Von Prof. Dr. Christoph Kleßmann
Eng verknüpft mit dem Kriegsende in Deutschland war die lange und in komplizierten Fronten verlaufende Debatte um das Jahr 1945 als „Niederlage“ und „Katastrophe“ oder als „Befreiung“. Diese Diskussion bekam ihre spezifisch politische Konnotation durch ihre Verbindung mit der Teilung Deutschlands. Während in der SBZ/DDR die Formel der „Befreiung vom Faschismus“ kanonisiert wurde und bis zum Ende des ersten „Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden“ erhalten blieb, dominierten in Westdeutschland zunächst die düsteren Farben in der Kennzeichnung des Kriegsendes als „Niederlage“, „Kapitulation“, „Untergang” oder „Katastrophe“. Das bedeutete einerseits eine demonstrative Abgrenzung von der DDR. Es entsprach andererseits durchaus der Erfahrung und der Gefühlslage einer großen Mehrheit der Deutschen, die sich eben 1945 keineswegs befreit fühlte, auch wenn sie erleichtert war, dass der längst verlorene Krieg endlich vorbei war.
In keinem anderen Zusammenhang war der Begriff der Befreiung so unstrittig wie für das Ende der Konzentrationslager. Obwohl auch deren Geschichte in der Bundesrepublik keineswegs sofort im Zentrum der Zeitgeschichte und der politischen Aufarbeitung stand, ist diese Position einer besonders relevanten Minderheit im Gegensatz zur Bevölkerungsmehrheit stets zumindest stillschweigend anerkannt worden. Eugen Kogons seit 1946 in vielen Auflagen erschienener Bericht über das System der deutschen Konzentrationslager „Der SS-Staat“ machte diese Dimension der Befreiung auf besonders eindrucksvolle Weise deutlich, konnte damit aber beim Gros der Bevölkerung zunächst keineswegs den dominierenden Eindruck der katastrophalen Niederlage überdecken.
Wichtige Einblicke in die Verfasstheit der beiden deutschen Staaten
1945 wird aus deutscher und europäischer Sicht zumeist auf das Datum der Kapitulation am 8. Mai fokussiert. Damit verbanden sich in Deutschland zunächst eher negative Konnotationen, anders als für die von den Deutschen unterdrückten Völker. In der politischen Klasse gab es zwar in der Bundesrepublik bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren Ansätze zu einer differenzierten Sicht, einen Durchbruch zu einem veränderten Paradigma „Befreiung“ hat in der Öffentlichkeit aber erst 1985 die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai gebracht, die ein breites nationales und internationales Echo auslöste. Die lange und vielfältige Diskursgeschichte der Gedenkfeiern zum 8. Mai bietet wichtige Einblicke in die innere Verfasstheit der beiden Staaten, ihren Umgang mit der gemeinsamen Vergangenheit, in geschichtspolitische Debatten, Rückwirkungen des deutsch-deutschen Systemkonflikts und allgemein in die Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland.
Willy Brandt 1969: „Mehre Demokratie wagen!“
Die Entwicklung der Diskussion lässt sich in verschiedene Phasen aufgliedern. Während der Zeit der Besatzungszonen dominierten noch in West und Ost die Vorstellungen von Katastrophe und Zerstörung. In der Historiografie gab es Entsprechungen: Friedrich Meineckes Reflexionen über die „deutsche Katastrophe” entsprach im Osten die so genannte Misere-Konzeption des KPD/SED-Funktionärs Alexander Abusch, die erst Anfang der 1950er-Jahre ersetzt wurde. In der bis zur Währungsreform üppig sich entfaltenden westdeutschen Zeitschriftenlandschaft fanden sich vielfältige Erörterungen über Kriegsende, Katastrophe, Erneuerung und Restauration. Einen fast programmatischen Fanfarenstoß bildete vor allem der Artikel von Walter Dirks in den damals auflagenstarken „Frankfurter Heften” von 1950 mit dem Titel „Der restaurative Charakter der Epoche“. In der nächsten Phase kennzeichnete vor allem eine deutliche Polarisierung zwischen Ost und West, aber auch innerhalb der westdeutschen Linken die Debatte. Je schärfer aus der DDR die Polemik gegen die „restaurative BRD“ wurde, desto leiser wurden jedoch alle Töne von Restaurationskritik im Westen. Eine dritte Phase lässt sich mit den liberalen und linken Aufbrüchen in den späten 1960er-Jahren identifizieren. Das Restaurationsparadigma, dessen Bezugspunkt 1945 darstellte, wurde wieder massiv aufgewertet, und die Kritik an vermeintlichen frühen Fehlentwicklungen Westdeutschlands mündete in Forderungen nach strukturellen Reformen, als deren Reflex sich auch Willy Brandts programmatischer Satz in seiner ersten Regierungserklärung von 1969 „Mehr Demokratie wagen“ verstehen lässt. Aber erst mit der Rede von Weizsäcker und der um sie gruppierten breiten öffentlichen Debatte über den Charakter der Zäsur von 1945 lässt sich von einem wirklichen Paradigmenwechsel sprechen, der auch in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien zu verfolgen ist.
