Von Wolf Stegemann
Wer die Geschichte der ehemals freien Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber der letzten 150 Jahre kennt, Einblick hat in kleinstädtische Verzahnungen der gesellschaftlichen und kommunalpolitischen Kreise, wer um die lange anhaltende Rechtslastigkeit im Denken und Handeln der Stadt und vieler ihrer Bürger weit über 1945 hinaus weiß, kann gar nicht hoch genug einschätzen, dass der Journalist Dieter Balb (diba) in den 1980er-Jahren eine Artikelserie im „Fränkischen Anzeiger“ über „Rothenburg und der Nationalsozialismus“ veröffentlichte. Das war zu jener Zeit deshalb mutig, weil Balb, um seinen Standort in der Kleinstadt Rothenburg im übertragenden Sinn zu deuten, als Journalist in den oben genannten Verzahnungen eines der Räder ist. Die Aufarbeitung in einer Serie von 14 Artikeln von 1983 – auch wenn sie trotz weiterer Fortsetzungen punktuell geblieben ist – war höchst notwendig. Vielerorts in der Bundesrepublik wurden die Geschehnisse vornehmlich in kleineren Städten und Dörfern unterm Teppich gelassen, über die Beteiligung an Untaten und Verbrechen von Verwandten, Nachbarn und Kollegen geschwiegen. Der Weg vom Schweigen zum Verdrängen ist kurz. Wer das Schweigen störte, wurde als Nestbeschmutzer beschimpft, manchmal auch gesellschaftlich isoliert und beschädigt. Es brauchte das Aufmucken der 1968er und den altersbedingten Abtritt der Generation der (moralisch) schuldig gewordenen Funktionsträger in die Pensionierung, um der nachfolgenden Platz zu machen. Das war die Generation der Fragenden, bestärkt und emotionalisiert durch Anne Franks Tagebuch und diverser emotionalisierender TV-Hollywood-Filme, die das Schicksal jüdischer Familien nachspielten, z. B. „Holocaust“ oder Kinofilme wie „Schindlers Liste“.
Eine neue Generation ist aufgeschlossener
Fragen an die pensionierte Generation der Eltern, Politiker, Lehrer und anderer wurden gestellt. Antworten, wenn überhaupt, nur spärlich gegeben. Wenn die heutige Nachkriegs- und Wirtschaftswundergeneration Fragen über die NS-Zeit stellt, dann kann sie selbst Antworten finden. Denn mittlerweile lassen das Archive und Standesämter zu. Denn auch dort sitzt heute eine andere Generation und eine andere Generation hat andere Verordnungen und Gesetze für Forschungsarbeit erlassen. Zeitungsredakteur Dieter Balb schrieb über seine NS-Veröffentlichung im „Fränkischen Anzeiger“:
„Viele Lokalzeitungen haben während der letzten Monate [50 Jahre Machtergreifung Hitlers] in Artikelserien die örtliche NS-Geschichte aufgearbeitet. Das können gute Ansätze sein für die Jugend, sich mit dem Aufstieg und Niedergang des Dritten Reiches konkreter auseinanderzusetzen. Aber als Verfasser einer solchen Serie kämpft man auch gegen die Gefahr, missverstanden zu werden. Einige können sich ja noch nachträglich (oder erstmals) begeistern an jenen Zeiten.“
Authentisches über die nationalsozialistische Zeit erfahren
Dieter Balb konnte mit seinen einzelnen Berichten über Geschehnisse in Rothenburg aus dem Vollen schöpfen, hauptsächlich aus der eigenen Zeitung jener Jahre, die auch schon vor 1933 über nationalsozialistische Umtriebe in der Stadt und im Landkreis ausführlich berichtete und spätestens 1933 Teil der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie wurde. Einige wenige Aussagen von Augenzeugen oder Nachfahren von damals Agierenden – wie der Sohn von Michael Emmerling (SPD) – ergänzen die vorwiegend zeitgenössische Berichterstattung und Faksimiles, die Dieter Balb dem Leser nicht ohne Kommentierung und Erklärungen überließ. Das gilt auch für die ausgewertete Höfler-Chronik. Georg Höfler war in den frühen Jahren Propagandaleiter der NSDAP-Ortsgruppe Rothenburg. Gerade die originale Berichterstattung macht die Serie zu einer interessanten und authentischen Lektüre. In Aufrufen bat Balb um Dokumente, Fotos und Berichte aus der Bürgerschaft. Offensichtlich ohne großen Erfolg, denn er ließ in den Aufrufen durchblicken, dass wenig Informationen aus der Leserschaft kamen, auch wenn er immer wieder betonte, dass es keineswegs Absicht der Serie sei, „diejenigen an den Pranger zu stellen, die damals ,Heil!’ gerufen haben, Mitglied der SA oder NSDAP waren. Er berichtete auch über die Resonanz seiner Artikelreihe:
