Von Gerhard Mummelter, Rom
Das vergilbte Ausweisbild zeigt ein ernstes Gesicht mit gepflegtem Schnurrbart, Hornbrille und dunkler Fliege. Der Mann, der am 17. Juni 1950 im Hafen von Genua den Dampfer nach Buenos Aires bestieg, wies sich als Riccardo Klement aus, wohnhaft im Südtiroler Weindorf Tramin. An einer Überprüfung seiner Identität zeigte sich niemand interessiert. Warum auch? Zehntausende waren es, die nach dem Krieg nach Übersee auswanderten – auf der Suche nach einer neuen Existenz. Millionen strömten nach 1945 durch Mitteleuropa: Zwangsarbeiter, Flüchtlinge, Vertriebene, Staatenlose, Gestrandete, Täter und Opfer, Nationalsozialisten und Juden.
Adolf Eichmann und Josef Mengele
In Italien, wo die Alliierten die Militärregierung bereits aufgelöst hatten, war die Zahl der Flüchtlinge besonders groß. Ein Jahr vor Klement hatte sich in Genua ein anderer vermeintlicher Südtiroler nach Argentinien eingeschifft: Helmut Gregor, geboren 1911, Mechaniker. Beide kannten einander nicht, hatten jedoch einiges gemeinsam. Beide waren berüchtigte NS-Kriegsverbrecher, beide waren über den Brenner nach Südtirol geflüchtet und hatten sich dort mithilfe alter SS-Kameraden eine neue Identität zugelegt. Ihre wirklichen Namen wurden erst Jahre später bekannt: Adolf Eichmann und Josef Mengele. Die Liste der NS-Größen, die sich nach dem Krieg relativ ungestört in Südtirol aufhalten konnten, umfasst die SS-Schergen Erich Priebke, Ulrich Greifelt, Lothar Debes und Josef Schwammberger, den österreichischen Kommandanten des KZ-Treblinka, Franz Stangl, den Linzer Gestapo-Chef Gerhard Bast und den Innsbrucker SS-Sturmbannführer Alois Schintlholzer.
Die von den Alliierten geräumte Alpenregion war neben der neutralen Schweiz das einzige deutschsprachige Gebiet, das von keiner Besatzungsmacht kontrolliert wurde. Hierher zogen sich 1945 die Familien von NS-Größen wie Heinrich Himmler, Hermann Göring und Martin Bormann zurück. Nicht selten kreuzten sich in den Bergen die Fluchtwege von Opfern und Tätern. So waren in einer Meraner Pension KZ-Überlebende und SS-Offiziere gleichzeitig einquartiert.
Das Buch bringt Licht in das Dunkel der vielen Gerüchte
2008 brachte erstmals ein österreichischer Historiker Licht ins Dunkel der Fluchtwege. In seinem Buch „Nazis auf der Flucht“ beleuchtet Dr. Gerald Steinacher Südtirols Rolle als Drehscheibe des Flüchtlingsstroms. Kriegsverbrecher konnten dort nicht nur auf ein hilfreiches Netzwerk alter SS-Kameraden und Nazi-Sympathisanten bauen, sondern auch auf aktive Unterstützung durch die katholische Kirche und das Rotes Kreuz mit Geld, falschen Pässen, guten offiziellen Verbindungen und heimlichen Kontakten. Für rund 400.000 Auswanderer aus dem zerbombten Kontinent stellte der Brenner das Tor zu einer neuen Zukunft dar.
Klöster waren beliebte, weil schützende Anlaufstellen für NS-Verbrecher
Adolf Eichmann etwa wurde auf der italienischen Seite der Grenze vom Pfarrer von Sterzing empfangen und anschließend im Bozener Franziskanerkloster versteckt. Auch der Deutsche Orden in Lana bei Meran und das Kapuzinerkloster in Brixen waren beliebte Anlaufstellen. Der heimliche Marsch über alte Schmugglerpfade erschloss den Einheimischen der Grenzregion neue Geldquellen. Neben Kaffee, Tabak, Devisen und Sacharin wurden jetzt auch Menschen über die Grenze geschmuggelt – Juden meist in Sechsergruppen für 4.000 Schilling. Nationalsozialisten von Rang mussten tiefer in die Tasche greifen und für den Fußweg über die grüne Grenze 1.000 Schilling berappen.
