Von Wolf Stegemann
Zur Behebung des allerdringlichsten Bedarfs an Kleidungsstücken für Flüchtlinge und entlassene KZ-Gefangene wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit alle Art von Bekleidung, darunter auch Unterhosen, Strümpfe, Bettwäsche bei früheren NSDAP-Mitgliedern beschlagnahmt und an hilfsbedürftige Flüchtlinge verteilt. Zehn Jahre danach und teils noch später stellten die ehemaligen Nazi-Funktionäre bei den Gemeinden Schadenersatzansprüche für abgegebene Wäsche. Dabei gab es auch eine Reihe von Zivilprozessen. Die Gemeinden waren für Regressansprüche nicht zuständig, sondern der bayerische Staat. Dieser prüfte die Rechtsgrundlage in aufwändigen Rechtsgutachten und stellte fest, dass „Haftungsansprüche der von der Ablieferungsaktion Betroffenen gemäß Art. 125 Abs. 1 Satz 2 des Bayer. Ausführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (AGBGB) vom 9. Juni 1899 inzwischen erloschen seien“.
Allerdings mochte sich das Bayerische Oberste Landgericht dieser für den bayerischen Staat günstige Rechtsauslegung nicht anschließen und verschob die Verjährungsfrist bei diesen Regressansprüchen aus formalen Gründen von 1955 auf das Jahr 1958, da Ansprüche eigentlich erst ab 1955 gestellt werden konnten. Darüber gingen dann die unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu diesem Urteil in bürokratischen Schriftsätzen durch das ganze Land. Daran beteiligt waren u. a. Gemeinden und Landratsämter, gleich mehrere bayerische Staatsministerien sowie der Bayerische Städteverband und natürlich auch die Medien. Die 2. Zivilkammer des Landgerichts Coburg befasste sich beispielsweise im Februar 1957 damit, ob ein Kläger nun für seine Unterhosen den Anspruch auf „Geldsummenforderung“ hat oder auf „Geldwertforderung“. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass dies unerheblich sei und setzte die Verjährungsfrist rückwirkend auf 1950 fest. Die Verwirrung für Rathäuser und Landratsämter war erheblich, zumal der Stadtverband dieses Urteil nicht als generell rechtsverbindlich ansah und die Gemeinden darauf hinwies.
In dieser verwirrenden Rechtslage erreichte das Rothenburger Rathaus am 27. April 1955 ein Schreiben der früheren Rothenburger Einwohnerin Emilie Meißner geborene Strauß, Gattin des damaligen Rothenburger NS-Landrats Simon Karl Wilhelm Meißner, der bei der Beschlagnahme im Rothenburger Gefängnis saß und 1951 von Rothenburg nach München verzog. Der Familie wurden 1945 Wäschestücke weggenommen, die sie im Schreiben an den Oberbürgermeister Dr. Lauterbach, der selbst ein führendes NSDAP-Mitglied von 1933 bis 1945 (Bürgermeister von Oggersheim) gewesen war, detailliert mit Entschädigungssummen aufführte: Couvertdecke mit Wollfüllung 80 DM, Kopfkissen 30 DM, Überzug 5 DM, Herrenhemd, Herrenunterhose, Paar Socken, Damenhemdhose, Damenschlüpfhose, Paar Damenstümpfe, Kinderhemdhose, Kinderschlupfhose, Paar Kinderstrümpfe für zusammen 30 DM. Die gesamte Summe betrug demnach 145 DM. Das Geld sollte auf ein Konto bei der Städtischen Sparkasse München überweisen werden.
Oberbürgermeister Erich Lauterbach antwortete am 20. Mai 1955, dass es noch nicht feststehe, ob die Gemeinden zu einer Entschädigungszahlung verpflichtet seien. Das Bayerische Staatsministerium des Inneren befasse sich derzeit mit dieser Frage. „Wir bedauern daher, Ihrem Antrag nicht entsprechen zu können.“ Emilie Meißner ließ nicht locker. Drei Jahre später schrieb sie am 26. Juni 1959 erneut die Stadtverwaltung an, weil sie in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen habe, dass das Oberlandesgericht Nürnberg-Fürth ein Urteil erlassen habe, das entgegen der Anordnung des Landes Bayern, den 1945 durch Wegnahme von Kleidung geschädigten früheren NSDAP-Mitgliedern die Wäsche zu ersetzen sei. Emilie Meißner forderte die Stadt erneut auf, ihr die 145 DM zu überweisen. Oberbürgermeister Lauterbach lehnte das am 1. August erneut ab:
„Auf Ihr Schreiben vom 21. Juni 1958 müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass die Stadt Rothenburg ob der Tauber nicht in der Lage ist, die von Ihnen geforderte Entschädigung zu bezahlen. Es besteht bis jetzt noch keine ministerielle Verfügung, wonach die Gemeinden verpflichtet sind, entsprechende Entschädigung zu bezahlen. Vielleicht dürfte es Sie auch interessieren, dass Ihr Antrag der einzige Antrag ist, der bei der Stadt Rothenburg gestellt wurde.
Dies ist der letzte Brief in der Verwaltungsakte „Entschädigungs-Ansprüche ehem. Mitglieder der NSDAP“. Offensichtlich hat Emilie Meißner die 145 DM nie bekommen.
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Quellen: Stadtarchiv Rothenburg ob der Tauber, Akte 060-6 N und H. – Auskunft Frau Müller vom Einwohnermeldeamt Rothenburg ob der Tauber am 11. Mai 2015 (Meldekartei)