Erinnerungen des Sohnes an den Vater Ludwig Siebert, bayerischer NS-Ministerpräsident und immer noch der Namensgeber einer Straße in Rothenburg, wo er einst Bürgermeister war

NS-Ministerpräsident Ludwig Siebert in Rothenburg ob der Tauber

NS-Ministerpräsident Ludwig Siebert in Rothenburg ob der Tauber

W. St. – Eine Vorbemerkung zu den 1958 geschriebenen und hier wörtlich in Auszügen wiedergegebenen Erinnerungen des Rothenburger Abiturienten, späteren Juristen und Verwaltungsbeamten Dr. Friedrich Siebert (1903-1966) an seinen 1942 verstorbenen Vater ist deshalb notwendig, weil beide, Vater und Sohn, nationalsozialistisch waren. Seine Erinnerungen sollen seinen Vater entlasten und suggerieren, dass wohl alle anderen höheren Amtsträger Nationalsozialisten, Karrieristen und Dilettanten waren, sein Vater aber nicht. Er beurteilt dies nicht nur aus der Warte des Sohnes, dem man einiges Verständnis entgegenbringen könnte, sondern auch aus der eines ehemaligen SS-Oberführers, der im Krieg in der deutschen Verwaltung in Krakau (Polen) tätig war (Spezialabteilung Innere Verwaltung), nach dem Krieg an Polen ausgeliefert und 1948 zu dort zu einer zwölfjährigen Haft verurteilt worden war. 1956 wurde er begnadigt und entlassen. Ein Ermittlungsverfahren in der Bundesrepublik gegen ihn wurde in den 1960er-Jahren eingestellt. Nach seiner Haftentlassung lebte er bis zu seinem Tod 1966 in Prien am Chiemsee, wo er ab 1960 zweiter ehrenamtlicher Bürgermeister war. Erster Bürgermeister war Adolf von Bomhard, früherer SS-Gruppenführer und General der Polizei in der Ukraine, der auch Ehrenbürger von Prien war. Er starb 1976. Erst 2013 distanzierte sich der Gemeinderat von dieser Ehrenbürgerschaft.

Der Sohn: Dr. Friedrich Siebert in Krakau

Der Sohn: Dr. Friedrich Siebert in Krakau

Der Sohn schreibt kein Wort über die Judenverfolgung im Amtsbereich seines Vaters und von den anderen Gräueln und rühmt seinen Vater, der sich im Gegensatz zu Gauleitern und anderen sich stets an Recht und Gesetze gehalten hatte. Allerdings waren dies die unmenschlichen Gesetze des NS-Regimes. Vater und Sohn Siebert traten schon 1931 in die NSDAP ein. Sein Vater auch in die SA, in der er es zum Obergruppenführer brachte und im Reichsarbeitsdienst zum Ehrengauführer. In seinen Erinnerungen sieht der Sohn im „späten“ Zeitpunkt des Eintritts seines Vaters in die NSDAP ein Indiz für Ablehnung. Tatsächlich zählten beide Sieberts zu den „Alten Kämpfern“, wie man die NSDAPler nannte, die der Partei schon vor der so genannten Machtergreifung 1933 beigetreten waren.

Der Sohn relativiert die politische Tätigkeit seines Vaters, der Träger des Goldenen Parteiabzeichens war. Wenn auch Ludwig Siebert selbst keine Verbrechen begangen haben mochte, hat er den Verbrechen der Nazis Tür und Tor geöffnet, war von Amts wegen verstrickt, was postum durch das Entnazifizierungsverfahren dokumentiert wurde. Der Vater besuchte schon 1933 das KZ Dachau und lobte es gegenüber Himmler als „Mustergefangenenlager“. Die zehnseitige Originalschrift des Sohnes ist mit Schreibmaschine geschrieben und handschriftlich mit Ort, Datum und Unterschrift versehen. Hier ist der Auszug veröffentlicht, in dem sich Friedrich Siebert mit seinem Vater befasst. Im anderen Teil der Erinnerung schreibt er über das angespannte Verhältnis zwischen den Gauleitungen und den staatlichen Regierungsstellen, die von seinem Vater vertreten wurden (siehe darüber „Erinnerung des Sohnes an den Vater, den bayerischen NS-Ministerpräsidenten Ludwig Siebert: Sie geben Einblicke in das intrigante Konkurrenzverhältnis von Staat und Partei“ sowie diverse Artikel über Ludwig Siebert und Dr. Friedrich Siebert in dieser Online-Dokumentation). Warum der Sohn diese Erinnerungen aufzeichnete und sie dem Institut für Zeitgeschichte in München überließ, ist nicht bekannt.