Es war der Tiroler Gastwirt Jakob Strickner, der den berüchtigten Lagerarzt von Auschwitz, Josef Mengele, am Ostersonntag 1949 von Vinaders über den nahen Brenner lotste, wo ihn ein Mittelsmann erwartete. In Sterzing quartierte sich Mengele unter falschem Namen im Gasthof Goldenes Kreuz ein. Denselben Zufluchtsort wählte ein anderer prominenter Kriegsverbrecher: Erich Priebke verbrachte dort mit seiner Familie mehrere Jahre und wurde vom Stadtpfarrer katholisch getauft – eine „Wiedertaufe“, mit der die Kirche reuige Sünder von der Nazi-Ketzerei befreite und wieder in die Gemeinschaft aufnahm. Sie begnügte sich freilich nicht damit, sondern leistete auch tatkräftige Hilfe bei der Beschaffung von Reisedokumenten.
Fluchthelfer Bischof Alois Hudal
Zu den aktivsten Fluchthelfern gehörte der österreichische Bischof und Hitler-Verehrer Alois Hudal, der als Rektor des deutschen Priesterkollegs in Rom den aus Südtirol kommenden Nazis gerne Unterschlupf gewährte. Hudal pflegte enge Beziehungen zum von Pius XII. gegründeten päpstlichen Flüchtlingshilfswerk. Den KZ-Kommandanten von Treblinka nahm Hudal besonders herzlich auf: „Der Bischof kam in das Zimmer, in dem ich wartete, streckte mir die Hände entgegen und sagte: Sie müssen Franz Stangl sein. Ich habe auf Sie gewartet.“ Das würde ich allenfalls als Frage stellen, sonst ist der Satz zu suggestiv.
Der Bischof beschaffte dem Massenmörder auch ein Ticket nach Syrien
Hudal verschaffte seinem Landsmann Stangl Unterkunft, Geld und Beschäftigung. Nach wenigen Wochen verfügte der für den Tod von rund einer Million Menschen mitverantwortliche Oberösterreicher über einen Rot-Kreuz-Pass, ein Schiffsticket, ein Visum und eine Stelle in einer Weberei in Syrien. Ausführlich untersucht der Historiker Steinacher die Mitschuld des Internationalen Roten Kreuzes, dessen Archiv in Genf der Historiker erstmals einsehen durfte. Bis 1951 stellte die total überforderte Hilfsorganisation, der jede Erfahrung als Passbehörde fehlte, in Rom und Genua mindestens 120.000 Ausweise aus. Mit Wissen des IKRK-Präsidenten Paul Ruegger entkamen so auch tausende Kriegsverbrecher nach Übersee.
Sie gaben sich meist als „staatenlose“ Volksdeutsche aus oder legten Personalausweise aus Südtiroler Gemeinden vor, die ihnen alte Kameraden beschafft hatten. So wurde aus dem SS-Mann Eugen Dollmann, Hitlers Kontaktperson bei Mussolini, nun „Eugen Amonn“, geboren in Bozen. Der Kampfflieger Hans-Ulrich Rudel durfte sich über seine neue Identität als Emil Meier freuen: „Schon am nächsten Morgen bringt man mir ein Papier auf den wohlklingenden Namen Emilio Meier! Jetzt heiße ich eben Emil Meier und fahre mit diesem Namen nach Argentinien.” Rudel war in „bester“ Gesellschaft: Rund 500 höhere NS-Funktionäre und 50 Massenmörder wählten Argentinien als Reiseziel. Steinacher zeichnet in seinem spannenden Buch nicht nur deren Fluchtwege nach. Er demonstriert auch, wie verblüffend einfach in den Nachkriegswirren die Reinwaschung von Kriegsverbrechern funktionierte. Auch der Massenmörder und Entwickler der fahrbaren Vergasungsbusse Walter Rauff konnte nach Chile entkommen. Dort starb er 1984. Alte Kameraden verabschiedeten ihn am Grab mit dem Hitlergruß
- Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht.Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. 380 Seiten, Studien Verlag, Innsbruck, Wien, Bozen 2008.
