Euthanasie IV: Der Rothenburger geistig behinderte Junge Bernhard, neun Jahre, kam 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Bruckberg. Ein Jahr darauf war er tot

Brief Löhes an Adolf Hirler mit er Bitte, geistig behinderte Menschen zu verschonen

Brief Löhes an Adolf Hirler mit er Bitte, geistig behinderte Menschen zu verschonen (siehe Text)

Von Wolf Stegemann

Wie viele Rothenburger Euthanasiefälle es zwischen 1933 und 1945 gab, ist derzeit nicht bekannt. Doch es gibt im Nürnberger Staatsarchiv (Außenstelle Lichtenau), im Archiv der Diakonie Neuendettelsau sowie in der Bibliothek des Bezirkskrankenhauses Ansbach Akten darüber, die noch eingesehen werden. Im Rothenburger Sterbe-Hauptregister ist der Tod eines 49-jährigen Rothenburgers beurkundet, der am 25. Mai 1940 in der Wohnung seiner Eltern in der Rödergasse starb. Todesursache: „Schwachsinn, Nervenentzündung mit teilweiser Lähmung, Lungenentzündung.“ Dies teilte der Vormund und Prokurator des Verstorbenen, Hans Ehnes, dem Standesamt mit.
Der folgende dokumentierte Euthanasiefall eines Rothenburger Kindes wurde uns über das Stadtarchiv zur Auswertung und Veröffentlichung in „Rothenburg unterm Hakenkreuz“ herangetragen. Dafür danken wir herzlich und wünschen uns, dass noch mehr Familien dazu den Mut haben. Die Namen des Kindes und seiner Eltern sind von uns durch Falschnamen ersetzt, um die in diesem Fall notwendige Anonymität zu wahren. Übereinstimmung mit Personen gleichen Namens wäre rein zufällig.

Zur Begutachtung ins Staatliche Bezirksgesundheitsamt Rothenburg

NS-Plakat

NS-Plakat

Ludwig und Sophie Bachmayer, die in der Nähe der Stadtmauer zwischen Kummereck und Klingentor wohnten, wurde in der ersten Hälfte des Jahres 1932 in Rothenburg ein Junge geboren, den sie Bernhard nannten. Die Freude darüber wich der Sorge, als die Ärzte feststellten, dass das Kind behindert war. Es litt an „Idiotie“, ein damaliger Fachbegriff, in diesem Fall medizinisch auch „angeborener Schwachsinn“ genannt. Das Kind lebte im Haus der Eltern, wurde von der Mutter gepflegt und geliebt, der Vater war Kraftfahrer. So wuchs das behinderte Kind in einer Familie auf, die es mit Liebe behütete.
Dieses beschützte Leben des Kindes, das mittlerweile zum Jungen herangewachsen war, änderte sich 1939. Im Zuge der staatlich angeordneten Vernichtung von „lebensunwertem Leben“ (T4-Aktion) mussten die Eltern mit ihrem siebenjährigen Bernhard am 30. November 1939 im Staatlichen Gesundheitsamt Rothenburg erscheinen, damit der berüchtigte „Aerztliche Fragebogen“ für die „Begutachtung“ als Grundlage der späteren geheimen Tötung angelegt werden konnte. 15 Fragen mit ebenso vielen Unterfragen mussten beantwortet werden.

„Stört die Haushaltsführung und Erziehung der Geschwister“

Festgehalten wurde, dass der Onkel des Kindes „in der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen gewesen“ war, dass der kleine Bernhard „bildungsunfähig“ und Beschäftigungsversuche „vergeblich“ seien, das Kind im ersten Lebensjahr „mit Krämpfen“ aufgefallen war und dass die Krankheit wohl angeboren sei. Im Untersuchungsbefund beschreibt der Bezirksarzt (Unterschrift unleserlich) den körperlichen Zustand des Kindes: „Spricht fast nicht, kann erst seit einem halben Jahr gehen, nicht reinlich, schmiert, Anfälle.“ In der Spalte „Psychischer Zustand“ steht: „kein“. Weiter bescheinigt der Arzt dem Kind Unruhe, Unfolgsamkeit, Bösartigkeit, Zerstörungstrieb. Bei den Fragen Geisteskrank? Geistesschwach? und Schwachsinnig?/Blöd?“ steht jeweils ein Ja. Dann kommt der Arzt zum Ergebnis, dass dies alles „keine Alterserscheinung“ sei, sondern ein „ausgesprochenes Leiden“ und beim Grund, warum das Kind in die Anstalt verbracht werden soll, steht: „Stört die Haushaltsführung und die Erziehung seiner drei Geschwister“! Diese sind Erika (9), Gudrun (5) und Helmut (1 Monat). Für die Bezahlung des Heimaufenthalts kam der Landesfürsorgeverband Oberfranken und Mittelfranken auf.

