Von Dr. Heribert Prantl, SZ-Redakteur
Eintrag im Tagebuch des Schriftstellers und späteren Diplomaten Wilhelm Hausenstein, niedergeschrieben in Tutzing am Starnberger See am 8. Mai 1945:
„Heute Nachmittag im Dankgottesdienst, dem eine recht würdige Aufführung einer Messe von Haydn einigen Glanz gab. Der Cellist Hoelscher wirkte mit, er hatte vom Hakenkreuz auf die Orgelempore hinaufgefunden… Ach, keiner will jetzt ,dabei’ gewesen sein; keiner hat das Parteizeichen im Rockumschlag ernst gemeint; die Charaktere stehn in Blüte. Es ist zum Speien. Im Rathaus drängen sich Geschäftemacher, suspekte Figuren mit nazistischer Vergangenheit in den Vordergrund. Das Leben scheint nicht anders zu sein. Von einer Umkehr merkt man kaum ein Anzeichen.“ Und am nächsten Tag fährt Hausenstein fort: „Sie weinen, wenn man ihnen (fürs Erste) die Wohnungen wegnimmt, um Offiziere und Soldaten einzuquartieren; das heißt: sie weinen über den Verlust der noch immer hergebrachten Bequemlichkeit, aber sie beziehen nichts, rein nichts auf den Gedanken der Züchtigung, deren jeder Deutsche harren muss (jeder, und ich nehme mich wahrhaftig nicht aus). Wollte nun endlich die Kirche das Wort ergreifen! Wollte sie Prediger aussenden, wie Savonarola einer gewesen ist!“
Vom Hakenkreuz auf die Orgelempore: So wie der Cellist Ludwig Hoelscher das schon gleich am ersten Tage schaffte, so schnell schafften das nur wenige; im Lauf der Jahre aber fast alle, zumal dann, als 1949 die von den Alliierten betriebene Phase der Säuberung vorbei war. Im Westen ging das so: Die Nazirichter rissen sich das Hakenkreuz von der Robe – und machten einfach weiter. Die Professoren tilgten die braunen Sätze aus ihren Büchern – und blieben großenteils auf ihren Lehrstühlen oder kehrten bald zu ihnen zurück. Die Beamten hängten Adolf Hitler von der Wand, gelobten einem neuen Dienstherrn die alte Treue – und verwalteten weiter. Der Tag der Befreiung war ein Tag der Befreiung von den Äußerlichkeiten des alten Regimes; man streifte die alte braune Haut ab.
Täter erklärten sich zu Verführten
Die Spruchkammern zur Entnazifizierung, eine gut gemeinte Erfindung der Amerikaner, taten nicht sonderlich weh und stellten ihre Tätigkeit bald wieder ein. Entnazifizierung hieß, das alte Parteibuch zu verbrennen und so zu tun, als sei man schon immer dagegen gewesen: Die vormaligen braunen NS-Volksgenossen verwandelten sich in die braven Bürger der Bundesrepublik.
Die Täter erklärten sich zu Verführten, die Mitläufer machten aus sich Opfer; Straffreiheits- und Wiedereingliederungsgesetze, von allen Parteien betrieben, halfen ihnen dabei. Vom ersten Tag an standen in der jungen Bonner Bundesrepublik die Zeichen auf Pardonisierung, Amnestie und Integration. Nie mehr wieder seitdem hat Resozialisierung so einvernehmlich und so umfassend funktioniert. Auch ein Wilhelm Hausenstein hat – in den „Pariser Erinnerungen“ an seine Zeit als Adenauers Botschafter in Frankreich – den Adenauer-Staatssekretär Hans Globke, der Kommentator der Nürnberger Rassegesetze gewesen war, sehr milde beurteilt.