Das Manuskript

„Folgende Erinnerungen aus der Zeit der Tätigkeit meines Vaters als bayerischer Ministerpräsident und aus meiner Tätig­keit  in den – allerdings nur noch ein Schattendasein führenden – bayerischen Ministerien für Wirtschaft und Finanzen während der letzten Kriegsjahre können keine grundlegenden Neuigkeiten bringen. Bayerische Politik gab es seit der Machtergreifung nicht mehr. Die Entmachtung der Länder erfolgte ohne Beteiligung meines Vaters. Einfluss auf die große Politik stand ihm um so weniger zu, als er nicht zu den vertrauten und alten Mit­streitern Hitlers gehörte, war er doch erst 1931 zur NSDAP gestoßen. Bayerischer Ministerpräsident geworden, jedoch ohne Parteiamt, wurde er von den reinen Parteileuten misstrauisch beobachtet. Sie waren bis auf wenige Ausnahmen wirtschaftlich und beruf1ich nicht fundiert gewesen, als sie sich plötzlich in starke Machtpositionen versetzt sahen. So fremdelten sie gegen­über einem, der es schon vorher zu etwas gebracht hatte. Dazu kam, dass mein Vater von Anfang an auch in seinem neuen Amt den Grundsätzen nicht untreu wurde, denen er jahrzehntelang gehul­digt hatte. Solche konservative Gesinnung war indessen wenig beliebt und fand im Wesentlichen nur bei Männern, die aus der Beamtenlaufbahn gekommen waren oder bei einem alten Soldaten wie Epp, Anklang.

Reichsstatthalter Ritter von Epp (re.) und NS-Reichsleiter Martin Bormann in München

Reichsstatthalter Ritter von Epp (re.) und NS-Reichsleiter Martin Bormann in München

[Franz-Xaver Ritter von Epp, 1868-1946, 1928 NSDAP, 1933 Reichsstatthalter Bayern in München.] Man muss nur den frenetischen Beifall gehört haben, den die Worte aus Hitlers Proklamation auf einem der Parteitage hervorrief, als er den Primat der Partei gegenüber dem Staat verkündete, um zu begreifen, wie sehr die Masse der gehobenen Parteifunktionäre im Gegensatz zu altbewährten Traditionen stand. Wenn Vater sich schließlich doch durchzusetzen vermochte, so verdankte er dies neben seiner Persönlichkeit auch einer gewissen Scheu ahnungsloser Emporkömmlinge vor dem Wissen und der Leistung eines altgedienten und bewähr­ten Beamten. Da ich als Sohn des Vaters nicht frei erscheinen mag von der Möglichkeit einer subjektiven Beurteilung des Ministerpräsidenten Siebert, mögen Abschriften von Briefen verschiedenster Persönlichkeiten, und zwar vornehmlich nicht parteigebundener, meine Anschauung unterstreichen.

Adolf Hitler war gegenüber Ludwig Siebert befangen

Das Verhältnis meines Vaters zu Adolf Hitler war lose. Abgesehen davon, dass er verhältnismäßig spät der Partei beitrat, war er durch seine Tätigkeit als Oberbürgermeister an zuhause gebunden. Lediglich während der Landtagssaison – er gehörte dem Landtag seit 1931 an – weilte er in München. Erst während dieser Zeit lernte er Hitler kennen.

