Von Wolf Stegemann
Für Theodor W. Adorno galt schon 1959, dass die damals „viel zitierte“ Aufarbeitung der NS-Vergangenheit misslungen sei. Die Vergangenheit selbst, die es aufzuarbeiten galt, so Adorno, war bereits der organisierten Vergesslichkeit und dem übereingekommenen Schweigen anheim gefallen. Heute sind die in die Tiefe gehenden Erinnerungen an die Verbrechen des deutsches Staates zwischen 1933 und 1945 und seiner Staatsdiener, seiner Verbrecher mit Staats- und Regierungstiteln, seiner in der Partei und den vielen NS-Verbänden organisierten Aktiven und Mitläufern derart verblasst, dass das Unwissen darüber beispielsweise in Schulen, Universitäten, pädagogischen Hochschulen, Polizei-Akademien erschreckend abgenommen hat, wie unlängst Prof. Benjamin Ortmeyer bei einer groß angelegten Untersuchung der Universität Frankfurt feststellte (siehe „Heute wenige Kenntnisse über Nationalsozialismus in Schulen“). Auch in Rothenburg wurde die NS-Zeit verdrängt und darüber auch heute noch geschwiegen. Die Herausgeber dieser Online-Dokumentation haben vielfach erfahren, wie mühsam es ist, an die verschwiegenen Daten und Fakten von damals heranzukommen.
In 700 Jahren Stadtgeschichte kein Platz für den Nationalsozialismus
Dass und wie über die Rothenburger NS-Vergangenheit geschwiegen wurde, lässt sich bei der Lektüre der in den Nachkriegsjahrzehnten erschienenen Publikationen feststellen. Zwei Beispiele aus unterschiedlichen Jahrzehnten: Kommt in der zum 450. Jubiläum des Reichsstadt-Gymnasiums 2004 erschienene Festschrift das Dritte Reich in nur zwei banalen Sätzen vor, so findet der Leser in der 30 Jahre zuvor erschienenen offiziellen Festschrift der Stadt Rothenburg zum 700-jährigen Stadtjubiläum 1274-1974 der sich gerade in Rothenburg so stark gebärdete Nationalsozialismus überhaupt nicht vor. Das Schweigen ist beharrlich, sieht man davon ab, dass sich hinter Schweigen Wissen verbirgt, wie beispielsweise im Verein Alt-Rothenburg. Dieser fordert immer wieder, dass die NS-Zeit endlich aufgearbeitet werden müsse. Der Verdacht drängt sich auf, dass dadurch den Kritikern der Wind aus den Segeln genommen werden soll. Dazu muss auch gesagt werden, dass sich der Verein Alt-Rothenburg bemüht, Randthemen zur nationalsozialistischen Zeit dann durch Vortragsveranstaltungen publik zu machen, wenn dies niemanden bloßstellt. Natürlich ist dies keine Aufarbeitung. Diese legt der junge Historiker Daniel Bauer aus Vilseck vor, wenn seine Dissertation über die nationalsozialistische Zeit in Rothenburg vermutlich 2014 als Buch veröffentlicht wird.
Die dunkle Seite des Stolzes
Vielleicht hat das Verdrängen und Verschweigen neben den üblichen Gründen wie die Volksweisheit „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“, die Angst vor Nestbeschmutzung, die Rücksicht auf Verwandtschaft u. v. m. auch den viel zitierten Stolz als Grund, sich nicht zu den nationalsozialistischen Verbrechen (hier nicht juristisch gemeint) von Rothenburgern in Rothenburg zu bekennen. Denn auffallend bei der Lektüre von Büchern über Rothenburg – auch der hier beschriebenen Jubiläumsschrift – ist das häufige Vorkommen des Wortes „Stolz“ als Substantiv oder Adjektiv, mit dem sich die Rothenburger selbst schmücken. Die Autoren verweisen mehrfach auf den Stolz der Stadt und darauf, wie stolz die Türme in den Himmel ragen, wie stolz sich die Mauern erheben und wie stolz die Bürgerschaft auf die Jahrhunderte ihrer Stadt zurückblickt, wie stolz sie sind, weil sie alles so gut meistern, den Wiederaufbau und den Fremdenverkehr und die Toleranz. Die Eigenschaft Stolz hat natürlich eine dunkle Seite. Sie führte in der Geschichte oft in den Abgrund. Denn ein Sprichwort sagt: „Torheit und Stolz wachsen auf einem Holz.“ Die allegorische Minerva des Seelbrunnens auf dem Kapellenplatz hält den Rothenburgern den Spiegel hin. Der Stolz /die Hochmut (lat. superbia) gehört zu den sieben Hauptsünden und ist als allegorische Figur am Baumeisterhaus zu sehen, das Original im Reichsstadtmuseum.
