Von Gertrud Schubart
Zu den eindrücklichsten und nachhaltigsten Schuljahren innerhalb der acht Volksschulklassen, die ich in Rothenburg durchlief, gehören die fünfte und sechste Klasse, die ich im Probst’schen Schulhaus hinter mich brachte. Gut war es, dass meine Schulkameraden und ich die ersten vier Jahre die Lehrer Nagel und Kallert hatten, letzterer war ein sehr väterlich gütiger Lehrer, den wir allesamt respektierten und liebten. Dies darf nicht unerwähnt bleiben, denn was nachfolgte, war eine absolut neue Erfahrung.
1938 wurden die beiden Konfessionen – evangelisch und katholisch – zu einer Gemeinschaftsschule zusammengefasst. Somit erhielten wir die erste katholische Lehrkraft, Herrn Lehrer Braun. Wir wechselten auch von der Luitpoldschule in das Probst’sche Schulhaus (heutiges Jugendzentrum in der Deutschherrngasse).
Lehrer Braun, wie wir bald merkten, konnte aus geringem Anlass in Zorn geraten und war darüber hinaus sehr launisch. Wir duckten uns. Er war ein hundertfünfzigprozentiger Parteigenosse, der uns die hohen Ideale von Führer und Vaterland eintrichterte. Die erste Schulstunde am Morgen begann bereits mit dem neuen Ideengut, das von nun an das christliche Gebet ersetzen sollte. Zu hehrer Rede standen wir neben der Schulbank mit erhobenem Arm und grüßten unseren „geliebten Führer“ mit Baldur von Schirachs schwülstigen Morgenspruch:
„Herrgott, du hast uns einen Mann gesandt
mit starkem Herzen und fester Hand,
du schenktest ihm den reinen Flammengeist,
der uns aus Todesnot zum Lichte reißt.
Schütz ihn vor Feigheit und vor Hinterlist,
erhalt ihn uns, weil er dein Werkzeug ist.“
Ein anderes Bruchstück ähnlicher Reimerei ist bei mir ebenfalls hängen geblieben. Es lautet: „Wer sich nicht selber helfen kann, den hilft auch Gott im Himmel nicht!“ Dieses Gedankengut widerstrebte mir sehr, denn ich war christlich erzogen worden. Die Gemeindejugend erfuhr damals einen unglaublichen Zulauf, weil sie von einer hochtalentierten, temperamentvollen Diakonisse geleitet wurde. Dort fühlte ich mich wohl.
Mit zehn Jahren ein „Jungmädel“ in Uniform
Unser Selbstbewusstsein wuchs ab zehn Jahren. Jetzt wurden wir wichtig genommen. In einer Aufnahmefeier zu den „Jungmädel“ bzw. zum „Jungvolk“ gelobten wir dem Dritten Reich Liebe und Treue. Eine braune Kletterweste, eine weiße kurzärmelige Bluse, die auf dem Ärmel ein kleines schwarzes Dreieck trug mit der Aufschrift „Mittelfranken“. Sie sollte vermitteln, aus welcher Ecke des Landes wir stammten. Ein schwarzes Halstuch, der dazugehörende braune Lederknoten und ein dunkelbrauner Rock vervollständigten die Kleiderordnung. Die Uniform schloss uns zusammen in der „Schaft“ und die Pimpfe im „Fähnlein“. Erscheinen zum Appell und zum „Dienst“ war Pflicht! War es Zeit dorthin zu gehen, sagten wir: „I gäh zun Dienst!“ oder „I gäh in Dienst!“
„Du bist nichts, dein Volk ist alles!“
Wir bekamen in den folgenden Jahren bei der Lehrkraft Braun viel von den großen Aufgaben, die wir Jungmädel bzw. Pimpfe im Jungvolk zu erfüllen hatten, zu hören. Viele Schlagworte wie „Führer befiehl, wir folgen dir!“ oder „Du bist nichts! Dein Volk ist alles!“ Übrigens das Plural S wie bei Jungemädel(s) oder Jungen(s) durfte nicht angewendet werden. Es galt als undeutsch und war im Deutsch-Aufsatz ein Fehler. Fremdwörter waren im höchsten Grade verpönt. Wir nahmen die Sprüche, die Führer- und Fahnenlieder mit kindlicher Gläubigkeit hin und sangen:
„Alle stehen wir verbunden unter unserer Fahne Schein,
da wir uns als Volk gefunden, steht nicht einer mehr allein!“
Eingewöhnt in den braunen Kader schmetterten wir:
„Ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit,
reißt die Fahnen höher, Kameraden,
wir fühlen nahen unsere Zeit,
die Zeit der jungen Soldaten…“
Es gab viele solche macht- und kraftvollen Texte, die uns – das junge Volk – mitrissen. Ich könnte ein Dutzend benennen! Als Geleitwort stand in einem unserer Liederbücher, dass in der deutschen Jugend das Singen und Musizieren von Anfang an als große verantwortungsvolle erzieherische Aufgabe gesehen wird. Was wurde uns alles beigebracht!