Ob diese Phase seit Mitte der 1980er-Jahre mit dem Ende des kommunistischen Systems in Europa und dem Untergang der DDR endete, kann offen bleiben. Unübersehbar ist jedoch die Verschiebung, die von der Revolution 1989/90 im Hinblick auf die Beurteilung von 1945 in Gang gesetzt wurde. Dazu kam ein deutlicher Schub in der Kommunismuskritik und an Trends der Renationalisierung in den ehemaligen Volksdemokratien. Auch in Deutschland ist die Umwertung vieler historischer Urteile im Einzelnen evident. Ein keineswegs neuer, aber anders akzentuierter Opferdiskurs in Deutschland gehört zu den hervorstechenden Phänomenen.
Ausgangspunkt für einen erneuerten Opferdiskurs nach 1990
In den 1950er-Jahren wurde die NS-Diktatur zwar keineswegs beschwiegen, aber mit ihrem Ende verbanden sich im öffentlichen Diskurs in erster Linie die Leiden der Deutschen als Opfer, weniger die Ursachen dafür, dass Hitlers Pendel der gewaltsamen Neuordnung bei Kriegsende nun massiv gegen die Deutschen zurückgeschlagen war. Eine der ersten großen Dokumentensammlungen bezog sich auf die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa, nicht auf die nationalsozialistische Außenpolitik und den Krieg. Dieser Sachverhalt ist oftmals aus dem Blickfeld geraten, als in der deutschen Öffentlichkeit nach der Wiedervereinigung und dem Ende des Ost-West-Konflikts eine scheinbar neue Debatte um die Deutschen als Opfer begann. Sie bezog sich vor allem auf die alliierten Flächenbombardements, die Exzesse der Roten Armee und die Vertreibungen 1945. Dieser scheinbar neue Opferdiskurs reagierte auf die neue politische Konstellation und wohl auch auf eine seit den 1980er-Jahren schon fast allzu selbstverständlich gewordene Befreiungsrhetorik. Es hatte lange gedauert, bis sich die Sicht auf 1945 als „Befreiung“ in der Bundesrepublik durchsetzte. Weizsäcker hatte durchaus Täter- und Opferperspektive parallel erörtert, ohne die Verantwortlichkeiten zu verwischen. Als neu und provozierend wahrgenommen wurde aber in der Öffentlichkeit vor allem die Betonung der Befreiung.
Änderte sich nach 1990 an diesem Konsens etwas Grundlegendes? Das Etikett Befreiung ausschließlich und ex cathedra zu verwenden, wäre nicht nur politisch naiv, sondern auch unhistorisch. Denn diese Befreiung von der blutigen NS-Diktatur war nur mit einem schrecklichen Ausmaß an Gewalt möglich, von der nun auch Millionen Deutsche getroffen wurden. Weder die Gewaltexzesse der Roten Armee noch die militärisch sinnlosen anglo-amerikanischen Flächenbombardements wurden durch diesen Zusammenhang legitimiert. Der Begriff Befreiung verlor schon im Gedenkjahr 1995 seinen provokatorischen Gehalt, den er noch in Weizsäckers Rede im Jahrzehnt zuvor besessen hatte. Es gab jetzt auch in der internationalen Öffentlichkeit eine wachsende Bereitschaft, „individuelle Leid-Erfahrungen des Jahres 1945 anzuerkennen, ohne darin historische Relativierungen zu vermuten“. Bei dieser neuen Akzentuierung einer alten Debatte über die Deutschen als Opfer hängt alles davon ab, falsche historische Gewichtungen zu vermeiden.
- Siehe vom selben Verfasser auf den nebenstehenden Seiten: 1945 (I) – Das Jahr einer welthistorischen Zäsur. – 1945 (III) – Ende und Anfang der gefühlten „Stunde Null“ (mit Literaturverzeichnis).
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Quelle: Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus: Christoph Kleßmann „1945 – welthistorische Zäsur und Stunde Null“ in: Docupedia-Zeitgeschichte. Der gesamte Artikel ist zu lesen unter (https://docupedia.de/zg/1945?oldid=84581). Mit freundlicher Genehmigung.