Stolz auf die Rothenburger, die Juden gedemütigt und vertrieben haben
Dieser Stolz der Bürger hinderte sie nicht, schon vor 1933 Juden und Andersdenkenden mit Intoleranz zu begegnen und ab 1933 Juden öffentlich zu demütigen, barfuß über den stolzen Marktplatz zu führen, sie zu schlagen und zu drangsalieren, ihnen ihre Menschenrechte und ihre Habe zu nehmen, wie es ihre stolzen Vorfahren zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert auch getan haben, als sie den Juden aus den stolzen Mauern vertrieben hatten oder ihnen in den Mauern das Leben nahmen. Über die Wiederholung der in Rothenburg besonders engagierten Vertreibung der Juden 1938 wurde bis 1945 voller Stolz berichtet, danach lange Zeit geschwiegen, so auch in der Jubiläumsschrift der Stadtgeschichte von 1974.
Auffallend laut wird aber die „Toleranz“ und „edle, aristokratische Gesinnung“ gepriesen, die Rothenburg seit Jahrhunderten prägen. Nachzulesen ist dies in vielen Büchern und Broschüren, Reiseführern und Prospekten, die von Rothenburgern über ihre Stadtgeschichte verfasst wurden. Immer wieder tauchen diese Begriffe auf, als ob man damit das Gegenteilige zu verbergen versucht.
In der 156-seitigen Jubiläumsschrift von 1974 kommt nur einmal der Begriff „Drittes Reich“ (S. 97) vor. Nicht in Bezug auf die chronologische Darstellung der Stadtgeschichte, sondern allgemein in einem Artikel über die Volksbank Rothenburg ob der Tauber: „Die scheinbaren Erfolge der Wirtschaftspolitik des Dritten Reiches festigten zunächst das Ansehen der Kreditwirtschaft …“ Dieser Darstellung über die Weltwirtschaftkrise von 1931 schließen sich in dem Artikel übergangslos die „steigenden Einlagen“ des Jahres 1960 an.
Leid und Not durch die Bombardierung 1945
Im dem von Dr. Ludwig Schnurrer vorgelegten Artikel „Freie Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber im Wandel der Jahrhunderte“ (S. 17-33) kommt die nationalsozialistische Zeit nicht vor, wohl aber die Information: „…das Ansehen Rothenburgs als Touristenstadt wächst jedenfalls bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs so stark an, dass auch dieser seine Breitenwirkung weit über die Grenzen Deutschlands nicht beeinträchtigen kann, und das Gleiche ist auch für den Zweiten Weltkrieg zu sagen…“ Es folgt eine längere Passage über das Leid und die Not, welche die Bombardierung am Ende des Zweiten Weltkriegs über die Stadt und die Bürger gebracht hatte. „Und dann beginnt ein erstaunlicher Wiederaufbau.“
Rothenburg kann seine aristokratische Note nicht verleugnen
Hans Ott berichtet in seinem Artikel „Handwerk und Wirtschaft über 7 Jahrhunderte hinweg betrachtet“ (S. 47-63) von den glanzvollen Zeiten unter Bürgermeister Heinrich Toppler (14./15. Jahrhundert) und vom Neid der Nachbarn:
„Und heute, 700 Jahre später, müssen wir die gleichen tragischen Erkenntnisse hinnehmen, dass Neid und Mißgunst unguter Nachbarn immer wieder aufbrechen – gewiss bedingt durch schamlosen Ehrgeiz und erbärmlichen Egoismus. Es ist eine Sache der Historiker, diese dauernden, schicksalsschweren Verwicklungen und Auseinandersetzungen kritisch zu beurteilen und nach ihren Ursachen zu fragen. Im Grunde genommen waren es immer gefährliche Zeiten und Situationen, die Stadt und Land durchzustehen hatten. Kaum, dass es zwei oder drei Generationen vergönnt war, in Frieden zu wirken und der Wohlfahrt zu dienen.“
Und er schreibt vom heroischen Lebensmut der Rothenburger, aber auch von denen unter ihnen, denen die „Resignation aus einer echten Sorge und vielleicht auch Lebensangst näher am Herzen liegt als das Vertrauen in eine positive Zukunft“. Und das 1974? Der Autor sagt aber nicht, was er mit seinen sphinx’schen Anmerkungen meinte. Nicht die Zeit des Nationalsozialismus, denn er setzt fort mit der „universalen christlichen Glaubensideologie“, in der die Kirchenlieder Paul Gerhardts und des Friedrich von Spee entstanden seien. Und dann rückt Hans Ott wieder ins 20. Jahrhundert, als er den schon 1925 in die NSDAP eingetretenen Pfarrer Martin Weigel lobt, der in der Nürnberger Lorenzkirche 1926 den Hakenkreuzfahnen öffentlich Gottes Segen gab: „Vielleicht hat unser liebenswerter Chronist Martin Weigel nicht so ganz unrecht, wenn er in seiner mit so viel Liebe zur Stadt und verzeihender Toleranz meint: Rothenburg könne alles und in allem eine aristokratische Note nicht verleugnen.“ Auch hier die Unverständlichkeit. Was hat Martin Weigel, den einzigen Pfarrer, den Streicher in seiner antisemitischen Hetzzeitung „Der Stürmer“ einmal lobte, zu verzeihen? Die Frage bleibt, wie erkennt man in Rothenburg angesichts des Verhaltens der Rothenburger im Dritten Reich eine aristokratische Note?