Die Parteien in der Bonner Republik konkurrierten um die „nach Millionen“ zählenden „Verführten“, wie das Eugen Gerstenmaier, CDU-Abgeordneter und Bundestagspräsident ab 1954 formulierte; er hatte zur Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises gehört: Man sei nicht gewillt, so Gerstenmaier, beim „Neuaufbau des deutschen Vaterlandes“ auf diese „Verführten“ zu verzichten. Und als dann dieser Neuaufbau erreicht und das Wirtschaftswunder etabliert war, attestierte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß dem Volk, „das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat“, ein Recht, „von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen“.
Verbrennung der Entnazifizierungsakten – fast ein Festakt
Am 3. November 1951 erschien in den deutschen Tageszeitungen folgende Agenturmeldung:
„In Stadt Oldendorf, Kreis Holzminden, wurden in Anwesenheit aller Ratsmitglieder die Entnazifizierungsakten im Ofen des städtischen Gaswerks verbrannt. Der Bürgermeister wies darauf hin, dass Stadt Oldendorf als erste Stadt der Bundesrepublik einen Schlussstrich unter die gesamte Entnazifizierung ziehe. Er übergab eine dickleibige Akte mit den Fällen von etwa 400 Entnazifizierten den Flammen.“
Dies geschah im dritten Jahr der Bundesrepublik: Es war keine Zeit mehr für Vergangenheit, es war Zeit zum Aufbauen, und das Verdrängen und Vergessen ging damit Hand in Hand: Der Krieg war „Scheiße“, und „das mit den Juden“ eine Sauerei, die nicht hätte „passieren“ dürfen; aber die anderen seien ja auch kaum besser gewesen, hätten schließlich die deutschen Städte zerbombt, Millionen aus der Heimat vertrieben. Krieg sei eben Krieg. Und letztlich seien alle Opfer dieses Krieges gewesen, den, so sah man das, zwar Hitler allein angefangen hatte, aber am Ende alle verloren hatten. Und jetzt war Frieden. Jetzt galt es, die Ärmel aufzukrempeln und sich möglichst nicht um Politik zu kümmern. Das Desaster, vor dem man stand, galt auch als Folge davon, dass man sich in die Politik hatte „hineinziehen” lassen.
Nachkriegsjustiz stellte NS-Verfolgten erneut nach
Für die Flucht vor der Vergangenheit in eine geschichtslose Gegenwart fand sich in der Bundesrepublik noch ein triftiger Grund: die kommunistische Gefahr. Die westdeutsche Politik und die westdeutsche Strafjustiz warfen sich mit solcher Verbissenheit in den Kalten Krieg, dass für die Vergangenheit keine Zeit blieb. In den Jahren 1950 bis 1960 waren Staatsanwaltschaften und Gerichte mit der Aburteilung von 125.000 kleinen Kommunisten der KPD beschäftigt: Unter ihnen waren sehr viele ehemalige Widerständler gegen den Nationalsozialismus. Sie wurden vielfach von Richtern verurteilt, die schon unter Hitler gerichtet hatten. Täter urteilten also über Verfolgte, Verfolgten wurde erneut nachgestellt. Zur Verfolgung der Nazi-Verbrechen hatte diese Kalte-Kriegs-Justiz keine Lust und keine Energie: Wenn sie NS-Täter überhaupt verurteilte, dann über viele Jahre hin so, als habe es nur einen einzigen Täter, im Übrigen aber nur Gehilfen gegeben.
Die Nachkriegsjustiz tat so, als habe Adolf Hitler persönlich die Juden zusammengetrieben, in die Gaskammern gestoßen und die Verbrennungsöfen persönlich befeuert. Weil die bundesdeutsche Justiz in den NS-Massenmordprozessen die üblichen Regeln über Täterschaft und Teilnahme nicht anwenden wollte, wurden Massenmörder, wenn überhaupt, nur zu ein paar Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe verurteilt.
