Von Wolf Stegemann
Anlässlich des beginnenden Bundestagswahlkampfs im Mai 2005 erfand der damalige Bundesinnenminister Otto Schily den neuen Spottnamen „Kartoffelkäferkoalition“:
„Schwarz-gelb ist eine Warnfarbe. […] Der Kartoffelkäfer ist schwarz-gelb. Wenn man vor Gefahren warnt, dient oft schwarz-gelb als Signal.“ Eine CDU/FDP-Koalition habe also die richtigen Farben, die Menschen zu warnen, „dass eine solche Politik besser nicht im Bund vertreten wird.“
Es war nicht das erste Mal, dass der Kartoffelkäfer in das politische Blickfeld trat. Immer wieder hing diesem Käfer, allerdings weniger wegen seiner Farbe als wegen seiner Gefräßigkeit, in den beiden Weltkriegen und deren Folgezeiten der Geruch an, als Sabotagewerkzeug missbraucht zu werden. Generationen von Schülern und Schülerinnen, die heute im letzten Viertel ihres Lebens stehen, ist der Kartoffelkäfer daher ein Begriff. Schüler erinnern sich daran, dass sie sich auf den Äckern in Reih und Glied aufstellen mussten, um den Kartoffelkäfer systematisch aufsammeln zu können, der sich an den Kartoffelpflanzen festfraß.
Propaganda in den Volksschulen
Im Zweiten Weltkrieg, als die Versorgungslage in der Bevölkerung besonders angespannt war, trat dieser scheinbar harmlose, 7 bis 15 Millimeter lange Kartoffelkäfer auch ins Blickfeld der Propaganda. Denn er konnte ein durchaus effektives Kampfmittel sein, belegt am anschaulichen Beispiel in der Kartoffelkäfer-Fibel, die die Nazis 1941 an Volksschulen verteilen ließen:
„Denkt euch nur, ein Käferpaar
hat in einem einz’gen Jahr
Nachgeborne viel Millionen.
Wenn sie nur ein Feld bewohnen,
müßte dieses Feld allein,
will die Käferbrut gedeih’n,
zwei ein halbes Hektar messen.
Alles würde aufgefressen,
und uns fehlen – ja wir grollen –
fünfundvierzig Tonnen Knollen.“
Die Staatssekretärin im Bundesverteidigungsministerium, Agnes Hürland-Büning, erinnerte sich im Gespräch mit dem Verfasser an den Kartoffelkäfer der Vorkriegszeit, als sie die Volksschule in Holsterhausen besuchte:
„Es muss 1938 gewesen sein, als in Deutschland plötzlich Kartoffelkäfer auftraten. Die Käfer fraßen die Blätter der Kartoffelpflanze, was die Ernte zunichte machte. Daher wurden wir für das Volkswohl zu den Kartoffeläckern geschickt und mussten dort die Kartoffelpflanzen nach diesen Schädlingen absuchen. Unsere Klasse war immer in Üfte eingeteilt. Zu Fuß ging es von der Bonifatiusschule an der Königsstraße entlang, heute Martin-Luther-Straße, über das Dorf Holsterhausen nach Schermbeck-Üfte. Auf dem Acker mussten wir uns dann in eine Kartoffelreihe stellen und sie systematisch nach den Käfern absuchen. Für uns Kinder waren die Felder furchtbar groß. Mittags war der Rückweg zur Schule sehr anstrengend, denn das ständige gebückte Laufen durch die Kartoffelreihen war schon sehr strapaziös.“
Merkblatt für die Führer der Kartoffelkäfer-Sammelkolonnen
Schüler zogen klassenweise auf die Felder und Äcker, aber auch die Hitlerjugend, Sportvereine, Feuerwehren, SA und Wehrsportvereine. Um den Einsatz möglichst effektiv durchführen zu können, wurde von der NSDAP-Gauleitung eine „Merkblatt für Kolonnenführer“ herausgegeben, in dem auch schwere Gefängnisstrafen angedroht sind, wenn nicht ordentlich gesammelt wird:
1) Der Kolonnenführer muss einen Suchbezirk genau kennen und ihn zu dem Zweck vor Beginn des Absuchens mit dem Eigentümer der abzusuchenden Fläche abschreiten.
