Von Wolf Stegemann
Ob der damals gerade 20-jährige SS-Leutnant sich in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft und anschließend im Internierungslager Regensburg Gedanken darüber gemacht hatte, ob sein Glaube an Hitler und den Nationalsozialismus sowie an die rassischen Ordensregeln der SS ein Überschäumen jugendlich-unreifer und unkorrigierter Vorstellungen war, für die er sich nach 1945 schämte, als er sich dem Wissen um das Mörderische des Regimes nicht mehr entziehen konnte? Keineswegs! Die Lektüre seiner rund 1.000 Briefe aus den Lagern an seine Verlobte gibt Aufschluss darüber, dass Fritz Gehringer festhielt an der SS-Kameradschaft und alles andere offenbar ausblendete. Ihr diente er in seiner Gedankenwelt in den Jahrzehnten nach dem Krieg genauso wie mit der Waffe an der Kriegsfront zuvor.
Karriere eines jugendlichen Nationalsozialisten
Der 1924 in Rothenburg geborene Fritz Gehringer besuchte von1931 bis 1935 die Volksschule, wechselte dann zu Oberschule, war seit 1933 Mitglied im Deutschen Jungvolks, machte dort Karriere bis zum Oberscharführer und trat als solcher in die Hitlerjugend ein, wurde Gefolgschaftsführer, kam als 18-Jähriger 1942 zum Reichsarbeitsdienst nach Neustadt/Tafelfichte, wurde Hilfsausbilder, trat aus der Kirche aus, wurde angeblich ohne sein Zutun in die NSDAP aufgenommen, wollte an die Front und bewarb sich bei der Luftwaffe, die ihn ablehnte. Da er aber unbedingt in den Krieg wollte, meldete sich Fritz Gehringer bei der Waffen-SS und wurde im Februar 1943 in das 4. SS-Gebirgsjäger-Ersatz-Btl. „Nord“ nach Trautenau im Sudetenland zur Rekrutenausbildung geschickt. Nach zwei Monaten kam der SS-Mann zum Einsatz an die Front nach Karelien-Nordfinnland. Von April bis September 1944 besuchte er die SS-Junkerschule in Klagenfurt und anschließend weitere Lehrgänge, wurde zum SS-Untersturmführer (Leutnant) befördert und kämpfte als Kompanieführer vom Januar bis März 1945 in den Vogesen, wurde schwer verwundet und von den Amerikanern gefangengenommen. Für Fritz Gehringer war der Krieg zu Ende, der ihm für sein Draufgängertum an den Fronten beide Klassen des Eisernen Kreuzes eingebracht hatte, das Infanterie-Sturmabzeichen in Silber, das Panzer-Vernichtungs-Abzeichen, das schwarze Verwundetenabzeichen sowie nach der schweren Verwundung und Kriegsgefangenschaft die Internierung als SS-Angehöriger. In seinem politischen Lebenslauf für die Spruchkammer im Internierungs- und Arbeitslager Regensburg schrieb er 1946:
„Von den Verbrechen und Grausamkeiten, die der SS im Nürnberger Prozess zur Last gelegt wurden, habe ich weder Kenntnis gehabt, noch war ich an Verbrechen beteiligt.“
Keine Auseinandersetzung mit der Gräueltaten des Regimes und der SS
Mit dieser Aussage schreibt Gehringer nicht, dass die SS Verbrechen und Grausamkeiten verübt habe, sondern davon, dass diese der SS zur Last gelegt wurden. Diese feine Unterscheidung passt zu seiner politischen Persönlichkeit über 1945 hinweg, wenn man die tausend Briefe liest, die er aus der Gefangenschaft bzw. dem Internierungslager seiner Braut und späteren Ehefrau geschrieben hat. „Für mich persönlich waren diese Jahre bis zum Untergang eine große Zeit“, schreibt er am 21. März 1946. Da schwärmt er von der SS-Kameradschaft, von den heutigen schlechten Menschen („Ach, die Menschen von heute sind schrecklich und schlecht“), von dem, was die Sieger den Deutschen antun, ist entsetzt, als in den Nürnberger Prozessen die SS zu einer verbrecherischen Organisation erklärt wurde und dadurch seine Internierung strenger gehandhabt wurde. Jetzt stünden doppelt so viele Wachen und Panzerspähwagen rund um das Lager als bewachten sie Verbrecher.
Als seine Braut in Vorausschau auf die Hochzeit nach der Entlassung ihn in einem Brief vorsichtig darauf aufmerksam machte, auf einem stillen Weg in die Kirche zurückfinden zu können, lehnt er dies ab, da es sein Wille gewesen war, auszutreten und dazu stehe er. „Nein, das kannst Du nicht von mir verlangen, und das würde ich auch nie tun!“ (6. September 1946). In der gesamten Korrespondenz zwischen ihm und seiner Rothenburger Braut zu dieser Zeit, die sein Sohn Bernhard 2015 als Buch „Die verschnürten Briefe“ veröffentlichte, ist keine Zeile von dem zu lesen, dass er sich Gedanken machte über die Verbrechen der Nationalsozialisten in der Heimat und in den besetzten Gebieten. Die verübten Morde der SS in den Konzentrationslagern kommen nicht vor geschweige denn das Wort „Jude“. Nichts dergleichen.
