Nationalsozialistische Zeit ausgeblendet: Rothenburg, eine Stadt der Kontinuität – im Wideraufbau wie im Umgang mit den früheren NS-Funktionären

W. St. – Die wieder aufgebaute Gerlach-Schmiede, ein beliebtes Postkartenmotiv, gewann schnell einen Hauch von Historizität, obgleich das Gebäude vor der Zerstörung 1945 ganz anders aussah. Das 1954 erschienene Merian-Reisemagazin „Die Romantische Straße“ hat die Schmiede auf der Titelseite und bekräftigt im Innenteil Rothenburg als „intakte und unberührte mittelalterliche Stadt“. Der Text attestierte der alten Schmiede historische Authentizität: Das Motiv mit dem Röderturm im Hintergrund und der „alten“ Schmiede im Vordergrund sei typisch für den Gesamteindruck und die Geschichte der Stadt. In Rothenburg seien wir in einer Stadt, die sich seit dem Dreißigjährigen Krieg in keiner Weise irgendwie verändert habe. In den 1970er-Jahren habe der Verein Alt-Rothenburg die Schmiede als ein „herrliches Motiv“ und Teil des alten Rothenburg gepriesen. In Touristenführern steht denn auch als Bildunterschrift „Alte Schmiede“ unter den Bildern. Eine Publikation lobt die Schmiede als „Juwel des Mittelalters“ und stellt sie in eine Zeitleiste der lokalen Geschichte bis 1802, wobei die Zerstörung von 1945 keine Erwähnung findet („Rothenburg einst und jetzt“, Kootz und Sauer, Rothenburg ob der Tauber).

Merian-Heft, in dem die Gerlach-Schmiede als historisch "alt" bezeichnet wird, obwohl erst drei Jahre alt.

Merian-Heft von 1950, in dem die Gerlach-Schmiede als historisch “alt” bezeichnet wird, obwohl erst drei Jahre alt.

Die NS-Zeit wurde ausgeblendet, als hätte es nur die Bombardierung gegeben

Etliche ehemals führende Rothenburger Nationalsozialisten überlebten auch gesellschaftlich den Niedergang des NS-Regimes, weil man nach 1945 in kumpelhaftem Schweigen kollektiv verdrängte, was zwischen 1933 und 1945 geschah und wer an den Verbrechen aktiv beteiligt war. Man tat so, als sei nichts gewesen. Wie die Nachkriegs-Rothenburger das wiederhergestellte Stadtbild an das Mittelalter anknüpften, als ob es die Zerstörung 1945 nicht gegeben hätte, so knüpften manche Rothenburger an das 19. Jahrhundert an, als ob es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte. Diese Abstinenz hielt jahrzehntelang an. Noch 2004, als das Reichsstadtgymnasium zum 450-jährigen Bestehen eine Festschrift mit seitenlangem Text über die Geschichte der Schule herausbrachte, kommen die nationalsozialistischen Jahre mit ihren umwälzenden Schulreformen der Nazis gerade mal in zwei Sätzen vor (Autor: Ex-Stadtarchivar Dr. Schnurrer).

Über Antisemitismus wurde geschwiegen

Viele Nazis nahmen in der Nachkriegszeit offensichtlich im Einvernehmen mit der Bürgerschaft, der Presse und den politischen Parteien wieder öffentliche Ämter wahr. Ein starkes Maß an Kontinuität ist bei den lokalen Denkmalschützern, Architekten und Stadtbeamten offensichtlich. Rothenburgs führender Architekt beim Wiederaufbau war Leonhard Kerndter, der vor 1945 intensiv für Einrichtungen der Hitler-Jugend, einschließlich deren Lager in Rothenburg arbeitete. Kerndter gehörte auch dem Vorstand des Vereins Alt-Rothenburg, dem „Rothenburger Künstlerbund“ und der Stadtverwaltung vor 1945 und danach an. Auch Ernst Unbehauen, von dem in dieser Online-Dokumentation mehrmals die Rede ist, hatte entscheidenden Anteil an der Gestaltung einer bildnerischen Nazi-Ästhetik in der Stadt. Er hatte auch in der NS-Zeit die antisemitischen Tafeln gefertigt, die Rothenburgs Tore „schmückten“. Nachdem er in den 1950er-Jahren öffentlich kaum bemerkbar aktiv war, wurde Ernst Unbehauen führender Denkmalpfleger der Stadt in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren und war weiterhin exponiertes Mitglied im Verein Alt-Rothenburg von 1966 bis 1979. Über seine antisemitische Vergangenheit wurde in dieser Zeit geschwiegen.

