Wer das Buch in die Hand nimmt, legt es so schnell nicht wieder weg. Es ist ein wissenschaftliches Werk mit einer Struktur, die man von Dissertationen und Studien kennt, deren Aufbau und Durchtextung nach einem akademisch vorgeschriebenen modus vivendi angelegt ist. „Schreiben in einem Elfenbeinturm“ sagen dazu auch akademische Kritiker und der unlängst verstorbene Historiker, Prof. Hans Mommsen, meinte sogar überspitzt, dass in manchen dieser Arbeiten in den Fußnoten oft die spannenderen Inhalte zu lesen seien. Fußnoten sind allerdings auch wichtig, wenn es um notwendige Erklärungen und Nachweise geht, die der Autor im Text selbst nicht unterbringen will. – Dem Rezensenten sei dieser kleine Einstieg erlaubt, denn Dr. Daniel Bauers Buch, seine Doktorarbeit aus dem Jahre 2013, mit dem Titel „Die nationalsozialistische Herrschaft in Stadt und Land Rothenburg ob der Tauber 1933-1945. Eine regionalgeschichtliche Untersuchung“, erschienen als Band 7 in der Geschichtsreihe „Bibliotheka Academica“ im Ergon-Verlag 2017, ist das Buch – wie eingangs vermerkt –, das der Leser nicht mehr aus der Hand legen wird, auch wenn einiges von dem eingangs Gesagten auch auf dieses Buch zutrifft. Und in die Hände werden es viele nehmen, denn der Verein Alt-Rothenburg hat eine Teilauflage als Jahresgabe für seine Mitglieder aufgekauft und mit einem eigenen Vorwort, genannt Grußwort, versehen. Auf 432 Seiten führt der Autor den Leser erst durch die strukturellen Grundlagen des politischen Zusammenhangs in der Stadt Rothenburg der 1920er-Jahre mit Wahlkämpfen und Saalschlachten, mit vorzeitig ausgeprägter nationalsozialistischer Gesinnungsmehrheit in der Stadt über die „Gleichschaltung“ und Etablierung der NS-Herrschaft ab 1933 bis hin zur Vereinnahmung allen Lebens in der Stadt und hin zum Krieg und dessen Folgen in der Zeit danach. Eine umfassende Forschungsarbeit, welche die Vielzahl der Seiten auch für die 15 Hauptkapitel benötigt und ihnen gerecht wird.
NS-Funktionäre manipulierten die Bevölkerung
Bauers Gliederung des Buches ist übersichtlich und dem politischen Geschehen vor Ort der Jahre vor der Diktatur bis zu deren Ende und darüber hinaus chronologisch angepasst. Immer wieder erschreckt es den Leser, der diese Zeit nicht kennt, wie die Nazi-Oberen in der Stadt mit Verdrehungen und Lügen die Bevölkerung über Vereine und die Lokalzeitung sowie die Jugend über die Schulen manipulierten. Und noch mehr erschreckt, wie die Manipulierten im wahrsten Sinne des Wortes fraglos naiv darauf reagierten. Für alle sichtbare öffentliche Gewalt durch Partei und Polizei, Sicherheitsdienst und Gerichte wurde hingenommen. Sie war aber auch ein Zeichen dafür, dass es in der Bevölkerung bemerkbaren Widerstand gegeben hat, wenn meist nur in despektierlichen Redensarten über Hitler und die Parteibonzen in Berlin. Die Denunziation blühte in Rothenburg. Für die Betroffenen führten solche Redensarten über die Sondergerichte ins Zuchthaus oder KZ, bestenfalls zu Geldstrafen. Daniel Bauer ließ kaum Themen aus, die zum urbanen Leben, Glauben, Arbeiten und zur Geselligkeit in einer Stadt zwischen 1933 und 1945 gehörten. Doch einige fehlen. Beispielsweise das Thema Euthanasie. Es gab in Rothenburg etwa 20 namentlich festgehaltene Euthanasie-Fälle. Auch auf die nationalsozialistischen Verstrickungen des in Rothenburg bedeutenden Vereins „Historisches Festspiel“ geht Bauer nicht näher ein. Vermutlich wegen Verstrickungen des Vereins in das Herrschaftssystem hält dieser sein Archiv gegenüber der zeitgeschichtlichen Forschung bis heute verschlossen. „Die nationalsozialistische Herrschaft in Stadt und Land Rothenburg ob der Tauber 1933-1945“ ist eine gute und ausführliche, wissenschaftlich belegte Chronologie, wie die menschenverachtende Politik und das gewalttätige Handeln des Nationalsozialismus erst möglich wurden. Auch durch starken Zuspruch der Bevölkerung.
