Welche aggressive Formen gibt es unter dem Begriff „Antisemitismus“? Die Rabbinerin D. Horvilleur gibt in ihrem Buch „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“ Auskunft

Rabbinerin, Journalistin und Buchautorin Delphine Horvilleur

Rezension von Oliver Gußmann

Noch ein Buch zum Thema Antisemitismus? Gegenwärtig scheint es nötig, dass man sich neu mit dieser Krankheit befasst. Die liberale Rabbinerin und Autorin Delphine Horvilleur wirft einen Blick aus jüdischer Sicht auf bislang wenig beachtete Facetten des Antisemitismus. Sie folgt den Spuren und Reaktionen, die Judenhasser in der jüdischen Literatur hinterlassen haben, in der Hebräischen Bibel, im Talmud und in der Midraschliteratur. Antisemitismus ist der Gegenstand ihres Nachdenkens, wobei sie auch „Judenhass“ und „Antijudaismus“ dazurechnet, obwohl der Begriff „Antisemitismus“ erst im 19. Jahrhundert entstanden ist.

Die Autorin Delphine Horvilleur ist eine bekannte Rabbinerin der jüdisch-liberalen Bewegung in Frankreich und Chefredakteurin des Magazins „Tenou’a“, das sich mit dem jüdischen Glauben aus liberaler Sicht, aber auch mit Themen wie Homosexualität, Feminismus, Umwelt- und Migrationspolitik befasst. Sie erhielt ihre Ausbildung zur Rabbinerin am Hebrew Union College in New York. Studiert hat sie außerdem Medizin und Journalismus und war für das französische Fernsehen in New York City und in Israel tätig. Horvilleur hat ihr Buch dem Gedenken ihrer „zugleich über- und unterlebenden Großeltern“ gewidmet sowie den „Mädchen von Birkenau“, der französischen Politikerin Simone Veil (1927-2017) und der Filmemacherin Marceline Loridan-Ivens (1928-2018). Die Letztere inspirierte die Autorin zu diesem Buch (Foto: Titelseite). Es ist ungemein anregend und trotz der komplexen Thematik flüssig zu lesen, wozu auch die gelungene Übersetzung aus dem Französischen von Nicola Denis beiträgt.
Doch was ist „Antisemitismus“ eigentlich? Der grundlegende Unterschied zwischen Antisemitismus und anderen Rassismen besteht nach Horvilleur darin, dass Juden für etwas gehasst oder beneidet werden, was sie vermeintlich haben (Macht, Geld, Privilegien oder Ehrungen), während andere Rassismen Menschen dafür hassen, was sie nicht haben (weiße Hautfarbe etc.). Hinzu kommen paradoxe Eigenschaften des Antisemitismus: Das Leben, aber auch das Leiden der Juden ist unverwüstlich. Ihren Hassern gelingt es einfach nicht, die Juden auszurotten. Deshalb werden Juden, so Horvilleur ironisch, für die Ehre gehasst, eine tränenreiche Vergangenheit gehabt zu haben. Außerdem sind die Anklagen gegen Juden widersprüchlich: Sie seien reich einerseits, lägen andererseits aber auch der Nation auf der Tasche. Sie würden sich einerseits unter die Nationen mischen wollen, andererseits wollten sie aber immer auch endogam leben.

In der Hebräischen Bibel: Bruch mit der jüdischen Identität

In der Hebräischen Bibel werden Juden zunächst nicht „Juden“, sondern „Hebräer“ (Ivri) oder „Kinder Israels“ genannt. Erst im Buch Esther sind „Juden“ eine kollektive Identität, ein Volk. Vorher, beim Aufbruch Abrahams oder beim Auszug aus Ägypten, geht es um einen Bruch mit der Identität und um einen Bruch mit der Herkunft. Der Vorwurf des Widersachers Haman im Estherbuch ist alt: Die Juden sind ein Volk, das sich von anderen absondert und sich nicht an die Gesetze des Landes hält (Esther 3,8). Der klassische Name für den Verfolger in der jüdischen Tradition ist Amalek, dessen Name wörtlich „der kein Volk hat“ bedeutet. Die Amalekiter überfielen nach dem Auszug aus Ägypten die Hebräer. Amaleks Name wurde für Juden zum Synonym für weitere Verfolger wie die Kreuzfahrer, die Inquisitoren, die Nazis. „Amalek“ ist für Juden die Reinkarnation des Hassers, der das Hassgefühl über die Generationen hinweg weitergibt.

In fünf Kapiteln entfaltet Horvilleur Leitmotive des Antisemitismus

Im ersten Kapitel interpretiert sie den Antisemitismus als Familienrivalität. Der Hass entspringt der gleichen „Matrix“ wie sein Gegenstand: Die beiden Brüder Jakob und Esau stehen mit ihrem Bruderzwist für die Rivalität von zwei Archetypen. Eine Mischung aus Zivilisationskonflikt und Geschlechterkrieg ist erkennbar: Zum einen geht es dabei um Eifersucht in der Familie, um die Rivalität zwischen Brüdern, von der sich der Hasserfüllte nicht zu erholen vermag. Zum anderen hat Esau männliche Attribute und Jakob weibliche Attribute, womit das Thema Geschlechterkampf und Antisemitismus berührt ist, denn Antisemiten haben Juden oft als listig, weibisch oder hysterisch bezeichnet.