Klosterroute, Rattenlinie und Bischof Alois Hudal
W. St. – Rattenlinien (englisch „rat lines“) war die von US-amerikanischen Geheimdienst- und Militärkreisen geprägte Bezeichnung für Fluchtrouten führender Vertreter des NS-Regimes und Angehöriger der SS und der Ustascha nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aufgrund einer aktiven Beteiligung hochrangiger Vertreter der katholischen Kirche an den Fluchtrouten trugen sie bis zur Beteiligung des US-amerikanischen Geheimdienstes den Namen „Klosterrouten“. Die Fluchtrouten führten über Italien (meist Südtirol und Rom) nach Südamerika und dort hauptsächlich nach Argentinien, aber auch in Länder Arabiens. Über diese Routen gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg einer großen Zahl von NS-Tätern, Faschisten und Kollaborateuren aus verschiedenen europäischen Ländern, einer gerichtlichen Anklage und Bestrafung zu entgehen.
Verdienste um den Nationalsozialismus sowie deren Flucht nach Kriegsende errang Bischof Alois Hudal. Er betrieb im Vatikan eine Einrichtung für Auswanderungshilfe, die später als die berüchtigte „Rattenlinie“ bekannt wurde. Mit Unterstützung der Caritas und unter Ausnutzung des Umstandes, dass das Internationale Rote Kreuz auf recht leichtfertig und leichtsinnige Weise unüberprüfbare provisorische Dokumente ausstellte, die vor allem von Ländern in Südamerika als Einreisedokumente anerkannt wurden. Hudal und seine Komplizen fabrizierten Empfehlungsschreiben und falsche Identitätsbestätigungen mit deren Hilfe viele Tausend NS-Kriegsverbrecher sich der Verfolgung durch die Justiz entziehen konnten. Darunter Personen wie Eichmann, Mengele, Barbie, Stangl oder der kroatische Klerikalfaschistenführer Pavelik. Erst 1952 wurde der Druck auf den Vatikan so groß, dass man sich genötigt sah, Bischof Hudal von seiner Funktion als Rektor der Anima zu entfernen. Dazu wurde eine Inszenierung aufgeführt: die österreichischen Bischöfe mussten ihn zum Rücktritt auffordern, Hudal starb unbehelligt von der Justiz 1963 in Rom.
Hudal war ein „Komplize nach der Tat“, für seine Beihilfe zur Flucht der Kriegsverbrecher wurde er nie zur Verantwortung gezogen, der Vatikan hat sich dazu auch bis heute nicht selbstkritisch geäußert.
Hitler schenkte Hudal das goldene Parteiabzeichen für das Buch
Hudal wurde 1885 in Graz geboren. Er wirkte lange Jahre am deutschsprachigen römischen Priesterkolleg Santa Maria dell’ Anima, seit 1923 war er dort Rektor und erhielt schließlich deswegen auch den Bischofstitel. Er stand auf der damaligen Hauptlinie der katholischen Kirche, er lehnte wie diese Liberalismus, Säkularismus, Sozialismus, Kommunismus vehement ab. Das tat der ganze Vatikan. Doch setzte der Vatikan in der Weiterführung des im 19. Jahrhundert entstandenen katholischen Antimodernismus auf die Errichtung klerikalfaschistischer Diktaturen bzw. auf den italienischen Faschismus Mussolinis. Hudal sympathisierte hingegen mit Hitler und dem Nationalsozialismus. Er stellte u. a. sogar Überlegungen an, mit einer christlich-europäischen Armee die Sowjetunion anzugreifen, um den gottlosen Bolschewismus zu besiegen.
1936 veröffentlichte er mit kirchlicher Genehmigung das Buch „Die Grundlagen des Nationalsozialismus. Eine ideengeschichtliche Untersuchung“. Dafür holte er sich – wie vorgeschrieben – vom Vatikan die Druckgenehmigung ein (Imprimatur = „es darf gedruckt werden“ oder Nihil obstat, lat. „Es steht nichts entgegen“). Allerdings durfte diese Genehmigung nicht wie sonst üblich, im Buch veröffentlicht werden. Hudal schickte Hitler ein Exemplar und erhielt dafür die zweithöchste Auszeichnung der NSDAP, das „Goldene Parteiabzeichen“.