Von Prof. Dr. Christoph Kleßmann
Von Um das Schlagwort „Stunde Null“ gibt es seit seinem Auftreten in der Nachkriegszeit viel Begriffspolemik. Wann der Begriff erstmals auftauchte, ist kaum zu ermitteln. Der Titel von Roberto Rossellinis Film von 1948 „Deutschland im Jahre Null“ hat vermutlich die Verbreitung des Ausdrucks gefördert, der auch in den Titeln vieler Bücher vorkommt: Hans Habe „Im Jahre Null“ (Dersch 1966), „Drei Jahre nach Null“ (Droste 1978), „Stunde Null in Deutschland“ (Droste 1978). „Dorsten nach der Stunde Null“ (Stegemann, 1986).
Mit der Zäsur von 1945 verbinden sich – wie mit vielen tiefen historischen Zäsuren – verschiedenste zeitgenössische und historiografische Charakterisierungen. Als „Stunde Null“ wurde das Ende des blutigsten Krieges der bisherigen Geschichte wohl zuerst von Literaten bezeichnet, aber genau ist die Herkunft nicht zu eruieren. Die Metapher ging als populäres Schlagwort in die Umgangssprache und in die Berichterstattung über Kriegsende und Neuanfang ein und hat sich dauerhaft gehalten. Dahinter stand die Vorstellung von der totalen Niederlage als Endpunkt und Ausdruck von Hoffnungslosigkeit, aber auch von Chancen für einen vollständigen politischen und gesellschaftlichen Neuanfang. Die intensive zeitgenössische Debatte um Neuordnung und Restauration, die sowohl in den politischen Parteien wie in den politisch-literarischen Zeitschriften stattfand, hat hier ihren Ursprung. Eines der prominentesten Blätter der frühen Nachkriegszeit, der aus einer Zeitschrift deutscher Kriegsgefangener in den USA hervorgegangene und von Alfred Andersch und Hans Werner Richter herausgegebene „Ruf“, schrieb 1946, in Deutschland sei alles zerschlagen. Die junge Generation könne daher ganz von vorne beginnen. „Sie braucht nicht umzubauen [… ] Sie kann neu bauen.“ Diese Hoffnung auf neue gesellschaftliche Gestaltungsspielräume angesichts des (scheinbar) völligen Zusammenbruchs tradierter Strukturen und das ausgeprägte moralische Pathos aller Beschwörungen des Neubeginns gehörten zu den positiven und für engagierte Literaten attraktiven Konnotationen der „Stunde Null“, auch wenn sie sich als große Illusion erweisen sollten. Denn selbst nach revolutionären Zäsuren gibt es stets ein größeres Maß an Kontinuität, als die Revolutionäre glauben oder fürchten mochten.
Metapher spiegelt den individuellen sozialen Niedergang wider
Die Metapher „Stunde Null“ spiegelte aber vor allem eine in dieser Form neue Erfahrung des kollektiven und individuellen sozialen Niedergangs wider. Angesichts der Zahl der Kriegsopfer, des Ausmaßes an materieller Zerstörung und der Dimensionen sozialer Verelendung war das Gefühl verbreitet, Deutschland sei an einem historischen Tiefpunkt angekommen, ohne Chance auf einen Wiederaufstieg. Vor diesem düsteren Hintergrund konnten dann die späteren Jahre einer vergleichsweise schnellen wirtschaftlichen Erholung in Westdeutschland als „Aufstieg aus dem Nichts“ erscheinen. Obwohl osteuropäische Länder wie Polen oder die Sowjetunion, aber auch das vom Bürgerkrieg zerrissene Griechenland kaum weniger Anlass gehabt hätten, von einer „Stunde Null“ zu sprechen, scheint dieses Label doch eine spezifisch deutsche Sache geblieben zu sein. Die Fallhöhe vom Taumel des Sieges über Europa zum in Besatzungszonen aufgeteilten Klein- und Rumpfdeutschland war in der Tat ungeheuer groß.