Adolf Hitler

Adolf Hitler

Aus den Erzählungen Vaters hörte ich immer wieder die Klage, dass er das Gefühl habe, dass Hitler ihm gegenüber eine gewisse Befangenheit nicht überwand, so dass beide miteinander nicht recht warm wurden. Außerdem erwies sich Hitler von Anfang an als ein sehr ungeduldiger Zuhörer. Weilte Vater zum Vortrag bei ihm, so hörte er sich gewöhnlich nur die einleitenden Sätze an, um irgendein Stichwort benützend, die Unterhaltung an sich zu reißen und lebhaft über Themen zu sprechen, die ihm besonders lagen, vor allem über den Ausbau Münchens. Er leugnete seine Uninteressiertheit an Fragen der Innenpolitik keineswegs und wies immer wieder darauf hin, dass ihn die Außenpolitik und Wehrhaftmachung Deutschlands mehr beschäftigten, als die Ordnung der inneren Verhältnisse. Erst nach der Wieder­herstellung der Position Deutschlands im Rahmen der Völker habe er Zeit, sich Verwaltungsfragen zuzuwenden. Als Vater einmal die sachlichen Schwierigkeiten streifte, die zwischen ihm und dem Gauleiter Adolf Wagner aufgetaucht waren, tat Hitler diesen Hinweis mit der Bemerkung ab: „Sie müssen aber doch zugeben, dass er ein treuer Mensch ist. Er hat Augen wie ein Hund.“ Hatte sich Hitler geärgert, so machte er kein Hehl daraus. So zog er einmal in unwilligen Tönen über das Auswärtige Amt los, wobei er betonte, Neurath [Außenminister] und seine Männer könnten ihm gestohlen bleiben, er brauche sie nicht.

In München mehr bayerische als Hakenkreuzfahnen

Der, wie es zunächst schien, sich von Monat zu Monat bessernde Kontakt zwischen Vater und Hitler erlitt nach einem Jahr einen fühlbaren Rückschlag. Die bayerische Staatsregierung hatte zur Begehung des einjährigen Jubiläums ihres Bestehens eine Veran­staltung in der Ausstellungshalle arrangiert, zu der die Spitzen der bayerischen Beamtenschaft entboten waren. Hitler hatte sein Erscheinen zugesagt und kam auch. Bei der Begrüßung erklärte er aber plötzlich, nur wenig Zeit zu haben, so dass der Rechenschaftsbericht Vaters stark gekürzt werden musste. Während seines Vortrags fiel mir die Unruhe Hitlers auf, der sich mit seinem Nachbarn unterhielt und hin und her rutschte. Schließlich hielt er eine kurze Ansprache. Hinterher hörte Vater, dass Hitler stark verstimmt gewesen war, weil im Ausstellungspark mehr bayerische Fahnen als Hakenkreuzfahnen wehten, Es dauerte geraume Zeit, bis die Voreingenommenheit gewichen war. Inzwischen war jedoch die bayerische Eigenstaatlichkeit so stark ausgehöhlt worden, dass größere staatliche Probleme nicht mehr zur Debatte standen.

SA-Stabchef Ernst Röhm wurde 1934 auf Befehl Hitlers ermordet

SA-Stabchef Ernst Röhm wurde 1934 auf Befehl Hitlers ermordet

Sohn: Vater war wenig beliebt bei der SA

Nach den Ereignissen, die dem „Röhm-Putsch“ folgten – sie traten so überraschend ein, dass  Vater erst die Meinung Hitlers einholen musste, ob er einen für den Abend des 30. Juni 1934 vorgesehenen größeren Empfang abhalten könne oder nicht –, fragte Hitler Vater, ob er nicht  irgendetwas wisse, was als Bestätigung für den versuchten Verrat Röhms gelten könne. Wenn ich mich recht erinnere, erklärte Vater daraufhin, es sei ihm aufgefallen, dass Röhm, der bekanntlich bayerischer Staatssekretär war, kurz vorher ihn gefragt habe, ob er sich auf Vater unter allen Umständen fest verlassen könne. Hitler ersuchte, diesen Vorgang schriftlich zu fixieren und ihm zu übermitteln. Tatsache ist übrigens, dass um diese Zeit sowohl Epp wie Vater bei der SA wenig beliebt waren, Sie galten als zu wenig re­volutionär. Im Café „Luitpold“ grölten SA-Trupps:  „Weg mit Epp, weg mit Siebert.“ Ich selbst war eines Tages Gast meines Vaters bei einer „Einladung, an der auch Epp und Hitler teilnah­men. Plötzlich fing der Adjutant Röhms, der in meiner Nähe saß und wahrscheinlich zu viel Wein getrunken hatte, an, deutlich auf meinen Vater und Röhm zu schimpfen. Er meinte, es sei hohe Zeit, dass beide verschwänden. Die Situation war für mich peinlich genug. Auf dringendes Ersuchen der um mich sitzenden Referenten aus der Staatskanzlei unterließ ich es aber, sofort Lärm zu schlagen. Erst nach Aufhebung der Tafel berichtete ich Vater, was sich ereignet hatte.