Aber die Justiz war lernfähig – sehr spät freilich, mit einer neuen Richtergeneration und an einem anderen Subjekt: Als es nach der Wiedervereinigung von 1990 darum ging, nicht mehr die gesamtdeutsche NS-Vergangenheit, sondern speziell die DDR-Vergangenheit aufzuarbeiten, da war auf einmal alles möglich, was vorher nicht möglich gewesen war: Nun wurden auch Schreibtischtäter als Täter und nicht mehr nur als Gehilfen angeklagt und verurteilt. Nun war auch der Tatbestand der Rechtsbeugung auf einmal anwendbar: Ehemalige DDR-Richter wurden sehr wohl wegen Rechtsbeugung verurteilt. Gegen einen NS-Richter war der bundesdeutschen Justiz hingegen ein rechtskräftiges Urteil wegen Rechtsbeugung niemals gelungen; selbst die Richter des so genannten Volksgerichtshofs waren der Strafe entgangen.
DDR klinkte such aus der gesamtdeutschen Haftung aus
Während die frühe Bundesrepublik vor der Vergangenheit in die Gegenwart des Wirtschaftswunders flüchtete, flüchtete die DDR vor einer oft bedrückenden Gegenwart in die Geschichte. An der Seite des östlichen Befreiers, der Sowjetunion, fühlte man sich nämlich wie ein Sieger; das Thema Flucht und Vertreibung wurde daher komplett umgangen. Die DDR klinkte sich aus der gesamtschuldnerisch-deutschen Haftung für die NS-Vergangenheit aus, setzte den Widerstand gegen Hitler und den Sieg über das Dritte Reich als moralisches Kapital ein. Die DDR nahm für sich in Anspruch, „der braunen Vergangenheit energischer entgegengetreten zu sein und deren Restbestände durchschlagender bereinigt zu haben als der westliche Nachbar“, wie ihr dies der frühere israelische Botschafter in Bonn, Yohanan Meroz, 1986 attestierte.
Das hatte anfangs auch wirklich gestimmt – bis der staatlich verordnete Antifaschismus zum heroisch-hohlen Ritual wurde. Die SED erklärte einfach mit der Abschaffung des Monopolkapitals die Wurzel des braunen Übels für ausgerottet. Nach der Wiedervereinigung musste man freilich erleben, dass der angeblich ausgerottete Rassismus und der angeblich ausgerottete Antisemitismus nur tief überwintert hatten – und nun, in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und anderswo, gewalttätige Urständ feierten; Neonazis konnten „ausländerfreie Zonen“ proklamieren. Und die Westdeutschen, die angewidert in den Osten zeigten, vergaßen darüber nur zu gerne die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien auch in der alten Bundesrepublik.
Erinnerungsflut macht sich an dem Jahr 1945 fest
Die Betrachtung der ersten Phase bundesdeutscher Vergangenheitspolitik ist nicht nur deswegen so erregend, weil sie so empörend ist. Sie ist es auch deswegen, weil bestimmte Kennzeichen von damals heute, in der Erinnerungsflut zu den Jahrestagen des Kriegsendes, wiederzukehren scheinen – nämlich die Konzentration aufs eigene Schicksal und das Erschaudern am Leid des eigenen Volkes. Der Fokus des kritischen Interesses, so hat der Zeithistoriker Norbert Frei das formuliert, „verlagert sich von 1933 auf 1945“. Die Geschichte des Nazi-Reiches zerlegt sich derzeit in Tausende Einzelerinnerungen, welche die heute Achtzigjährigen wie ihr Testament verfasst haben.