Beide Interpretationen der „Stunde Null“ sind bei genauerem Hinsehen eigentlich gegenstandslos. Denn seit die Waffen schwiegen und sich das unglaubliche soziale Chaos als Folge des Krieges notdürftig gelichtet hatte, wurden die Brücken erkennbar, die aus der Kriegs- in die Nachkriegszeit führten. Weder war die Niederlage so total und die Zerstörung so umfassend, dass die Deutschen als Volk um ihr physisches Überleben fürchten mussten, noch gab es eine gesellschaftliche Tabula rasa, die einen völligen Neuanfang ohne Bindungen an tradierte Strukturen ermöglicht hätte. Dennoch ist das nicht zuletzt visuell vermittelte Bild vom Kriegsende und Ausmaß der Zerstörung, das mit der Metapher von der „Stunde Null“ erfasst wird, punktuell richtig. Das betrifft vor allem die großen Städte. Berlin glich nach der Kapitulation einer Ruinenlandschaft.
Bilder als historische Quellen wurden immer wichtiger
„Mondlandschaft“ war ebenfalls eine beliebte Umschreibung zeitgenössischer Beobachter. Unter den ersten Eindrücken vom völlig zerstörten Berlin glaubten viele gar nicht mehr daran, dass man die Stadt überhaupt wiederaufbauen könne und meinten – ähnlich wie für Warschau –, man solle einen anderen Platz suchen. Diese zeitgenössisch verbreitete Perspektive, so selektiv sie auch ist, bleibt wichtig zur Erfassung der damals vielfach dominierenden Vorstellungen. Bilder sind in diesem Zusammenhang als historische Quelle besonders wichtig geworden. Fotografien alliierter Soldaten, aber auch aus deutschen offiziösen und privaten Beständen, dokumentierten die unvorstellbaren Gräueltaten und sollten das deutsche Volk davon überzeugen, welche Verbrechen nicht nur von einer kleinen Nazi-Clique in deutschem Namen verübt worden waren. Die Fotodokumentationen und Filme zeigten aber auch auf besonders eindrucksvolle Weise den Verlust vertrauter Ordnungen und das ausgeprägte Chaos, das der verbrecherische Krieg hinterlassen hatte und mit dem man sich auseinandersetzen musste. Insofern visualisierten sie auch den moralischen und materiellen Zusammenbruch, der in der Perspektive der Zeitgenossen als „Stunde Null“ zugleich die Hoffnung auf einen Neuanfang enthielt.
Debatten um Aufarbeitung der Vergangenheit haben an Brisanz zugenommen
Vor diesem Hintergrund lassen sich die zunehmend intensivierten geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Forschungsfelder beleuchten, die Kontinuitäten und Brüche nach 1945 thematisieren. Sie betreffen vor allem Elitenuntersuchungen, Verfassungsfragen, außen- und gesellschaftspolitisch den Abschied vom ominösen deutschen „Sonderweg“, der im Nationalsozialismus seinen Gipfelpunkt erreicht habe, aber auch den vorschnell behaupteten Abschied von der Klassengesellschaft und die Verkündung einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, die es in der Bundesrepublik als Wille und Vorstellung gab, aber nie als soziale Realität. Die „großen Themen“ waren auch vor 1989 im Westen behandelt worden. Nach dem Ende der DDR konnte jedoch einiges gelassener, differenzierter und ohne die früher unvermeidlichen, aus dem Kalten Krieg resultierenden politischen Konnotationen behandelt werden. Das trifft zum Beispiel für die Kritik an der westdeutschen Ostforschung und ihren führenden Repräsentanten zu. Noch mehr gilt das möglicherweise für die sozialgeschichtlich zentrale und moralisch quälende Frage nach der Kontinuität der Eliten in der Bundesrepublik. Der Bruch von 1945 wurde stets im Westen ebenso emphatisch behauptet wie im Osten polemisch verneint.
