Von Wolf Stegemann
Eine neue und bessere Existenz zu finden, war fast immer der Grund für Auswanderungen, als Deutsche nach Russland, nach Rumänien und ab dem 19. Jahrhundert nach Nord- und Südamerika auswanderten. Nur in nationalsozialistischer Zeit stand es mit der Auswanderung anders. Da kamen viele ausgewanderte Deutsche zurück, um den neuen Staat Deutschland mit aufzubauen. Dafür sorgte die Auslandsorganisation der NSDAP. Wenn ihr die Heimholung nicht gelang, versuchte sie, mit den Auslandsdeutschen nationalsozialistisches Gedankengut zu exportieren. Auslandsdeutsche nannte man die im Ausland lebenden deutschen Staatsbürger im Gegensatz zu den Volksdeutschen im Ausland ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Dann gab es im nationalsozialistischen Deutschland die gezwungene Auswanderung der Juden. Anfangs wurde deren Auswanderung vom Staat „gefördert“ und später unter Zwang organisiert, um Deutschland zu „entjuden“, wobei die Juden einen nicht unerheblichen Teil ihres Vermögens in Deutschland lassen mussten. Die Reichsstelle für Auswanderung beriet die Juden über mögliche Zielländer, in die sie auswandern konnten. 1941 wurde aber ein generelles Auswanderungsverbot für Juden verhängt und sie zur Ermordung in Todeslager gebracht.
Der Trümmerlandschaft Deutschlands entkommen
Der deutsche Staat hatte aber nicht nur das Leben der Juden in Deutschland und im besetzten Europa zerstört, sondern durch den Zweiten Weltkrieg auch die Lebensgrundlagen von Millionen nichtjüdischen Menschen – darunter Displaced Persons, Flüchtlingen, Vertriebenen, Umgesiedelten, Kriegsgefangenen und Ausgebombten. Auswanderung erschien vielen nach dem Krieg als der Weg aus der Trümmerlandschaft Europas. In den anderthalb Jahrzehnten zwischen 1946 und 1961 gingen insgesamt 780.000 Deutsche nach Übersee. 385.000 hatten die Vereinigten Staaten als Ziel, 235.000 Kanada und 80.000 Australien. Weitere 80.000 Deutsche zog es in „sonstige“ Länder. Das war die stärkste Auswanderungsbewegung aus Deutschland im 20. Jahrhundert. Auch in Rothenburg ob der Tauber wurden etliche Übersee-Koffer gepackt. So schrieb am 14. Juni 1952 der „Fränkische Anzeiger“ in Rothenburg:
„Wie nach jedem Kriege, so haben auch in den letzten Jahren wieder zahllose deutsche Menschen dem alten Kontinent den Rücken gekehrt, um in der Hoffnung auf bessere Existenzmöglichkeiten nach überseeischen Ländern auszuwandern. Infolge des starken Interesses sind die von den einzelnen Ländern festgesetzten Quoten sehr schnell erfüllt worden, so dass die Auswanderung heuer zum Erliegen gekommen ist. Es ist daher interessant festzustellen, dass im letzten Jahre nahezu 150 Personen, und zwar vornehmlich nach USA ausgewandert sind. Zur Zeit befinden sich im Landkreis noch rund 100 Personen, die einer solchen Auswanderung den Vorzug geben würden; im allgemeinen ist jedoch festzustellen, dass seit dem Beginn der Umsiedlungsaktion (Verteilung der Flüchtlingen aus dem Osten) ein merklicher Rückgang in der Zahl der Auswanderungswilligen zu verzeichnen war.“
Gleichzeitig wurde in der Zeitung festgestellt, dass Rothenburg einen ständigen Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen hatte. Denn mit dem Beginn der Umsiedlungsaktion, der Verteilung von Ost-Flüchtlingen vom Landkreis in andere Bundesländer, konnten die Stadt und der Kreis vor allem aus wirtschaftlichen Gründen aufatmen. Dazu die Lokalzeitung:
„Es ist ein natürlicher Vorgang, wenn die Menschen, denen sich in unserem industriearmen Heimatgebiet keine Existenzmöglichkeiten bieten, in industriereiche Gegenden mit ihren vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten auswandern.“