2) Die Kolonne, Zahl der Sucher richtet sich nach der Größe der Suchfläche. Man rechnet die Zahl der Sucher gleich der abzusuchenden Morgen. Zum Absuchen sind alle Familien- und Betriebsmitglieder derjenigen Bauern verpflichtet, deren Grundstücke abgesucht werden. Nur körperlich behinderte Personen und solche Personen, die aus zwingenden Gründen (Essen kochen, Kinder verwahren usw.) zu Hause unentbehrlich sind, sind von der Suchpflicht befreit. Über die Befreiung entscheidet der Ortsbürgermeister. Die Notwendigkeit der Erledigung laufender landwirtschaftlicher Arbeiten ist grundsätzlich kein Befreiungsgrund, da die Suchaktion vorgehen muss. Der Kolonnenführer reicht in jedem Falle eine Liste seiner Sucher an den Ortsbürgermeister ein…
3) Der Kolonnenführer bestimmt Ort und Zeit, an dem sich die Kolonne jedes Mal bei Beginn der Suchaktion trifft. Der Kolonnenführer belehrt seine Sucher darüber, dass jeder, der nicht gehorcht, Geld- und Gefängnisstrafen zu gewärtigen hat, und vor allem auch darüber, dass derjenige, der sich absichtlich im Suchen vernachlässigt und infolgedessen einen Käferschwarm nicht zur Meldung bringt, die schwersten Freiheitsstrafen zu befürchten hat…
4) Jeder Kolonnenführer muß mit einer Flasche voll Spiritus, Benzin oder Petroleum und einem Stecken ausgerüstet sein. Die Kolonne versammelt sich zu dem allgemein festgesetzten Zeitpunkt an der allgemein vom Kolonnenführer bestimmten Stelle. Beim Auffinden von Käfern werden dieselben sorgfältig abgesammelt und in die Flasche gesteckt. Die Stelle, an der Käfer gefunden werden, wird durch den Kolonnenführer mittels des Steckens kenntlich gemacht…
Kartoffelkäfer als biologische Waffe eingesetzt?
In dieser Zeit machte in Deutschland das Gerücht die Runde, dass amerikanische und englische Flugzeuge Kartoffelkäfer über Deutschland abwürfen. Belege für diese Unternehmen gibt es bis heute nicht. Allerdings scheint im Zweiten Weltkrieg der Vorwurf einer geplanten biologischen Kampfführung eher gegen die Deutschen berechtigt gewesen zu sein, denn die Wehrmacht züchtete seit 1943 Kartoffelkäfer und warf versuchsweise 14.000 über der Pfalz ab. Zum tatsächlichen Einsatz gegen England kam diese biologische Kampfwaffe aber nicht. Stattdessen hatten die Behörden genug zu tun, deutsche Felder vom Kartoffelkäfer zu freizumachen.
Auf dem Feld bei Schweinsdorf in Reih’ und Glied Käfer gesammelt.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs vermehrten sich die Kartoffelkäfer sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR. An die Rothenburger Kartoffelkäfersuche erinnert sich der Verfasser:
„In der Topplerschule war Anfang der 1950er-Jahre von Zeit zu Zeit Käfersammeln angesagt. Jeder Schüler bekam ein Glas mit Deckel in die Hand gedrückt, wenn er kein eigenes von Zuhause mitbrachte. Dann marschierten wir geschlossen Richtung Schweinsdorf oder woanders hin. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen und jede Pflanze untersuchen und die Käfer in das Glas geben. Für jedes gefüllte Glas bekamen wir einen Pfennigbetrag als Belohnung! Wie hoch dieser war, weiß ich nicht mehr! Zuhause wurde ich von meiner Mutter immer ausgeschimpft, weil ich viele dieser schwarz-gelben Käfer in meine Hosentasche steckte. Die zerquetschten Käfer verursachten Flecken, die beim Waschen schlecht herausgingen!“
Das Käfersammeln wurde nach 1945 beibehalten – im Westen wie in der DDR.
In der DDR war um 1950 fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Anbaufläche befallen. Das Bild aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges wiederholte sich. Reihen von Schülern und Arbeitslosen suchten kolonnenweise die Felder nach den Käfern ab, im Westen wie im Osten Deutschlands.
Die DDR-Führung war nicht in der Lage, der Katastrophe Herr zu werden, nutzte die Plage aber zu propagandistischen Zwecken im Kalten Krieg, indem sie behauptete, dass eigens in den USA gezüchtete Käfer durch amerikanische Flugzeuge gezielt als biologische Waffe zur Sabotage der sozialistischen Landwirtschaft abgeworfen wurden. Ab 1950 startete auf Plakaten und in zahlreichen Medienberichten eine Kampagne gegen die „Amikäfer“ oder auch „Colorado-Käfer“ genannt, die als „Saboteure in amerikanischen Diensten“ galten. Das gleiche Argument hatte zuvor im Zweiten Weltkrieg schon das NS-Regime gebraucht und behauptet, die Kartoffelkäfer seien von amerikanischen Flugzeugen abgeworfen worden.