Autoritäre Traditionen wurden erst in den 1960ern aufgebrochen
Anders als nach 1918 waren die Kontinuitäten nicht so offen sichtbar, weil die belasteten Eliten sich sehr erfolgreich anzupassen verstanden und großdeutschen und nationalistischen Ideen abschworen. Autoritäre Traditionen setzten sich jedoch nach 1945 bzw. 1949 noch lange fort und wurden erst in dem „dynamischen Jahrzehnt“ der 1960er-Jahre wirklich aufgebrochen. Auf andere Weise galt das auch für die DDR, die einen vollständigen Bruch mit verhängnisvollen Traditionen behauptete, diese aber teilweise unter anderem Vorzeichen fortsetzte und damit zugleich eine westdeutsche Totalitarismusdiskussion stimulierte, die sich ihrerseits mit der verschämten Gleichung „rot gleich braun” um die Erforschung problematischer Kontinuitäten drückte. Die Debatten um die Aufarbeitung der nun doppelten diktatorischen Vergangenheit haben nach 1989 an Intensität und Brisanz gewonnen. Dennoch ist das Interesse am Nationalsozialismus und an der Geschichte faschistischer Diktaturen keineswegs durch die Konjunktur des Kommunismusforschung marginalisiert worden. „Stasi kommt, Nazi geht?“ lautete die griffige Schlagzeile eines Artikels in der „Zeit“ von 1992 – ein damals vielleicht berechtigter, aber glücklicherweise falscher Alarm.
Formel von der Stunde Null auf eine lange Phase verliert die Einmaligkeit
Neuerdings gibt es neben den zahlreichen narrativ angelegten biografischen, lokal- und regionalgeschichtlichen Studien zum Umbruch von 1945 den Versuch von Soziologen/innen, die „Stunde Null“ als stärker generalisierende analytische Formel für verschiedene Ebenen des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie zu verstehen. Die Programmperspektiven der amerikanischen Besatzungsmacht bilden dabei den Kern der Argumentation. Die Besatzungskonzepte auf unterschiedlichen Ebenen und die jeweilige „Handlungslogik der Nullphase“ sollen einen neuen Zugang zur Erklärung des „Wechsels vom Führerstaat zur parlamentarischen Demokratie, von der staatlich dominierten Wehrwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft und von der Weltanschauungsdiktatur zur Meinungsfreiheit“ bieten. Ob dieser theoretisch aufwendige und nahezu ausschließlich die amerikanische Besatzungsperspektive betonende Ansatz grundsätzlich Neues bietet, lässt sich bezweifeln. Vor allem vernachlässigt er die Interaktion als besonders wichtige Dimension der frühen Nachkriegsjahre. Die zeitliche Überdehnung der semantisch eben doch eher punktuell festgelegten Formel von der Stunde Null auf eine lange Phase erscheint mir nicht sonderlich ergiebig. Zumindest verliert sie dadurch ihr Profil zur Kennzeichnung einer als einmalig und außerordentlich empfundener Situation und wird zur komprimierten Formel für eine längere Transformationsphase. Auch die nachdrückliche Entgegensetzung einer historischen und soziologischen Perspektive wird dem Forschungsstand kaum gerecht.
„Stunde Null“ auf unterschiedenen Ebenen platziert
In anderer Weise lässt sich fragen, wie sinnvoll der stark von biografischen Erfahrungen geprägte Vorschlag Richard von Weizsäckers einer dreifachen „Stunde Null“ ist: nämlich 1949 als sichtbarer Beginn der staatlichen Teilung Deutschlands, 1969 als Wandel der innenpolitischen Konstellation und Beginn einer neuen Ostpolitik und schließlich 1989 als Ende des Kalten Krieges. Zumindest sind diese drei Daten auf allzu unterschiedlichen Ebenen platziert. Ganz anders als die große Rede Weizsäckers von 1985 hat dieser Vorschlag kaum ein Echo gefunden.
- Siehe vom selben Verfasser auf den vorhergehenden Seiten: 1945 (I) – Das Jahr einer welthistorischen Zäsur – 1945 (II) – Das Jahr der Niederlage und/oder Befreiung?
________________________________________________________________