Elf Millionen Displaced Persons wurde aus Deutschland verbracht
Unmittelbar nach Kriegsende bis Mitte 1949 blieben die Auswanderungsmöglichkeiten für Deutsche aufgrund von Regelungen der alliierten Besatzer zunächst noch sehr beschränkt und galten nur für Ehepartner und Kinder ausländischer Staatsangehöriger bzw. anerkannte Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes. Das waren im wesentlichen Displaced Persons (DPs), deren Auswanderung aus Deutschland internationale Hilfsorganisationen ermöglichten. Zu den DPs gehörten ehemalige Zwangsarbeiter in der deutschen Kriegswirtschaft, die überwiegend aus Osteuropa stammten, und heimatlos gewordene befreite jüdische KZ-Überlebende. Von den insgesamt gezählten elf Millionen DPs aus 20 Nationalitäten gelangte der größte Teil noch im Jahre 1945 in ihre Heimatländer zurück. Über ein international abgestimmtes Aufnahmeprogramm konnten zwischen 1947 und 1951 mehr als 700.000 DPs aus den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands bzw. der Bundesrepublik Deutschland auswandern. Wichtigstes Ziel waren die USA sowie Australien und Kanada. In Rothenburg und Umgebung gab es beispielsweise im Wildbad und in Burgbernheim DP-Lager, wo die Insassen auf ihre Auswanderung warteten.
In den ersten Nachkriegsjahren Auswanderungsmöglichkeiten beschränkt
Deutsche Auswanderungswillige fanden bis 1949 weltweit kaum ein Land, das deutsche Einwanderer aufgrund der brutalen Systematik, mit der Deutschland Europa verwüstet hatte, aufnehmen wollte. Deshalb blieb die Zahl der deutschen Übersee-Auswanderer zwischen 1945 und 1949 amtlich auf rund 32.000 beschränkt. Erst mit der Gründung der Bundesrepublik wurde die Auswanderung wieder freigegeben, und auch die wichtigsten Einwanderungsländer USA, Kanada und Australien zeigten sich bereit, die Einreise von Deutschen zu akzeptieren. Das war die Voraussetzung für den explosionsartigen Anstieg der Auswandererzahlen Anfang der 1950er-Jahre. Bis dahin waren innereuropäische Wanderungsziele für Deutsche wesentlich wichtiger gewesen. 180.000 deutsche Einwanderer zählten 1945 bis1952 die westeuropäischen Staaten, darunter vor allem Frankreich (75.000) und Großbritannien (52.000). Zahlreiche Anwerbekommissionen aus diesen Ländern, später aber auch aus Australien, Kanada und anderen Staaten, waren in den westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik tätig. Arbeitskräfte aus Westdeutschland, die gezielt entsprechend den Wünschen der jeweiligen Arbeitgeber angeworben wurden, sollten den Arbeitskräftemangel in den Anwerbeländern überwinden helfen.
US-Auswanderungs-Kommissionen informierte in der „Glocke“
Nach Aufhebung der Einwanderungsbeschränkung für Deutsche wurden von den US-Militärregierungen in größeren Städten amerikanische Auswanderungskommissionen eingerichtet, die dann durch die kleineren Städte und Landkreise zogen. Sie informierten über die Einwanderungsbedingungen, berieten die Auswanderungswilligen und nahmen Bewerbungen auf. Eine solche Auswanderungskommission unter Leitung eines Mr. Richeson lud Interessenten am 5. April 1951 in das Rothenburger Gasthaus „Zur Glocke“ ein. Vorbereitet wurde die Veranstaltung vom Flüchtlingsamt des Landsratsamts. Anderntags zog die US-Kommission nach Uffenheim weiter. In der „Glocke“ wurden an diesem Tag 58 Bewerbungen zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten aufgenommen. Vier aus der Stadt und 54 aus dem Kreis. Wer von den Auswanderungswilligen keine vollständigen Papiere dabei hatte, konnte diese anderntags bei einer ähnlichen Veranstaltung in Uffenheim nachreichen.