Ärztliche Diagnosen waren Todesurteile

Daraufhin unterschrieben die Eltern ihr Einverständnis, dass ihr Kind in die Pflegeanstalt Bruckberg oder Polsingen zu den „ihnen bekannten Aufnahmebedingungen“ eingeliefert werde. Dekan Jelden vom Evangelisch-lutherischen Pfarramt St. Jakob in Rothenburg nahm sich der Familie an. Er schrieb am 5. März 1940 an die Leitung der Anstalt Bruckberg einen Brief:

„Wie mir mitgeteilt wurde, sind alle Vorbereitungen zur Aufnahme des blöden Kindes Bachmayer gemacht worden, auch alle Fragen der Bezahlung geregelt. Nun aber sei die Nachricht gekommen, dass kein Bett vorhanden sei… Die Wohnverhältnisse bei Bachmayers sind unhaltbar. Solange aber das Kind da ist, haben sie keine Aussicht auf eine Besserung… Ich bitte daher recht dringlich, hier zu helfen durch Aufnahme des Kindes. Der Augenschein des Notstande ruft um Erbarmen.“

NS-Propaganda für Euthanasie

NS-Propaganda für Euthanasie

Zehn Tage später wurde das Kind in der Anstalt Bruckberg, die mit Polsingen zur Evangelischen Anstalt Neuendettelsau gehörte, aufgenommen. Die Bruckberger Verwaltung informierte am 16. März 1940 das städtische Wohlfahrtsamt Rothenburg ob der Tauber über die Einlieferung des Jungen. Ein halbes Jahr später, am 7. August 1940, untersuchte die Anstaltsärztin Frl. Dr. Bruckmüller den Jungen, die ihn nach Aufzählung seiner körperlichen Schwächen als „hochgradig schwachsinnig“ einstuft. Solche ärztliche Diagnosen waren seit September 1939 Todesurteile.
Vorerst blieb Bernhard Bachmayer in der Anstalt. Das Kreiswohlfahrtsamt Rothenburg ob der Tauber schrieb aber am 31. Januar 1941 an die Anstalt Bruckberg, dass es die Zahlung der Unterbringung im Heim nicht länger leisten werde:

„Bei dem Alter des Jungen genügt Unterringung in einer Familie bei sorgsamer Privatpflege. In einigen Jahren wird man dann jedoch die Sache neuerdings unter dem Gesichtspunkt der Gemeingefährlichkeit zu prüfen haben.“

Das Rothenburger Kreiswohlfahrtsamt teilte sodann der Familie Bachmayer in Rothenburg mit, dass sie ihr „Kind in den nächsten Tagen von der Anstalt wegnehmen und in ihre Familie aufnehmen“ müsse. Wie die Familie darauf reagierte, ist nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass der Junge nicht abgeholt, sondern am 15. März 1941 nach Polsingen verlegt wurde, wo er am 14. April 1941 starb. Vermutlich wurde er im Rahmen des Vernichtungsprogramms entweder zu Tode gespritzt oder in einem der grauen T4-Busse vergast. Das Sterben des Neunjährigen ist auf seinem „Personalbogen“ mit „Austritt“ vermerkt, hinter dem handschriftlichen Datum 14. 4. 41 steht ein kleines gemaltes Kreuz.

TRansport-Busse in der Filiale Bruckberg

Transport-Busse in der Filiale Bruckberg

Heinrich Löhe schickte die Busse wieder weg

Wie solche Bus-Transporte in andere Anstalten – und somit in den Tod –  stattfanden, berichte Heinrich Löhe, der im Heimaturlaub zufällig Augenzeuge wurde. Löhe war der Urenkel des Gründers der Neuendettelsauer Heil- und Pflegeanstalten, zu denen die Anstalt Bruckberg und Polsingen als Filialen gehörten:

„Im Frühjahr 1941 erfuhr ich von Nachbarn, dass am Schloss drei Omnibusse vorgefahren sind, um kranke Pfleglinge abzuholen. Es war am Vormittag gegen 9 Uhr. Die Busfahrer mussten aber noch warten, bis die ,braunen Herren’ mit den vorbereiteten Listen eingetroffen sind. Ich machte mich sofort auf den Weg zu den Kraftfahrzeugen… und ging auf die Fahrer zu und erklärte ihnen: ,Meine Herren, heute werden keine Kranken abtransportiert, bitte fahren Sie nach Hause!’ Die Fahrer schauten mich etwas verdutzt an… und kopfschüttelnd fuhren sie wieder weg. … Inzwischen traf ich auch Schwester Sybille mit Schwester Eva und erzählte, was sich vorhin abspielte.
Nachdem die ,braunen Herren’ nach ca. 1 Stunde noch nicht da waren, ging ich nach Hause. Nach 11 Uhr erfuhr ich dann, dass inzwischen die ,braunen Herren’ mit 2 PKW da waren. Bei Befragen an der Pforte erfuhren sie nur, dass die Omnibusse wieder weggefahren seien… Die Herren gingen zum Telefon und sprachen mit dem Omnibusunternehmern und fragten nach den Fahrzeugen. Als Antwort hörten sie, dass ,Jemand’ gekommen sei und sehr bestimmt erklärt hätte, dass heute keine Kranken abgeholt werden…
Die Herren schimpften furchtbar vor sich hin über diese ernste Sabotage… Beim Wegfahren erklärten sie noch, dass dieser Sache nachgegangen werden muss und das ,Abholen’ auf nächste Woche verlegt würde. … In der darauffolgenden Woche wurden dann die Abtransporte durchgeführt, aber diesmal waren die ,braunen Herren’ überpünktlich! Insgesamt wurden in Polsingen ca. 190 Pfleglinge abgeholt.“

Der heutige Pfarrer Reinhold Hertle aus Polsingen fand vor kurzem in den Kirchenbüchern den Beerdigungseintrag des Rothenburger Jungen Bernhard Bachmayer. Darin steht der 14. April 1941 als Tag des Todes und der 16. April als Tag der Beisetzung auf dem Anstaltsfriedhof Polsingen, die der damalige Geistliche Neuberth vornahm. Zu dieser Zeit war der Vater des kleinen Bernhard irgendwo an der Front. Wie die Mutter und die Geschwister in  Rothenburg die Nachricht vom Tod ihres Sohnes und Bruders aufgenommen haben, ist nicht bekannt.

Mutiger Brief Wunibald Löhes an Hitler, die Tötungen einzustellen

Wunibald Löhe

Wunibald Löhe

Wunibald Löhe, Sohn des Gründers der Neuendettelsauer Heil- und Pflegeanstalten und  Vater des oben erwähnten Augenzeugen Heinrich Löhe, schrieb am 19. Dezember 1940 an Adolf Hitler einen Brief, in dem er ihn auf Gerüchte aufmerksam machte, dass Kranke in Staatsautos umgebracht wurden. Warum er diesen Mut aufbrachte, ist nicht bekannt. Vielleicht trifft auf ihn der Glaube zu, dass Adolf Hitler, der Anstifter alles Übels und Mordens, von all den schrecklichen Dingen nichts wusste, woraus dann landauf landab der einfältige Satz entstand. „Wenn das der Führer wüsste!“ Doch Wunibald Löhe setzte den Führer mutig in Kenntnis:

„Euer Exzellenz! Hochgebietender Herr Reichskanzler! … Die Nachrichten, die über die auf kriegswirtschaftliche Erwägungen gestützten Maßregeln bezüglich vieler Insassen solcher Anstalten neuerdings verbreitet sind, ließen mich … erschaudern, als ich heute Morgen sah, wie ein großes Personenauto mit schätzungsweise 30 Frauen und Mädchen besetzt von der Anstalt her durch das Dorf fuhr. Sofortige Erkundung ergab, dass tatsächlich über 30 Pfleglinge durch Auto in die Heil- und Pflegeanstalt des Staates oder des Regierungsbezirks Schwaben in Günzburg an der Donau gebracht wurden. Von dort wurden sie dann nach der weithin verbreiteten Ansicht in eine weit entfernte Anstalt verbracht, um dort nach einiger Zeit zu sterben.
Inwieweit Sie, Herr Reichskanzler, von dem Umfang und den Einzelheiten dieser Dinge Kenntnis haben, weiß ich nicht. Aber ich bitte Eure Exzellenz inständigst, diese Polsinger Pfleglinge alsbald wieder hierher bringen zu lassen und dem ganzen Vorgehen gegen solche Kranke gütigst sofort ein Ende zu machen.
Gott, der Ihnen zumal in den letzten … Jahren so ungeheures Gelingen gab, wird es Ihnen lohnen und Millionen Deutscher werden Ihnen dafür dankbar sein. ER hat uns auch seit Jahren trotz der Sorgen erwartender Witterungen dieser Jahre soviel Nahrung wachsen lassen, dass wir deswegen nicht in Nahrungsnot geraten werden.
Alle diese hiesigen Pfleglinge sind zum Vertrauen auf Gott und zum größten Zutrauen zu Ihrer Führung von den Schwestern erzogen worden. Sie, diese Kranken, gehören auch zum deutschen Volk, zum großen Reich des Friedens, der Wohlfahrt und Kultur, das Sie, Herr Reichskanzler, aufbauen wollen.
Wohl weiß ich, welche Folgen eine ungnädige Aufnahme dieser meiner Bitte für mich und meiner Familie haben kann, d. h. für meine Frau und drei Doppelkriegswaisen, die wir nach dem Heldentod ihres leiblichen Vaters adoptiert und aufgezogen haben und jetzt als Feldgraue unter den Waffen stehen. Ich sehe es aber als meine Pflicht gegenüber Gott und gegen Sie, Herr Reichskanzler, und gegen mein Volk an und gegen diese kranken Volksgenossen, diese Bitte gleichwohl zu wiederholen… In der Hoffnung und auf ein gutes Gehör schließt mit Sieg und Heil Ihr gehorsamster Wunibald Löhe, ehemaliger Bezirksamtmann.“

Es ist nicht bekannt, wie und ob seine Exzellenz auf dieses eindringliche Schreiben reagiert hat. Vermutlich überhaupt nicht. Zum Glück des Absenders und seiner Familie!

Zur Sache: Die Behindertenheime Bruckberg und Roslingen sind Filialen der Neuendettelsauer Diakonissenanstalt (Diakonie Neuendettelsaus). Gründer der damals und in den folgenden Jahrzehnten offiziell noch bezeichneten „Blödenanstalt“ war 1854 Wilhelm Löhe, dessen Familie stark mit der Anstalt verbunden blieb. In den Jahren 1940/41 wurden aus den Neuendettelsauer Anstalten im Rahmen des „Euthanasie“-Programms von etwa 1.700 Pfleglingen rund 1.200 in die staatlichen Heil- und Pflegeanstalten (Grafeneck, Hartheim bei Linz u. a.) zur Vernichtung abtransportiert. Die Anstalt Bruckberg wurde verstaatlicht, dort ein Landverschickungsheim für Kinder eingerichtet, 1942 von der Wehrmacht als Lazarett verwendet, ab 1945 von den Amerikanern. 1946 wurde die Anstalt an die Diakonie Neuendettelsau zurückgegeben.

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Quellen: Schriftliche Auskunft eines Familienmitglieds der Bachmayers (Aliasname) nach Akteneinsicht im Archiv der Neuendettelsauer Diakonie. – Auskunft Pfarrer Reinhold Hertle aus Polsingen an das Familienmitglied. – Literaturhinweis: Christine-Ruth Müller / Hans-Ludwig Siemen: „Warum sie sterben mussten. Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im ,Dritten Reich’, 2. durchgesehene Auflage Neustadt/Aisch 1992.

 

 

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Ein Kommentar zu Euthanasie IV: Der Rothenburger geistig behinderte Junge Bernhard, neun Jahre, kam 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Bruckberg. Ein Jahr darauf war er tot

  1. Hans-Joachim Hoffmann sagt:

    Guten Morgen,
    in Verbindung mit der Umsetzung der Aktion Stolpersteine verfasse ich auch Biographien für Euthanasie-Opfer aus Ottweiler/Saar. Deshalb möchte ich anfragen, ob ich das Plakat “… denn Gott kann nicht wollen, dass..” unter Angabe der Quelle “Rothenburg unterm Hakenkreuz” verwenden darf. Evtl. können Sie mir auch mitteilen, ob dieses Plakat “Gemeinfrei” ist.
    Vielen dank für Ihre Mühen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Hans-Joachim Hoffmann, Adolf-Kolping-Weg 7, 66564 Ottweiler (06824-7990)

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