Und zur Förderung Rothenburgs durch den Staat Bayern lässt sich der Autor aus, als Churbayern Anfang des 19. Jahrhunderts Franken zugeschlagen wurde: „Selbst der Bayerische Staat – die Herren in München, die unsere fränkische Grenzstadt nie mit Wohltaten überschütteten – …“ Hier stolpert der Leser über das Wort „nie“. Denn der bayerische NS-Ministerpräsident Ludwig Siebert war es, der Rothenburg mit Wohltaten in Form von anhaltender finanzieller Förderung und Ideologie überschüttete, was die Rothenburger freudig annahmen und ihr Gymnasium nach Siebert nannten. Und mit diesem wollte man sich offensichtlich nicht befassen.
Besinnung auf ihre Stadt ist Erbanlage der Rothenburger
Rudolf Hundertschuh beklagt in seinem Aufsatz „Feiern und sich besinnen – Gedenken über Tourismus zum Reichsstadt-Jubiläum“ (S. 71-73), dass die Stadt heute (1974) kein „inhaltsreicheres“ Image hat, als das, das sie eben hat. Und er meint, dass dies an den in den Genen der Rothenburger erhaltene „Besinnung auf ihre Vergangenheit“ liege. Daher sein Rezept:
„Die Besinnung auf die Vergangenheit ist in dieser Stadt quasi Erbanlage. So fällt es hier nicht schwer, ein Jubiläum zu feiern. Man nehme das mittelalterliche Stadtbild, füge ein historisches Datum hinzu, gebe zu gleichen Teilen Phantasie und Organisationstalent bei und breite darüber den guten Geist einer traditionsbewussten Bürgerschaft aus, dann hat jedes Rothenburger Fest Aussicht auf Erfolg.“
Obwohl der Autor den Rothenburgern und vielleicht auch sich selbst eine angeborene Besinnung auf die Vergangenheit unterstellte, vergaß er beim Rezept die Zutat der zwölf Jahre Nationalsozialismus. Das wäre ehrlicher gewesen. Schließlich geht es im Blick auf die Geschichte der Stadt nicht um gezuckerte Plätzchen. Der Autor blickt weiter zurück und hofft, dass die gegenwärtige Stadt des Jahres 1974 nicht versage, wenn sie den früheren Geschlechtern nachstrebe, die einen „unschätzbaren Anteil an der reichen Geschichte“ der Stadt hätten.
„…auf die Stadt so stolzen Rothenburger“
Auch Dieter Balb bemüht in seinen Beiträgen die Besinnung auf die Vergangenheit und lässt ebenfall die jüngste aus. Auch bei ihm kommt das Wort „Nationalsozialismus“ nicht vor, obwohl es sich bei der Darstellung der Geschichten vom „Schäfertanz“, vom „Meistertrunk“ und von den „Hans-Sachs-Spielen“ angeboten hätte. Allerdings war Dieter Balb dann der Erste in Rothenburg, der zehn Jahre später im „Fränkischen Anzeiger“ verdienstvoll über die Zeit des Nationalsozialismus in Rothenburg in einer Serie berichtete. Er durchbrach die Mauer der Verdrängung und des Schweigens. Seinen Artikel „Zerstörung und Wiederaufbau der Stadt Rothenburg ob der Tauber“ von 1974 (S. 133-139) beendet Dieter Balb mit einem Zitat Ernst Unbehauens über das Wiedererstehen der Stadt aus Schutt und Asche:
„Dies ist ein Wunder! Wohl erfüllt uns die Erinnerung an den 31. März (1945), wohl einen der schwärzesten Tage Rothenburger Geschichte, mit Trauer und Wehmut, aber über allem bleibt doch die vorbildliche und tapfere Tat des Wiederaufbaus als das untrügliche Zeichen eines ungebrochenen Lebenswillens der auf ihre Stadt so stolzen Rothenburger.“
Auch für die Banken (S. 91-101), die an den Arisierungen von Grundstücken und Kontensperren der Rothenburger Juden banktechnisch beteiligt waren, kommt das Geschehen nicht vor, auch nicht bei der 600 Jahre alten Königlich-privaten Schützengilde (S.103-107). Der Leser braucht Fantasie, um zu verstehen, was mit den Sätzen gemeint ist, die Dr. Schnurrer am Schluss des Artikels schrieb:
„Abschließend ist ein Blick auf die jüngste Zeit angebracht. Auch im 20. Jahrhundert widerstand die Gilde allen Widrigkeiten, die ihr das Schicksal auferlegt hatte, und heute gilt sie als eine angesehene und zugleich erfolgreiche Vereinigung im fränkischen Gau.“
Welches Schicksal war es, das den Schützen Widrigkeiten bereitet hatte?