„Deutschland, heiliges Wort, du voll Unendlichkeit, über die Zeiten fort, selbst du gebenedeit, heilig deine Seen, heilig dein Wald…“
Politische Erziehung und im Gleichschritt marschieren
Doch zurück zu Lehrer Braun. Er spielte jeden Sonntag in der St. Johanniskirche zum Gottesdienst die Orgel. Wie aber passte dieses Amt mit unserer politischen Erziehung zusammen? In etwa: „Wer sich nicht selber helfen kann, dem hilft auch Gott im Himmel nicht!“ Stolz und überzeugt steckte unser Herr Lehrer gar oft in der braunen Uniform! Wir Jungmädel hatten unseren wöchentlichen Treffpunkt im Fleischhaus am Marktplatz und auch im Burgturm. Da war politische Erziehung angesagt. Dort lernten wir unsere anfeuernden Kampfgesänge. Wir sangen aber auch Volks- und Scherzlieder. Auf dem „Kuhbuck“ (das ist jenseits der Tauber in der Nähe der Bronnenmühle) lernten wir den „Gleichschritt“, rechts um, links um, Abteilung halt! Stundenlang. Ich sehe die Formation noch sehr gut vor mir. Wir erlebten eine Freizeit oder Rüsttage im „Grafenbau“ in Wildbad Burgbernheim. Wir lernten altes Volksgut, die Runen, das Morsen, trieben Geländespiele, radelten, spielten Theater und tanzten fröhlich ausgelassen Volkstänze.
Wir sangen und überlegten nicht, was wir sangen
Die Führer des Regimes wussten, wie man uns junge Menschen anpacken musste, um aus uns die „Garanten der Zukunft“ zu schmieden. Die Lieder und ihre Aussagen verrieten, was die Zukunft vorsah: „Nach Ostland geht unser Ritt!“, „In den Ostwind hebt die Fahnen, denn im Ostwind steh’n sie gut…“ Wir sangen und überlegten nicht, was wir da sangen. Welcher Ernst hinter den Worten stand! Wir waren doch noch Kinder! Wenn die Kampfgesänge aus Tausenden von jungen Kehlen erschallten, waren sie eine Initialzündung, wie auf den Reichsparteitagen in Nürnberg. Nicht alle Eltern billigten das Liedgut. Doch war geboten, seine Meinung nicht zu äußern. Unter Umständen mussten sie Repressalien befürchten.
Wen nimmt es wunder, dass wir alle an der Synagoge nahe der Franziskanerkirche standen und „Juden raus!“ brüllten? Wer von den Eltern hätte seinen Sprösslingen bieten können: Reitsport, Segelsport, Motorsport, Boxsport, einen Handharmonikaklub und andere Gliederungen? Wir „Kampfgefährten“ wurden im NS-Staat gestählt mit den Begriffen Pflichtbewusstsein, Kameradschaft, unbedingter Gehorsam, Opferbereitschaft, Volksgemeinschaft, Hilfsbereitschaft. Wir sangen ja auch:
„Heilig Vaterland in Gefahren, deine Söhne sich um dich scharen, von Gefahr umringt, heilig Vaterland, alle stehen wir Hand in Hand.“
Herz und Haupt dem Vaterland geweiht
Unsere Abschlussfeier der Jahrgänge 1926/27 aller drei Volksschulklassen des Jakobsschulhauses fand am 31. März 1941 im Musiksaal statt. Geschilderte Bekenntnisse zum Vaterland und dessen ruhmreiches Wirken sollten uns helfen, Freude und Mut zu gewissen und sie beide weiterzutragen. Robert Fr., ein guter Sprecher, deklamierte von der Bühne herab: „In allen Zonen ruhen die Gebeine, kein Trost der Mütter war bei ihnen!“ Die folgenden erhabenen und hehren Worte weiß ich nicht mehr. Welch ein Abgesang! Ganz bestimmt schmetterten wir:
„Nur der Freiheit gehört unser Leben, lasst die Fahnen dem Wind, einer stehet dem andern daneben, aufgeboten wir sind! Freiheit ist das Feuer, ist der helle Schein, solang wir noch leben, ist die Welt nicht klein!“
Mit dieser Versicherung und Garantie hat man uns entlassen. Viele unserer Klassenkameraden fielen und „weihten ihre Wehr und Waffen, Herz und Haupt dem Vaterland“.
Junge Frauen von „Glaube und Schönheit“ tanzten in der Alten Burg
Wir Vierzehnjährigen traten über zum Bund deutscher Mädel (BDM), dem wir vier weitere Jahre angehören sollten. Im Alter von 18 Jahren nannten sich die Mädel dann „Glaube und Schönheit“. Ich habe sie noch in wallenden stilvollen weißen Kleidern in unserer Alten Burg auf der Rasenfläche tanzen sehen. Nach wiederum vier Jahren schloss sich die NS-Frauenschaft an. Die Pimpfe des Jungvolks wechselten in die Hitlerjugend, danach in den Reichsarbeitsdienst und schließlich in die verschiedensten Einheiten des Militärs.