Bayerische Regierung wurde stark ausgehöhlt

Typisch für Hitlers Mentalität war sein Verhalten bei der letzten Rücksprache, die Vater im Jahre 1941 in Berlin mit ihm hatte. Es ging um die deutsche Akademie. Hitler zeigte sich bereit, ihr die Eigenschaft einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu verleihen, um sodann sich über die deutsche Schrift auszulassen. Etwa eine halbe Stunde lang dozierte er Vater vor, dass die gotische Schrift unter jüdischem Einfluss entstanden sei und schon aus diesem Grunde abgelehnt werden müsse. Gegenargumente der deutschen Akademie, die über Bormann ihm zuge­sandt wurden, fanden keine Berücksichtigung [siehe Artikel „Die jahrelang im NS-Reich verwendete gotische Fraktur-Schrift war plötzlich jüdisch…“ in dieser Online-Dokumentation].

1945 musste die Ludwig-Siebert-Straße auf Befehl der Amerikaner umbenannt werden; 1955 wurde sie wieder so benannt - bis heute

1945 musste die Ludwig-Siebert-Straße auf Befehl der Amerikaner umbenannt werden; 1955 benannte der Rothenburger Stadtrat die Straße wieder nach dem Nazi. Sie heißt heute noch so! Foto: Oliver Gußmann

Die Aushöhlung der bayerischen Regierung bereitete Vater viel Kummer. Traditionsgebunden wie er war, empfand er es schmerzlich, dass man eine Institution wie den Landtag Knall und Fall auflöste und „ohne Begräbnis 1. Klasse“ nach Hause schickte. Trotz der sichtbar entgegengesetzt laufenden Entwicklung hatte er die Hoffnung, noch mancherlei retten zu können. Noch im Krieg überzeugte er Funk [Reichswirtschaftsminister] davon, dass Bayern seit mehr als einem Jahrhundert gewachsenes Wirtschaftsgebiet sei, das man nicht ohne Schädigung der gesamten Wirtschaft in einzelne Gauwirtschaftskammern aufgliedern dürfe. Aber kaum war Vater tot, stürzte sich das Reichswirtschaftsministerium auf seinen Nachfolger und setzte die Errichtung von Kammern in jedem Gau durch. Vater betonte immer, es sei seine Pflicht lange zu leben, denn solange er da sei, werde Bayern nicht aufgeteilt. Aus seiner Verwurzelung mit Bayern heraus, stand er auch der beabsichtig­ten Berufung zum Reichswirtschaftsminister (Hitler sprach mit ihm darüber vor der Ernennung Funks) skeptisch gegenüber. Interessant ist, dass sich Hitler noch 1944 – entgegen den Absich­ten des Reichsinnenministeriums – dafür entschied, dass die bayerischen Ministerien erhalten bleiben sollen. Worauf diese Entscheidung zurückzuführen war, weiß ich nicht. Vielleicht spielte die Rücksicht auf Epp eine gewisse Rolle.

Während des Kriegs mit Hitler nur noch wenig Kontakt

Freilich gab es auch Stunden, wo Vater resignierte. In ihnen meinte er, es wäre zweckmäßiger, die Auflösung Bayerns mit einem Federstrich zu beschließen, als „den Pferdeschwanz Stück für Stück abzuhacken“. – Während des Krieges kam Vater mit Hitler, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nur noch bei repräsentativen Veranstaltungen, wie am 9. 11., an Weihnachten und am 30. Januar zusammen. Wur­den Fragen aktuell, die auf das Interesse Hitlers stoßen konn­ten, so wurde über Bormann angefragt und die Meinung Hitlers eingeholt. […] Das Bestreben Vaters, die Autorität des Staates gegenüber der Partei aufrecht zu erhalten, brachte ihn begreiflicherweise in Differenzen mit Parteidienststellen, vor allen Dingen mit den bayerischen Gauleitern und mit so manchem Reichsleiter. […] Das Kruzifixverbot rief übrigens den größten Unwillen Vaters hervor, zumal derartige Erlasse einem ausdrücklichen Führerbefehl widersprachen. Er schrieb an Wagner einen Brief, in dem er sich bitter darüber beschwerte, dass er eine solche Entschei­dung ohne seine Verständigung getroffen habe. […]“ (Handschriftlich: Prien, den 4. 3. 58)

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Quelle: Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (ifz); www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-1623.pdf
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