Eigene Leiden wurde zum Posten in der Aufrechnung der Vergangenheit
Im Zentrum der Erinnerung von heute stehen nicht die Opfer der deutschen Verbrechen, sondern die deutschen Opfer von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung. Diese eigenen Opfer boten vor 50 Jahren den Westdeutschen die Möglichkeit, zu versichern, dass sie ermessen könnten, was andere erlitten haben – da sie ja selbst nicht weniger gelitten hätten. Die eigenen Verluste, die nationalen Leiden, waren Posten in der großen Bilanz zur Aufrechnung der Vergangenheit. Hans-Christoph Seebohm, Adenauers Verkehrsminister von der Deutschen Partei, hatte das damals so gesagt:
„Die Methoden, die seitens der nationalsozialistischen Führung gegen die Juden angewandt wurden, und die wir aufs Erbitterteste verurteilen, stehen durchaus den Methoden zur Seite, die gegen die deutschen Heimatvertriebenen angewandt worden sind.“
Gibt es heute eine Seebohmisierung der Vergangenheit? Zwischen Seebohm und heute liegen Jahrzehnte der angestrengten und anstrengenden Vergangenheitsbewältigung, dazwischen liegen der Auschwitz-Prozess von 1963, der Kniefall von Kanzler Willy Brandt vor dem Ehrenmal des jüdischen Gettos in Warschau von 1970, das Verjährungsaufhebungsgesetz von 1979, die Befreiungs-Rede Richard von Weizsäckers von 1985 und das Holocaust-Mahnmal von 2005; hier bleibt freilich anzumerken, dass die Aufhebung der Verjährung 1979 nicht nur für NS-Morde, sondern für alle Morde galt und gilt. Die Massenmörder der Konzentrationslager wurden also damals dem normalen Mörder gleichgestellt, die NS-Verbrechen wurden in den allgemeinen Mord hinein nivelliert – ein Vorgang, dessen Kern einige Jahre später im so genannten Historikerstreit wieder auftauchte.
Zwischen Seebohm und heute liegen viele Jahre, in denen die vielen Defizite der Vergangenheitsbewältigung eingestanden wurden und in denen nachgeholt wurde, was noch nachholbar war: 1991 hat das Bundessozialgericht angeordnet, dass Hinterbliebene der Soldaten, die von der NS-Militärjustiz wegen „Fahnenflucht“ oder „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet wurden, eine Entschädigung zu bekommen haben. Bis dahin waren die Opfer der Militärjustiz schlechter gestellt gewesen als zum Beispiel die Angehörigen der Waffen-SS. 1995 hat der Bundesgerichtshof ein Geständnis abgelegt und sich von seiner bisherigen Rechtsprechung distanziert:
„Eine Vielzahl ehemaliger NS-Richter hätte wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zu Verantwortung gezogen werden müssen.“
Die eigene Täterschaft ist im Gedächtnis angekommen
Zwischen Seebohm und heute liegen Schindlers Liste und die Entschädigung der Zwangsarbeiter, die Rehabilitierung von verurteilten Widerstandskämpfern, die Anerkennung der zwangssterilisierten Frauen, der Homosexuellen und der Euthanasie-Geschädigten als NS-Opfer. Die Achtundsechziger-Generation hat ihre Eltern geschüttelt. Eine Wehrmachtsausstellung ist heftig diskutiert, geschlossen und wieder eröffnet worden.
Die eigene Täterschaft ist im historischen Gedächtnis der Deutschen angekommen – und aufgenommen worden. Sie ist verankert in Berlin, im Zentrum der Hauptstadt, sie spricht aus jeder Stele des Holocaust-Mahnmals. Daran werden Neonazi-Abgeordnete nichts ändern, wenn sie sich in einem Landtag einer Gedenkminute für Auschwitz lärmend verweigern. Daran können auch literarische Krebsgänge nichts ändern, selbst wenn sie es wollten. „Daher kann“, meint Wolfgang Sofsky, „die Erinnerung an die eigenen Opfer getrost zurückkehren“. – Getrost? Getrost nur dann, wenn diese Rückkehr nicht als der Weg in die Befreiung von eigener Schuld verstanden wird.
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Mit freundlicher Genehmigung entnommen: „Die letzten 50 Tage. 1945 – Als der Krieg zu Ende ging“, hg. von Joachim Käppner und Robert Probst, Süddeutsche Zeitung / Edition, 2005