Löschwasser und banden uns diese tropfnass ums Gesicht. Mit triefendnassen Löschpeitschen in der Hand rannten wir die Haustreppe hoch.
Das Dachgebälk brannte bereits, wie damals vor meiner Geburt. Vier Stabbrandbomben sprühten unter dem Dach ihr gelblich-weiß spritzenden Phosphor umher. Wasser half nur gegen das brennende Holz. Die Brandherde mussten mit Sand erstickt werden. Die Hälfte des Hausdaches hatte bereits keine Ziegel mehr. Durch die ziegellosen Löcher senkte sich der bleierne und beißende Rauch hernieder.
30 Stallhasen und 14 Hühner auf einem Leiterwagen verstaut
Gott sei Dank, es war uns allen dann doch gelungen, dieses Feuer noch rechtzeitig zu löschen, bevor es noch größeren Schaden anrichten konnte. Doch in der Gerätehalle, wo wir zwecks schnellen Abtransports unsere 30 Stallhasen und 14 Hühner in Käfigen auf einem Leiterwagen verstaut hatten, fand das Feuer reichlich Nahrung. Zwei Stabbrandbomben steckten wie Betonpfosten im Stroh. Manche Bomben hatten zusätzlich zum Phosphor noch Sprengsätze eingebaut. Beherzt warfen wir alles brennende Stroh aus der Scheune und da knallte es auch schon. Eine Bombe war explodiert.
Das brennende Stroh flog Funken sprühend in alle Richtungen auseinander. Dies war aber unser Glück. Nun konnten wir das Feuer mit Wasser leichter löschen und vernichten. Über die Käfige warfen wir nasses Zeug: Decken, Papiersäcke und Lappen. Geschafft!
Im angrenzenden Kräutergärtchen steckten wie Bohnenstangen fünf nicht gezündete Bomben. Im vorderen Hof waren einige Sprengsätze eingeschlagen und explodiert. Der Holzgartenzaun verbrannte zu Asche. Einen anderen Sprengkörper versprühte sein Phosphor aus einer vollen, bereitgestellten Löschwasserwanne.
Wütender Feuersturm an einem vorher österlich-sonnigen Tag
Zug um Zug entwickelt sich an diesem vorher so ruhigen, österlich sonnigen Tag ein unheimlich wütender Feuersturm, der alles nicht niet- und nagelfeste Zeug in die Luft jagte. Wir hangelten uns hinaus zur Straße, umwickelt mit nassen Lappen und Atemschutztüchern.
Die Hitze wurde immer unerträglicher und brannte im Gesicht. Wolken von Asche und Glut fegten zischend durch die Luft. Nur mit Mühe konnten wir uns auf den Füßen halten. Da drangen durch die ätzenden Rauchschwaden die Hilferufe der innerhalb der Stadtmauern eingeschlossenen Menschen und Tiere. Der im Mittelalter zum Schutz der Bewohner erbaute Mauerring erwies sich plötzlich als tödliche Falle. Ein Jammer und ein unbeschreibliches Elend zugleich!
Die Leute waren völlig orientierungslos. Innerhalb einer halben Stunde herrschte totales Chaos. Die Kühe der eingeschlossenen Stadtbauern brüllten schauerlich. Das Rödertor, große Teile des Wehrgangs und das Galgentor brannten aus. Das lodernde Dachgebälk, Ziegel und Steinquader stürzten hernieder. Wer nicht vorher alles rechtzeitig im Stich gelassen hatte, konnte nicht mehr fliehen, wenigstens nicht zu diesem Zeitpunkt.
Ein junger Mann suchte Deckung unter dem Torbogen der Stadtmauer am Sterngarten. Schräg sauste eine Stabbrandbombe hernieder und schlug ihm ein Bein ab. Gespenstisch loderten in der folgenden Nacht die Flammen der brennenden Balken und Häuser gen Himmel. Über der ganzen Stadt lag eine rotglühende Rauchwolke. Unermüdlich waren die Feuerwehren im Einsatz. Ganze eingestürzte Häuserreihen bedeckten rauchend die unpassierbaren Straßen. Wer war umgekommen? Wer war verbrannt? Was war verbrannt? Es war nicht abzuschätzen. Niemand konnte eine Antwort geben. Erst nach Tagen hatte man Gewissheit. 39 Rothenburger, darunter 18 Frauen, 12 Männer und neun Kinder, waren ums Leben gekommen. Über 700 Bürger hatten kein Dach mehr über dem Kopf, da 306 Wohnhäuser total zerstört worden waren.
Beißender Gestank lag auf dem Leid
Der Ostersonntag breitete sich mit einer beängstigenden Ruhe und Gelassenheit über die Stadt. Ostern, das Fest der Auferstehung! Vereinzelt hörte man noch hallende Wortfetzen und das Knistern des Feuers. Rauch und beißender Gestank lag wie ein Teppich über Allem und umschloss das Leid. Wir halfen uns gegenseitig, wo wir nur konnten.
Nach vielen langen und durchwachten Nächten zitterten die Menschen nur einem einzigen Tag entgegen: Es war der 17. April 1945, der Tag, an dem für Rothenburg der Krieg zu Ende ging. – Endlich war der fürchterliche Krieg vorbei.
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