„Die NS-Serie in unserer Zeitung hat – das sei an dieser Stelle einmal eingeflochten – ein sehr unterschiedliches Echo gefunden. Viele begrüßen diese Artikelreihe, andere halten sie für überflüssig oder unpassend.“
Dann zitiert Dieter Balb einen Leser mit „Die Vergangenheit müsse man ruhen lassen.“ Balb hält diese Anmerkung für „vorschnell“ und betont nochmals den „Sinn und Zweck“ dieser Reihe:
„Am Beispiel einer Kleinstadt [ist ein Stück Geschichte] festzuhalten – und zwar mit allen Unzulänglichkeiten, die zwangsläufig damit verbunden sein müssen. Mehr als Schlaglichter auf die Ereignisse von damals können wir nicht liefern, eine wirklich historisch-dokumentarische Aufarbeitung des Stoffes lässt sich von unserer Redaktion gar nicht bewältigen.“
Wissenschaftliche Aufarbeitungen liegen mittlerweile vor
Inzwischen haben die Historiker Joshua Hagen („Preservation, Tourism and Nationalism: The Jewel of the German Past“, 2006) und Daniel Bauer („Die nationalsozialistische Herrschaft in Stadt und Bezirk Rothenburg ob der Tauber“, Diss. 2013, erscheint voraussichtlich 2014) die wissenschaftliche Arbeit geleistet und diese Online-Dokumentation „Rothenburg unterm Hakenkreuz“ gibt – journalistisch aufgebaut – einen breit gefächerten Überblick über die Geschehnisse und Personen jener Zeit in Rothenburg. Auch Dieter Balbs Artikelserie war für diese Online-Dokumentation eine große Hilfe und so manche Information und mancher Text daraus ist eingeflossen. Dieter Balb beleuchtet auch die Zeit von vor 1933. Er geht weiter zurück und macht somit deutlich, wie sich in Rothenburg der Rechtsradikalismus und Antisemitismus bereits in den 1920er-Jahren entwickelt hat und – wie eine Lawine sich vergrößert und mitreißend sich auf den Nationalsozialismus hin bewegte. Zum Schluss der Serie bezeichnet Dieter Balb in einem längeren Kommentar das Dritte Reich als ein „Lehrstück von der Verführbarkeit der Massen, das uns gegenwärtig sein muss“ und fragt mit Recht: „Sind wir wirklich vor der Wiederholung sicher?“ Er wiederholt, was er in seinen Aufrufen schon deutlich machte:
„Das Echo auf unsere Serie war sehr gering. Zwar haben sich Schulen im Unterricht damit befasst, das Stadtarchiv daran Interesse bekundet und wenige Leser Bilder zur Verfügung gestellt – ansonsten aber hörte man nichts, obwohl bekannt ist, dass viele Privatleute Fotos und andere Dokumente zu Hause haben, die ein wertvoller Beitrag wären.“
Anstatt abstraktes Wissen, konkrete Erfahrungen und Erkenntnisse
Zwischen 1983, als Balb seine Arbeit vorlegte, und heute (2014) liegen 31 Jahre. Das ist der Zeitraum einer Generation. Es gilt heute noch, was Dieter Balb zu Anfang seiner Artikelserie „Rothenburg und der Nationalsozialismus“, der fünf Jahre später eine über die jüdische Gemeinde in der NS-Zeit folgte, sagte:
„Geschichte, die der jungen Generation heute aus Büchern und Filmen abstrakt vermittelt wird, lässt sich sehr gut am Beispiel einer kleinen Stadt mit konkreten Angaben, mit Daten und Namen konkretisieren. Erfahrungen und Erkenntnisse lassen sich so ideal vermitteln!“
Unter diesem Aspekt ist die hier vorliegende Online-Dokumentation „Rothenburg unterm Hakenkreuz“ eine Fortschreibung Dieter Balbs „Rothenburg und der Nationalsozialismus“. Nur würde er mit heutigen Erkenntnissen sicherlich den Titel anders wählen, denn – wenn man es provozierend sagen möchte – Rothenburg und der Nationalsozialismus waren nicht zwei Dinge, sie waren eins: Rothenburg war Nationalsozialismus.
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Quellen: Dieter Balb in „Fränkischer Anzeiger“ vom 29./30. Januar; 5./6., 12./13., 19./20., 26./27. Februar; 5./6., 12./13., 19./20. März; 2./3., 16./17., 23./24. April; 7./8. Mai; 4./5. Juni 1983.