Ehemaliger NS-Bürgermeister wieder in der Öffentlichkeit

Die Rückkehr des nationalsozialistischen Oberbürgermeisters Dr. Friedrich Schmidt in die Öffentlichkeit ist das auffälligste Beispiel für Kontinuität in Rothenburg. Schmidt, der noch von der Front NS-Jubeltöne nach Rothenburg schickte, trat 1948 als Rechtsanwalt auf. 1952 war er wieder exponiert im Verein Alt-Rothenburg tätig, deren Vorsitzender er in der gleichgeschalteten Nazi-Zeit gewesen war. Er blieb im Verein Alt-Rothenburg aktiv bis 1962. Im Jahr 1952 wählten die Rothenburger ihren ehemaligen Nazi-Bürgermeister in den Stadtrat. Er erhielt,  so recherchierte es Joshua Hagen, „mehr Stimmen als jeder andere Kandidat“. Friedrich Schmidt und auch der oben erwähnte Kerndter vertraten in den 1960er-Jahren die rechtsextreme Partei „Deutsche Gemeinschaft“, die in den folgenden Jahren in Rothenburg eine starke Wählerschaft hatte und damit bundesweit Schlagzeilen machte. Jahrelang war diese Partei im Stadtrat vertreten. Dies war so auffallend, dass die „Süddeutsche Zeitung“ Rothenburg als rechte Partei-Hochburg bezeichnete. Als der frühere Nazi-Bürgermeister und späterer Rechtsaußen Dr. Friedrich Schmidt 1965 starb, würdigte die lokale Presse seine Leistungen und betrauerte das Ableben dieses exzellenten Einwohners.

Straße 1955 nach hochrangigem Nazi benannt

Auch Dr. Martin Schütz, Autor antisemitischen Publikationen, bekam in der Nachkriegszeit ähnliche Auszeichnungen. Joshua Hagen zitiert (ohne Quellenangabe) ein Nachkriegs-Lob: Der „unter Berufung auf seine Forschungen über die lokale Geschichte, gepriesene“ ehemalige Rothenburger Studienrat und Archivar, war „ein wahrer Freund, eine Person, die Alt Rothenburg diente, den nur wenige haben“.

Ludwig Siebert, Rothenburgs langjähriger Gönner und als bayerischer Ministerpräsident Top-Nazi in Bayern, ist in Rothenburg bis heute nicht vergessen. Der Stadtrat hatte im Andenken an seine Zeit als rechtskundiger Bürgermeister von Rothenburg (1908-1919) bereits 1920 eine Straße nach ihm benannt, 1945 wurde ihm diese Ehre entzogen, da er hochrangiger Nationalsozialist war. Doch 1955 benannte die Stadt die Straße wieder nach ihm, im Wissen, dass er ein menschenverachtender Nazi gewesen war (FA vom 30. Juli 1955, 18. Juni 1958, 27. Januar 1965).

Doch es waren nicht nur Prominente, die nach dem Krieg Verbindungen mit der NS-Zeit darstellten. Ein großer Teil der Nazi-Rhetorik, die in nationalsozialistischer Zeit üblich war, überdauerte 1945 und die folgenden Jahre. Da sprach der städtische Amtmann Hans Wirsching nach dem Krieg vom „Ruhmesblatt“, als er die Landfrauen lobte, die in der Not ihren Mann gestanden hätten. Stadtbeamte appellierten an die Bürger vor den Wochenenden den Touristen eine „saubere Stadt“ anzubieten. Im Jahr 1951 bildete der Verein Alt-Rothenburg eine Kommission, die schlechte Werbung in den Straßen der Stadt feststellte und dies der Stadtverwaltung anzeigte. Die Stadt unternahm – allerdings ohne rechtliche Befugnis – eigene Kampagnen zu Sauberhaltung der Stadt im Jahre 1955. Beide Aktionen brachten nichts, wie der „Fränkische Anzeiger“ berichtete, ebenso das Protokollbuch des Vereins Alt-Rothenburg gibt darüber Auskunft. Joshua Hagen meint in seinem Buch, dass das Thema „Reinheit“ und „Entfernen“ auf ein signifikantes Erbe aus der Zeit vor dem Krieg hindeute.

Tourismus-Werbung über die Perioden hinweg

Joshua Hagen sieht auch in der Vermarktung Rothenburgs starke Kontinuitäten. Die erste Tourismus-Broschüre nach 1945, die in großer Zahl erschienen war, enthalte Hinweise auf touristische Literatur und Texte aus der NS-Zeit. Das Jahr 1945 war also keine Zäsur in den Praktiken des Tourismus und der Denkmalpflege in Rothenburg. Dass das Thema Werbung und Tourismus das Nazi-Regime überlebte, ist nicht verwunderlich, denn das Dröhnen der Werbetrommel für die Stadt begann schon lange vor der NS-Zeit. Das ist Kontinuität.

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Quelle: Inhaltlich liegt diesem Artikel im Wesentlichen der Text von Joshua Hagen „Reclaim in tue Past“ aus seinem Buch „Preservation, Tourism und Nationalism: The Jewel of the German Past“, Aldershot 2006, Seiten 252-254 zugrunde.
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