Propagandistische Gegenmaßnahmen im „kalten“ Krieg
Die US-Regierung forderte infolgedessen von der Bundesrepublik Deutschland Gegenmaßnahmen. Man beschloss den Postversand an sämtliche Räte der Gemeinden der DDR und den Ballonabwurf von Kartoffelkäferattrappen aus Pappe mit einem aufgedruckten „F“ für „Freiheit“. Auch der Kreml bediente sich des Kartoffelkäfers. Dazu schrieb „Die Zeit“ am 13. Juni 1950 u. a.:
„Der Kreml hat ein neues Requisit auf die Bühne des Kalten Krieges geschoben: den Kartoffelkäfer. Der Schädling des Kartoffelanbaues, der nach dem ersten Weltkrieg von Amerikanern in Europa eingeschleppt wurde – das steht in den Nachschlagwerken – ist zum Schädling der Fünfjahrespläne avanciert, der nach dem zweiten Weltkrieg von amerikanischen Flugzeugen über dem kommunistischen Europa abgeworfen wurde – das steht in allen kommunistischen Zeitungen. Moskau hat wieder einmal zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Es kann seine Untergebenen beruhigt hungern lassen, schuld ist ja nicht die bolschewistische Wirtschaft, schuld sind ‘die sechsbeinigen Botschafter von Wallstreet’ (…). Schon wird gemeldet, daß alle sowjetischen Infanterie-Divisionen der Besatzungsarmee mit Flakeinheiten ausgerüstet werden. Auf den Streichholzschachteln der Tschechoslowakei prangt als Symbol der imperialistischen Kapitalisten ein fetter Kartoffelkäfer, und unter der Parole ‘Abwehraktion gegen die amerikanischen Kartoffelflieger’ wird von der Segelflug-FDJ in der Sowjetunion die ‘Vorbereitung auf die kommenden großen Aufgaben des Motorfluges’ propagiert. Das sind, bei aller Groteske, gefährliche Töne.“
Flüchtlinge als Kartoffelkäfer verunglimpft
Eine völlig andere Bedeutung erhielt das Wort „Kartoffelkäfer“ in dem 2008 gedrehten ZDF-Fernsehfilm „Die Kartoffelkäfer kommen“. Der Film erzählt die Geschichte einer Mutter, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren beiden Kindern aus Schlesien in ein kleines hessisches Dorf flieht und dort (zunächst) als „Kartoffelkäfer“, wie die Flüchtlinge oft genannt wurden, nicht gerade willkommen ist. Zusammenfassend darf man wohl feststellen, dass es keinen Käfer gibt, der eine so vielseitige gesellschaftlich-politisch-ideologische Vergangenheit aufzuweisen hat wie der Kartoffelkäfer.
_______________________________________________________________
Der Kartoffelkäfer heute
Er ist weltweit verbreitet. Seine amerikanische Heimat lag im US-Bundesstaat Colorado. Im Amerikanischen wird der Kartoffelkäfer daher auch „Colorado beetle“ genannt. Seine ursprüngliche Nahrungspflanze war der Stachel-Nachtschatten, die – wie die Kartoffel – zur Familie der Nachtschattengewächse gehört. Der Übergang auf die Kartoffel vollzog sich im Verlauf des Vordringens weißer Siedler in den USA, die dort ihre Kartoffelpflanzungen anlegten. In Europa wurde der Kartoffelkäfer erstmals 1877 in den Hafenanlagen von Liverpool und Rotterdam gesichtet. In Deutschland sind die ersten Funde für Mülheim am Rhein und Torgau ebenfalls für 1877 belegt. Bereits zu dieser Zeit wurde von erheblichen Anstrengungen berichtet, die Plage einzudämmen. 1887 und 1914 traten neue größere Befallsherde in Europa auf. 1922 vernichtete der Käfer 250 Quadratkilometer Kartoffelbestände um Bordeuax. 1935 tauchte er in Lothringen und Belgien auf. 1936 wurde er erstmals in Luxemburg festgestellt; im selben Jahr schaffte er es über den Rhein und breitete sich mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 30 km pro Jahr nach Osten aus. 1945 gelangte er an die Elbe, 1950 an die Oder. 1960 hatte er schließlich Polen durchquert und die damalige UdSSR erreicht.
Innerhalb kurzer Zeit ganze Felder kahl gefressen
Kartoffelkäfer können innerhalb kurzer Zeit ganze Felder kahl fressen. Es werden aber auch andere Nachtschattengewächse, insbesondere auch weitere Nutzpflanzen wie Aubergine, Pfeffer, Tabak und Tomaten befallen.
Keine natürlichen Fressfeinde
In Europa hatte der Kartoffelkäfer keine natürlichen Fressfeinde. Man versucht daher, der Käferplage durch Chemikalien und eine gezielte Infektion der Käfer mit bestimmten Bakterienstämmen Herr zu werden. Die Bekämpfung wird allerdings immer schwieriger, da der Käfer zunehmend Resistenzen gegen bekannte Mittel aufbaut. Es wurden bereits mehrere gentechnisch veränderte Kartoffelsorten getestet, die resistent gegen den Kartoffelkäfer sind. Ihnen wird insbesondere in Osteuropa und Russland Potenzial vorhergesagt.
________________________________________________________________