Beziehung zwischen Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit

Im zweiten Kapitel „Antisemitismus als Zivilisationskampf“ legt Horvilleur eine geradezu tiefenpsychologische Interpretation eines Textes aus dem Talmud vor (Avoda Sara 10b). Dieser erzählt von der erstaunlichen Beziehung zwischen dem Kaiser Antoninus und Rabbi Juda. Der Talmudtext denkt auf ironische Weise über einen Machtwechsel nach: Was geschähe, wenn der Kaiser den Juden zu Diensten wäre? An mehreren Stellen des Textes werden subtile Hinweise darauf gegeben, wie Juden mit Diskriminierung und Hass umgehen. Das Bild zeigt eine in der Weimarer Republik erschienene antisemitische Postkarte von 1920. Eine besondere Stärke des Buches von Horvilleur ist, die Beziehung zwischen Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit aufzuzeigen. Dies ist das Thema des dritten Kapitels. Im politischen Diskurs wird in zahlreichen Texten versucht, den „verjudeten Mann“ als Manipulierer, Hysteriker oder Opportunisten darzustellen. Die Macht ausübenden Individuen benutzen dabei frauenfeindliche Rhetorik, um Juden zu disqualifizieren. Manche antisemitischen Texte des 13. Jahrhunderts behaupten, jüdische Männer müssten zur Strafe dafür, dass sie das Blut Jesu vergossen hätten, menstruieren. Zum Ausgleich für das verlorene Blut benötigten sie die Schlachtung von Christenkindern. Der zum Protestantismus übergetretene Jude Otto Weiniger verband in seinem Buch „Geschlecht und Charakter“ (1903) Judenhass mit dem Hass auf Frauen. Ausführlich gelesen wurde dieses Machwerk freilich erst von den Nationalsozialisten. An weiteren Beispielen zeigt Horvilleur das antisemitische Klischee des unmännlichen und unreinen jüdischen Mannes auf, der „die physische oder psychologische Integrität des Männlichen und damit die Integrität der Nation oder Gruppe gefährdet.“ – ein obsessives Motiv des Antisemitismus des 20. Jahrhunderts. Der Ursprung der Verweiblichung jüdischer Männlichkeit ist vielleicht schon bei Hosea oder Jesaja zu finden, wo das Verhältnis des treuen, rebellischen, unterwürfigen oder ehebrecherischen Volkes zu Gott als eine Liebesgeschichte erzählt wird. Auch auf den Antisemitismus innerhalb der feministischen Bewegung geht Horvilleur ein.
Im vierten Kapitel „Antisemitismus als Wahlkampf“ analysiert die Autorin den antisemitischen Vorwurf, die Juden seien besser als andere. Dabei wird das Auserwähltsein in der Tora nie als wesenhafte Überlegenheit beschrieben, sondern als eine besondere Zuwendung Gottes wie sie auch in anderen Religionen vorkommt. Das Judentum erhebt, anders als das Christentum oder der Islam, überhaupt keinen universellen Anspruch. Aber es hat am Berg Sinai eine besondere Offenbarung erhalten. Doch was ist der Inhalt dieser Offenbarung? Er liegt nicht genau fest: Wurde am Berg Sinai die geschriebene Tora geoffenbart oder ihre Auslegung? Die Zehn Gebote oder die Befreiung oder nur das „Ich“ (Anokh‘i) Gottes oder gar nur das Aleph, d. h. die Möglichkeit einer Stimme? Es bleibt offen.
Die Überlegungen des letzten Kapitels drehen sich um die Ausgrenzungsversuche gegenüber Juden, mit denen die Antisemiten ihre eigene Identität konstruieren. Die Gemeinschaft, die Gesellschaft oder die Welt wären intakt oder versöhnt, wenn die Juden dies nicht verhindern würden, so die antisemitische Behauptung.

Das Jüdischsein kann man nicht definieren – allenfalls individuell

vielen Europäern hat sich die Bedeutung des Wortes „Zionismus“ von einem „emanzipatorischen und selbstbestimmten Projekt eines nationalen Zufluchtsorts für die Juden“ zum „System kolonialer Unterdrückung und Unterwerfung der Schwächeren“ gewandelt. Motive einer obsessiven Israelkritik zeigen starke Anklänge an den traditionellen Diskurs der Antisemiten. Kritiker Israels hinterfragen oft nicht nur die Politik des Staates Israel, sondern seine Existenz überhaupt, was sie bei anderen kritikwürdigen Staaten so nicht tun. Der Versuch, sich abzugrenzen, ist das Herzstück sämtlicher Reinheitsdiskurse. Man sucht im Diskurs über die Identität nach Abgrenzung, nach dem Rand und nach Störfaktoren, die das Ganze, die Reinform, bedrohen, z. B. Emigranten, Ketzer oder Homosexuelle. Horvilleur lehnt einen identitären nationalistischen Purismus ab. Bei vielen Menschen, auch bei ihr selbst, ist es so, dass mehrere Herkünfte, mehrere Sprachen und vielfältige Zugehörigkeiten die Identität bestimmen. Auch eine jüdische Identität wird in vielen verschiedenen Formen der kulturellen Aneignung bestimmt, daher kann man das Judentum in Reinform nicht definieren. Letztlich ist die spezifische Besonderheit, der harte, von aller historischen Kontingenz befreite Kern des Judentums nicht festlegbar. Das Jüdischsein kann man nicht definieren. Allenfalls individuell. Jüdische Identität ist für Horvilleur „jene eigenartige (erzwungene oder frei gewählte) historische Fähigkeit, mit der das jüdische Volk gleichzeitig in verschiedenen Welten und Sprachen zu leben vermochte, die irgendwann in eine Koexistenz des Gleichen und Fremden, der ‚Unsrigen‘ und ‚der Anderen‘ gemündet ist.“ – Die Abbildung zeigt Gustave Dorés Holzschnitt von 1852 „Der wandernde ewige Jude“.

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Delphine Horvilleur: „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“ (2019), Berlin 2020, übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis, Hanser Verlag Berlin 2020, ISBN 978-3-446-26596-7, 141 Seiten, 18 Euro.
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