Von Wolf Stegemann
Ein eigentlich im üblichen Sinne völlig unpolitischer Vorfall, der den schuldigen Täter allerdings in Schutzhaft brachte, dann vor Gericht, führte im „Fränkischen Anzeiger“ zu Schlagzeilen und in der Stadt zu anhaltendem Gesprächstoff. Wenn über Männer und Frauen berichtet wurde, die in Schutzhaft kamen, dann waren es entweder Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden, Aufwiegler oder Volksgenossen, die den großen Führer beleidigten oder einen der vielen kleinen in der Nachbarschaft.
Diesmal war es kein Politiker, den man mundtot machen wollte, sondern ein angesehenes und apolitisches Mitglied der Stadtgesellschaft, das jeder Rothenburger kannte. Sie kannten aber nicht nur seine manierliche und helfende Seite im weißen Arztkittel, sondern auch seine dunkle Seite als rücksichtsloser Autofahrer, der, wenn ihn ein Fuhrwerk am schnellen Vorbeifahren hinderte oder es nicht schnell genug ausweichen konnte, der Autofahrer schon mal ausstieg, den Kutscher anschrie und in mit Fäusten malträtierte, ihn ohrfeigte oder sogar mit der Peitsche schlug, die er dem Kutscher zuvor aus der Hand gerissen hatte. Dieses Verhalten war bereits gerichtsbekannt und so kannten die Rothenburger ihren Dr. med. Theodor Beck, der am Marktplatz Nr. 6 wohnte und als Chirurg im Klosterhof eine Privatklinik unterhielt..
Arbeitsdienstmänner retteten sich mit Hechtsprüngen
Mit seinem rüpelhaften Fahr- und Umgangsstil kam er meist glimpflich davon, da er sich nicht mit der NSDAP bzw. ihren Gliederungen anlegte, bis er eines Tages am 29. Juni, morgens gegen sieben Uhr, „wie immer rücksichtslos“ durch die Spitalgasse nahe dem Spitaltor fuhr. Zu diesem Zeitpunkt marschierten 150 Mann des Rothenburger Reichsarbeitsdienstes der Abteilung 6/282 zum Einsatz stadtauswärts durch das Spitaltor. Den weiteren Verlauf des Vorfalls schilderte der „Fränkischen Anzeiger“ am 20. August:
„Wäre es dann am Schluss der Kolonne marschierenden Männern nicht im letzten Augenblick noch gelungen, einen Sprung zur Seite zu machen, wäre ein Unglück nicht zu vermeiden gewesen. Ein Arbeitsdienstmann konnte sich gerade nur durch einen Sprung nach vorne vom Überfahrenwerden retten. Nicht genug damit, dass man in einem derartigen Tempo auf eine marschierende Kolonne zufährt, erging sich Dr. Beck nach diesem Vorfall in unerhörten Beschimpfungen gegen die Arbeitsmänner und damit gegen den Reichsarbeitsdienst. Die Männer, die tagtäglich in harter Arbeit mit Pickel und Spaten den deutschen Boden bearbeiten, in selbstloser Aufopferung ihrem Volke und damit dem Führer dienen, beschimpfte Dr. Beck mit ,Saubande’ und ,Sauhunde!’“.
Wochen später, am 19. August, trafen sich die Arbeitsdienstmänner beim Bier im Saal „Zum Ochsen“ in der Galgengasse, wo dieser Vorfall wieder einmal zur Sprache kam. Mit wachsendem Alkoholpegel wuchs auch die Empörung der Männer, so dass die Polizei gerufen wurde, die Dr. Beck noch am selben Abend um halb elf aus dem Bett holte, ihn zur Schutzhaft ins Gefängnis brachte und ein polizeiliches Verfahren gegen ihn einleitete.
Gerichtsverhandlung mit vielen Zuschauern und Zeugen
Vor vollbesetztem Saal des Rothenburger Amtsgerichts fand am 3. September 1935 der Strafprozess unter Vorsitz von Oberamtsrichter Dr. Faber statt. Dem Angeklagten wurde zur Last gelegt, dass er die Reichsstraßenverkehrsordnung übertreten und sich einer „fortgesetzten formale Beleidigung“ der Arbeitsdienstmänner schuldig gemacht hatte. Der Angeklagte bestritt, zu schnell gefahren zu sein und somit die Arbeitsdienstmänner der Gefahr ausgesetzt zu haben, gab aber zu, sie als „dumme Menschen, die in einer Reihe antreten sollten“, beschimpft zu haben. Er wollte den Reichsarbeitsdienst als solchen nicht wissentlich beleidigen, auch nicht den Führer der Abteilung, den er als „unfähig, die Abteilung zu führen“, beschimpft hatte.
Es wurden viele Zeugen gehört, die alle aussagten, dass der Angeklagte sehr schnell gefahren sei, dass genügend Platz war, an der Kolonne vorbeizufahren und dass er eine „sehr laute Ausdrucksweise an den Tag legte“. Nach der Beweisaufnahme sagte der Staatsanwalt in seinem Plädoyer, dass die Zeugenaussagen die Vorwürfe in der Anklageschrift belegt hätten, Dr. Beck sei zu schnell an die in Viererreihen marschierenden Arbeitsmännern herangefahren und habe die Übersicht über die Situation verloren. Platz zum Vorbeifahren sei gewesen, doch er wollte sein Vorbeifahren erzwingen, was er mit einem die Männer gefährdenden schnellen Heranfahren unter lauten Hupen auch schaffte. Er hätte anhalten müssen, um die Gruppe vorbeimarschieren zu lassen. Damit habe der Angeklagte zwei Übertretungen der Reichsstraßenverkehrsordnung in Tateinheit begangen. Anstatt weiterzufahren, habe er die Arbeitsdienstmänner kollektiv mit den Ausdrücken „Saubande“, „Sauhunde“, „Sauköpfe“ bedacht. Das habe er wissentlich getan, denn der Angeklagte hatte sein Auto gewendet und sei der Kolonne nachgefahren, um sie mit diesen Ausdrücken zu beschimpfen.