Nach den amerikanischen Einwanderungsgesetzen konnten Frauen und Männer zwischen 21 und 50 Jahren einwandern, die allerdings eine Bürgschaft benötigten. Diese Bürgschaft leistete die amerikanische Regierung für alle, welche die Bedingungen zur Einwanderung erfüllten: Das waren vor allem landwirtschaftliche Kräfte, Kesselschmiede, Blechschmiede, Maurer, Klempner, Köche. Ausgenommen waren Schneider, Schreiner, Steinmetze und Musiker. In Frage kamen Heimatvertriebene und Volksdeutsche, deren Vorfahren aus Deutschland stammten: Ungarn, Rumänen, Ost- und Westpreußen, Baltikum, Tschechoslowakei und Mark Brandenburg.
Freie Überfahrt von Deutschland zum Arbeitsplatz in die Vereinigten Staaten
Die von der Kommission Angenommenen erhielten freie Überfahrt vom Sitz ihres Wohnortes bis zum Ort ihres Arbeitseinsatzes in den USA. Sie kamen dort in kein Lager, sondern wurden nach ihrer Ausschiffung direkt zu ihrem Arbeitsort gebracht, wo sie in 95 Prozent aller Fälle ein Haus zur Vergütung gestellt bekamen. Sie erhielten keine Arbeitsverträge, die sie an einem bestimmten Platz gebunden hätten. Aus dem gesamten Bundesgebiet des Jahres 1951 wurden 547.000 Auswanderer zugelassen, die in sechs bis acht Wochen Bescheid erhielten, die dann die große Reise in ihre neue Heimat antreten konnten oder aber abgelehnt wurden.
Der politische und moralische Ruf der Auswanderer musste einwandfrei ein, wobei die Zugehörigkeit zur NSDAP oder einer ihrer Gliederungen im Gegensatz zu früheren Jahren, kein unbedingter Hinderungsgrund zur Auswanderung hier bzw. Einwanderung in die USA mehr war. Grundsätzlich ausgenommen waren allerdings ehemalige Angehörige der Gestapo und Kommunisten. Wert wurde darauf gelegt, dass auf diesem Wege keine Touristen ins Land kamen sondern Arbeitskräfte, welche die gestellten Bedingungen erfüllten. Jeder Auswanderer konnte 115 Kilogramm kostenlos mitnehmen, Verheiratete auch ihre Kinder; Alte und gebrechliche Angehörige aber nicht.
Wer von den Rothenburger Auswanderungswilligen bei dem Vorhaben blieb, in die USA zu gehen, dem wurden noch im Gasthaus „Zur Glocke“ von der Polizei Fingerabdrücke abgenommen, Fotos angefertigt und Fragebogen zum Ausfüllen gegeben. Diese Unterlagen wurden sodann an die CIC (Counter Intelligence Corps = US-militärische Spionageabwehr) zur Überprüfung weitergegeben.
Die Aus- und Einwanderung ist eine lange Geschichte
Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung in Deutschland betrachtet heute Einwanderer mit Skepsis und Abwehr, hält sie gar für eine bedrohliche, die Gesellschaftsordnung destabilisierende Gruppe – kurz: für ein Phänomen, das die „Normalität“ stört. Dabei war gerade auch für die Deutschen in den vergangenen 200 Jahren nichts normaler als Wanderungsbewegungen im großen Stil. Allein von 1955 bis 1986 suchte jährlich rund eine halbe Million Bundesbürger ihr Glück dauerhaft in einem anderen Land. Dazu der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger:
„Es ist rätselhaft, dass eine Bevölkerung, die innerhalb ihrer eigenen Lebenszeit solche Erfahrungen gemacht hat, unter dem Wahn leiden kann, sie hätte es, angesichts heutiger Wanderungen, mit etwas noch nie Dagewesenem zu tun.“
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Quellen: „Fränkischer Anzeiger vom 6. April 1952 und 14. Juni 1952. – Frank Brunssen: „Das neue Selbstverständnis der Berliner Republik“, Königshausen & Neumann, Würzburg 2005 (Zitat Enzensberger).