Muss man 70 Jahre danach Mut haben, über die NS-Zeit zu schreiben?
Daniel Bauer hat sich mit seiner Arbeit – wie Joshua Hagen mit „Preservation, Tourism and Nationalism. The Jewel of the German Past“ (2006) und die Online-Dokumentation „Rothenburg unterm Hakenkreuz“ (seit 2014) – auf Spurensuche begeben und sie gesichert. Das war und ist wichtig, denn Spurensuche ist dann notwendig, wenn und wo die Fährte verlorenging. Die Fährte, die unverwischt durch die Geschichte einer Stadt und ihrer Menschen geht, trägt zur Identität bei. Identität findet man nicht im Verdrängen von möglicherweise unliebsamen Erinnerungen. Keine Stadt, keine Gemeinde darf von sich behaupten, sie habe die schlimmen Jahre des Nationalsozialismus „in Würde überstanden“. Gegen ein solch verharmlosendes Kurzzeitgedächtnis, das in Rothenburg da und dort auch heute noch festzustellen ist, auch von Mitgliedern des Vereins Alt-Rothenburg, richtet sich auch Daniel Bauers Buch. Das ist ein großes Verdienst des jungen Wissenschaftlers, der kein Rothenburger ist, sondern den Blick von außen auf Rothenburg hatte. Daher kann er auch nicht als „Nestbeschmutzer“ angesehen werden, wie der Vorsitzende des Vereins Alt-Rothenburg, Dr. Markus Naser, in seinem eingedruckten Grußwort befürchtet. Rothenburg ist nicht Bauers Nest. Nestbeschmutzer, wenn man diesen absonderlichen Ausdruck überhaupt verwenden will, sei der, wie Naser schreibt, der mit der Aufarbeitung der Nazi-Geschichte den „Ruhm der ehemaligen Reichsstadt nicht mehren“ kann. Daher beschreibt und bewundert der Vorsitzende des Vereins Alt-Rothenburg in seinem Grußwort Bauer wegen dessen Forschungsarbeit als „mutigen Mann“ und meint, dass das Thema NS-Zeit in Rothenburg vor Daniel Bauer „vielleicht sogar bewusst gemieden“ wurde. Da irrt Dr. Naser. Dieter Balb, bis zu seiner Pensionierung 2017 Chefredakteur des „Fränkischen Anzeigers“, hatte in den 1980er-Jahren in der Lokalzeitung erstmalig in mehreren seitenlangen Veröffentlichen die NS-Zeit dokumentiert. Joshua Hagen ebenfalls, beträchtlich umfangreicher. Nein, für die Dissertation über den Nationalsozialismus in Rothenburg, der eine solide Aktenarbeit in den Archiven vorausging, musste Daniel Bauer nicht mehr ein mutiger Mann sein, aber ein fleißiger, kluger und korrekter. Und das war er, wie seine Arbeit es zeigt. Mutig ist allerdings der Vorstand des Vereins Alt-Rothenburg, der es bisher geschafft hat, das Thema Nationalsozialismus in seinen Schriften möglichst zu vermeiden Lediglich um Teilbereiche hat sich der Verein bislang publizistisch gekümmert. Zum Beispiel in „Linde“-Artikeln (Beilage des „Fränkischen Anzeigers“) wurde mit den Themen Wirsching, Wildbad, Martin Schütz, Weigel, Siebert auf Rothenburgs Engagement für den Nationalsozialismus manchmal relativierend eingegangen. Bei Schriften über die Stadtbombardierung, die Einnahme durch Amerikaner, die schweren Nachkriegshungerjahre oder über den Wiederaufbau werden Stadt und ihre Bürger als Opfer und Notleidende des Nationalsozialismus dargestellt. – So ist Bauers Buch als Jahresgabe 2017 ein mutiger Schritt für den Verein Alt-Rothenburg. Dr. Markus Naser: „Wir sind uns dabei der Tatsache bewusst, dass nicht jeder Rothenburger über diese Entscheidung erfreut sein wird.“
Siehe auch: Joshua Hagens Buch über Rothenburgs Tourismus und die Verstrickung im Nationalsozialismus
Siehe auch: Dieter Balbs Artikelserie im „Fränkischen Anzeiger“ brachte 1983 erstmals Erkenntnisse über den Nationalsozialismus in Rothenburg – eine Pioniertat
Siehe auch: Der Verein Alt-Rothenburg tut sich immer noch schwer, seine Tätigkeit während der NS-Zeit zu erforschen und frei von Relativierungen zu veröffentlichen – dies täte Not
Siehe auch: Literatur zumThema