„Diese beleidigenden Äußerungen stellen rechtlich eine Kollektiv-Beleidigung dar. Daher hat sich der Angeklagte auch eines fortgesetzten Vergehens der Beleidigung des Arbeitsdienstes schuldig gemacht.“
Wegen Übertretung der Reichsstraßenverkehrsordnung beantragte der Staatsanwalt eine Geldstrafe von 60 Reichsmark ersatzweise sechs Tage Gefängnis. Bei der fortgesetzten Beleidigung des Reichsarbeitsdienstes wurde es teurer. Dafür sollte er 700 Reichsmark zahlen, ersatzweise 70 Tage ins Gefängnis gehen, außerdem die Kosten des Verfahrens übernehmen. Auch plädierte der Staatsanwalt dafür, dass der Arbeitsdienst-Führer, weil seine Truppe öffentlich beleidigt wurde, eine Rehabilitierung aus Kosten des Angeklagten in den Zeitungen „Völkischer Beobachter“ (NSDAP-Zeitung) und „Fränkische Tageszeitung“ (NSDAP-Gau-Zeitung Nürnberg) auf Kosten des Angeklagten veröffentlichen darf.
Der Angeklagte hatte ein leicht erregbares Gemüt
Dr. Th. Becks Verteidiger Ebert aus Ansbach schilderte den Angeklagten als äußert erregbaren Menschen, der in diesem Augenblick die Nerven verloren habe. Länger führte er aus, dass sein Mandant die Rechtsvorschriften der Reichsstraßenverkehrsordnung nicht übertreten habe. Die beleidigenden Äußerungen seien nicht so schwerwiegend, weil sie nicht wissentlich ausgesprochen wurden. Er forderte daher im ersten Anklagepunkt Freispruch und für die zugegebenen Beschimpfungen des Arbeitsdienstes eine dem Gemütszustand des Angeklagten angepasste geringe Geldstrafe. Im „letzten Wort des Angeklagten“ sagte dieser, dass er kein Gegner des Arbeitsdienstes sei, sondern in Rothenburg zusammen mit einem Arbeitsführer aus Gunzenhausen sogar den Versuch übernommen habe, in Rothenburg einen Freiwilligen Arbeitsdienst aufzubauen. Die Unterlagen dazu lägen beim Rothenburger Stadtrat.
Reichsarbeitsdienst als NSDAP-Gliederung hat immer Vorfahrt
Das Gericht schloss sich im Wesentlichen der Bewertung des Staatsanwalts an und verurteilte den Angeklagten für den Verstoß gegen die Verkehrsordnung zu 60 RM Strafe, ersatzweise sechs Tagen Gefängnis, und wegen fortgesetzter Beleidigung zu einer Geldstrafe von 600 RM, ersatzweise 60 Tagen Gefängnis, sowie zur Übernahme der Prozesskosten. Zudem wurde dem Rothenburger Arbeitsdienst-Führer das Recht zugesprochen, auf Kosten des Verurteilten das Urteil in der „Fränkischen Tageszeitung“ und im „Völkischen Beobachter“ bekanntzugeben. In seiner Begründung des Urteils führte das Gericht u. a. an, dass die Beschimpfung des Reicharbeitsdienstes in jedem Fall eine Beleidigung darstelle.
„Der Angeklagte hatte die Pflicht gehabt, auf den ihm entgegenkommenden Zug vom Arbeitsdienst die gebührende Rücksicht zu nehmen gerade deshalb, weil es sich um eine Abteilung des Reichsarbeitsdienstes, also um eine Organisation der NSDAP handelt, die ein gutes Vorrecht hat, die Straße zu benützen.“ Und dann heißt es an anderer Stelle: „Als Volksgenosse hätte der Angeklagte Anlass gehabt, einer Abteilung des Arbeitsdienstes gegenüber die Rücksicht walten zu lassen, die jeder andere Verkehrsteilnehmer auch verlangen kann.“.
Der Richter führte aus, dass beim Arbeitsdienst besondere Rücksicht erforderlich sei, denn „der Arbeitsdienst tritt in einem solchen Falle als Erscheinung der Gesamtheit auf“, Und weiter heißt es:
„Im Arbeitsdienst stehen junge deutsche Menschen, deren Grundsatz es sei: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Für die Opfer, die die jungen Menschen bringen, haben sie das Recht, zu verlangen, dass ihre Ehre, ihre Freiheit geschützt wird.“
Wäre Dr. Theodor Beck nicht als unbeherrschter Mann bereits„gerichtsbekannt“ gewesen, hätte das Gericht ihn zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, führet der Richter in seiner Urteilsbegründung. „Der leicht erregbare Zustand den Angeklagten wirkt sich strafmildernd aus.“ Allerdings:
„Die Strafe sei deshalb so hoch ausgefallen, weil der Angeklagte eben eine Kolonne des Reichsarbeitsdienstes Beleidigt habe. Das moderne deutsche Strafrecht steht auf dem Standpunkt, dass zur Verurteilung nicht der Paragraph allein maßgebend ist, sondern der Wille des Angeklagten“.
______________________________________________________________
Quellen: Fränkischer Anzeiger: „Inschutzhaftnahme“ vom 20. Aug. 1935 und „Die Angelegenheit Arbeitsdienst – Dr. Beck gerichtlich entschieden“ vom 4. Sept. 1935.