Für Rothenburgs Künstler war das Kriegsende bitter
Der Künstler Ernst Unbehauen erwähnt das Dritte Reich mit keinem Wort, obgleich – oder besser gesagt – da er einer der aktiven Antisemiten in der Stadt war. Wie auch immer. Er verschweigt, dass sich der Künstlerkollege Constantin von Mitschke-Collande, der sich allerdings erst 1945 in Rothenburg niederließ, als „artfremd“ verfolgt gewesen war und seine Bilder beschlagnahmt waren. Davon kein Wort in dem Artikel „Rothenburg mit Pinsel und Palette betrachtet“ (S. 127-131). Unbehauen informiert aber, das der „Zweite Weltkrieg dem Schaffen der Rothenburger Künstler ein jähes Ende [bereitete], sie wurden als Kriegsmaler eingezogen oder blieben in lähmender Lethargie zurück“. Leider erklärte Unbehauen nicht, warum die Künstler plötzlich lethargisch wurden, wo sie doch in ihrem nationalsozialistisch gleichgeschalteten Künstlerbund schöne Bilder in dem Stil malten, wie dies das NS-Regime wollte? Und Kriegsbilder aus dem Ersten Weltkrieg. Unbehauen weiter: „Und das bittere Kriegsende schließlich bedeutete einen noch bitteren Neuanfang.“ Denn der Künstlerbund musste sich „unter der Führung des Grafikers Willi Forster neu formieren“.
Auch Bernhard Doerdelmann, der sich der Kultur widmet („Kultur in einer kleinen Stadt“, S. 35-37), dem von allen Autoren als Erstem zuzutrauen ist, dass er das Thema anpackt, hat es nicht getan. Kein Wort von der Kultur im Dritten Reich. Er bemüht zwar Goethe und das „romantische Flair“, nicht aber das Kultur-Projekt „Nationalsozialistische Vorzeigestadt und Leitbild“ und die Kulturreisen der „Kraft durch Freude“-Organisation aus allen Ecken des Deutschen Reiches nach Rothenburg. Bundeskanzler Willy Brandt schrieb 1974 in seinem Grußwort im Jubiläumsheft u. a.:
„Ich wünsche darum dieser Stadt zu ihrem Jubiläum, dass dieser unverstaubte Charme nicht verloren geht, und es weiterhin gelingt, die Vergangenheit so harmonisch in Gegenwart und Zukunft einzubeziehen.“
Ich stimme dem Kommentar von S. Leidenberger vollkommen zu. Leider: Der Name ist wohl auf den Straßenschildern verschwunden, denn gibt es nach wie vor – nach über 8 Jahrzehnten (!) immer noch etliche Unverbesserliche und Anhänger dieser unseligen, schrecklichen Ära des 1.000-jährigen Reiches, welche immer noch (selbst gebastelte) Schilder mit der Aufschrift “Ludwig-Siebert-Straße” vor ihrem Häuschen ungestraft und nicht mehr beachtet anbringen dürfen.
Der Vorschlag für eine Umbenennung in “Johann-Rößler-Straße”, dem Gärtnermeister, der für seine Flucht aus dem Volkssturm von einem SS-Kommando erschossen wurde, kommt jedoch jetzt leider zu spät. Aber eine bessere Ehrung für diesen mutigen Mann wäre m.E. schon längst angebracht, als nur die kleine Tafel an der Friedhofs-Mauer, an der er seinen schändlichen Tod fand. Seine Familie hat den großen Makel eines “Volksverräters” extrem lange Jahrzehnt als Menetekel und große Brandmarkung für ihre Familie (samt Nachkommen) ohne Mitleid und Empathie in dieser Stadt verarbeiten und erleben müssen…
Hat es in den letzten 69 Jahren keiner für angebracht gehalten, die immer noch existente Ludwig-Siebert-Straße in Rothenburg umzubenennen? – Mein Vorschlag wäre “Johann-Rößler-Straße” mit entsprechenem Hinweisschild darunter.