Aufgrund der Jugendamnestie aus der Internierung entlassen
Seine Mutter Margarete Gehringer schrieb am 9. September 1946 an die US-Militärregierung im Lager Regensburg ein Entlassungsgesuch für ihren Sohn. Darin wies sie auf den Umstand hin, dass Fritz ab neun Jahren in der Schule dem nationalsozialistischen Geist ausgesetzt gewesen war. An den Taten, die der SS allgemein vorgehalten werden, sei er aufgrund elterlicher Erziehung und nicht zuletzt wegen seiner idealistischen Lebensauffassung nicht beteiligt gewesen. Daher möge man ihn doch aufgrund der Jugendamnestie entlassen. Fritz Gehringer wurde nicht entlassen. Stattdessen absolvierte er im Lager in Vorausschau einer späteren Berufsausbildung eine „Bauschule“, die er mit dem Notendurchschnitt gut abschloss.
Als im Nürnberger Prozess die SS zu einer verbrecherischen Organisation erklärt wurde, verschlechterten sich im Internierungslager, was ihn zu zynischen Bemerkungen über die bewachenden Amerikaner in seinem Briefen anregte: „Die Ärmsten, wenn die wüssten, wie harmlos wir sind!“ So harmlos waren sie allerdings doch nicht, wie Massenausbrüche und dergleichen belegen. Im April 1947 wurde ihm die Klageschrift des Öffentlichen Klägers der Spruchkammer zugestellt.
„Nach dem festgestellten Sachverhalt und nach den Ermittlungen ist der Betroffene vermutbar Belasteter. … Sein Beitritt zum DJ (Jungvolk) und (zur) HJ, sowie zur SS erfolgte freiwillig. Seine Beförderung bei der SS erfolgten nach Besuch von Lehrgängen und bei Fronteinheiten… Da dem Betroffenen ein brutales oder verwerfliches Verhalten nicht nachgewiesen werden kann, stelle ich die Einstellung des Verfahrens der Kammer (Jugendamnestie) … anheim. … Ich beantrage die Anordnung eines schriftlichen Verfahrens.“
Die Spruchkammer des Internierungs- und Arbeitslagers Regensburg stellte das Verfahren unter Az G/51 gegen den „Schüler Fritz Gehringer auf Grund der Jugendamnestie vom 6. 8. 1946 im Sinne der Klageschrift ein. Der Betroffene gilt nunmehr als nicht mehr betroffen. Die Kosten des Verfahrens fallen der Staatskasse zur Last“. – Fritz Gehringer wurde nach zweijähriger Gefangenschaft bzw. Internierung am 28. April 1947 nach Hause entlassen – in die Arme seiner Braut Irmi, der er die vielen Briefe geschrieben hatte.
Als Bürgermeister noch 1981 stolz auf seine SS-Zugehörigkeit
Eigentlich wollte er sie erst nach dem „Endsieg“ heiraten. Die beiden heirateten 1948 auch ohne Endsieg. Fritz Gehringer wurde Volksschullehrer an der Topplerschule und Sportlehrer an der Mittelschule, war von 1955 bis 1977 Vorsitzender des Turnvereins 1861 und machte mit strammer Gesinnung für die FRV Kommunalpolitik im Stadtrat, wurde stellvertretender Bürgermeister. Als solcher begrüßte er namens der Stadt Kriegsveteranen bei einem Bundeskadettentreffen unter Schirmherrschaft des anwesenden Louis Ferdinand Prinz von Preußen Ende September 1981 in Rothenburg. Dabei war auch der frühere legendären Hitler-Panzergeneral Walther Wenck (12. Armee). Gehringer wollte dieser Elite als Bürgermeister der Kleinstadt Rothenburg mitteilen, dass auch er einer Elite angehörte, indem er sagte, dass er stolz sei, ebenfalls aus einer Eliteschule zu kommen. Gemeint war, wie sich schnell herumsprach, dass er die SS-Junkerschule Klagenfurt meinte. Dies brachte dem Volksschullehrer nicht nur negative Schlagzeilen ein, sondern auch eine Dienstaufsichtsbeschwerde und einen Rücktrittsantrag der SPD-Stadtratsfraktion. Beides ging für ihn positiv aus. Zu Fritz Gehringers starrem Festhalten schrieb sein Sohn Bernhard Gehringer in „Die verschnürten Briefe“:
„Eine Tendenz zum ungebrochenen Bekenntnis – Außenstehende würden von Glorifizierung sprechen – bezüglich der Werte Ehre, Treue und des Elitegedankens der Waffen-SS war unverkennbar.“
Ein Jahr vor seinem Tod nahm Fritz Gehringer 1995 an einem SS-Veteranentreffen der SS-Division „Nord“ zusammen mit US-amerikanischen Kriegsveteranen im Hunsrück teil, die im März 1945 gegeneinander kämpften. Bei Pfaffenheck besuchten sie den Gefallenenfriedhof und Fritz Gehringer ließ sich von einem US-Veteran an dem Baum fotografieren, an dem er am 16. März 1945 schwer verletzt wurde und in amerikanische Kriegsgefangenschaft kam. – Fritz Gehringer starb 1996, seine Frau 2005. Sein Sohn Bernhard Gehringer, Jahrgang 1948, setzte sich mit seinem Vater auseinander und veröffentlichte mehrere Bücher, darunter „Die verschnürten Briefe. Geschichte einer Jugendliebe“, Rapp Nürnberg 2015. – „Und dann will ich dein sein. Eine Spurensuche“, 2009.
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