Von Wolf Stegemann
Der traditionelle Antijudaismus der Kirche, der in den Kreuzzügen des 11. bis 13. Jahrhunderts seinen fanatischen Höhepunkt fand, dauerte die folgenden Jahrhunderte lang bis zum 2. Vatikanischen Konzil Anfang der 1960er-Jahre an. Erst dann milderte die katholische Kirche ihren Fluch gegen die Juden, so der Historiker Friedemann Bedürftig. In der evangelischen Kirche wurde die Wandlung im Verhältnis gegenüber Juden erst in der Rheinischen Synodenerklärung von 1980 manifest. Auch die weltliche Macht verfolgte Jahrhunderte lang die Juden, schränkte deren Rechte ein, so dass Juden nur noch im Handel und Finanzwesen tätig sein konnten, da Christen im Mittelalter eine Zinsnahme verboten war. So kam zur religiösen Judenfeindschaft ein Neid-Antisemitismus dazu, was die Juden veranlasste, sich dem christlichen Umfeld der europäischen Völker mehr und mehr anzupassen (Assimilation). Sie erreichten damit seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert eine formale rechtliche Anerkennung (Emanzipation). Als Reaktion der Judengegner entwickelten sich daraufhin im 19. Jahrhundert der „literarische Antisemitismus“ und wenig später parallel dazu der „rassische Antisemitismus“. Dieser sah Juden als „Rasse“ an, die wie Schädlinge auf die Zerstörung der „Wirtsvölker“ und deren Kultur aus sei. Obwohl der biologistische Ansatz bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert als falsch erkannt worden war, übernahm der Nationalsozialismus den „Rassen-Antisemitismus“ und machte diesen zu seinem Programm. Das führte bekanntlich zur physischen Vernichtung eines Großteils der europäischen Juden und ihrer Kultur in den von Deutschen besetzten Ländern („Endlösung der Judenfrage“). Bei Kriegsende waren sechs Millionen Juden ermordet, davon waren ein Drittel Kinder.
Ausgeprägter rassischer Antisemitismus in Rothenburg und Franken
In diesen Ablauf der staatlichen Sanktionen gegen die Juden – angefangen zu Konstantinischer Zeit über das Heilige Römische Reich deutscher Nation über das nachfolgenden Wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Republik bis hin zur anschließenden NS-Zeit – fügt sich die jüdische Geschichte Rothenburgs mit den Verfolgungen und Tötungen, ihren Vertreibungen und Ausplünderungen von Juden beispielhaft ein. Auch in der Tauberstadt und ihrem fränkischen Umfeld entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg ein ausgeprägter wissenschaftlich verbrämter rassischer Antisemitismus, dessen Vertreter in Vorträgen offen gegen Juden hetzten bzw. von Außenstehenden hetzen ließen, worüber die Lokalzeitung, der „Fränkische Anzeiger“, stets ausführlich berichtete und kommentierte. Auf diesem mit perfiden Aussagen über das Judentum und die Juden gedüngten Boden konnte der Nationalsozialismus mit seinem Rassen-Antisemitismus tiefe Wurzeln schlagen und hier schon lange vor 1933 viele Anhänger finden. Die Rothenburger Synagoge in der Herrngasse wurde bereits 1920 mit Hakenkreuzen beschmiert. Nach 1933 waren dem tat- und schlagkräftigen Antisemitismus straflos Tür und Tor geöffnet – auch die Zeitungsseiten des „Fränkischen Anzeigers“ mit ihrer vom Verein Alt-Rothenburg herausgegebenen Beilage „Die Linde“ füllten sich mit Berichten und Aufrufen zur Judenhetze. In Zeitungen und Zeitschriften zeichneten Autoren ein Zerrbild der Juden, an dem sich neben anderen vor allem die Regionalhistoriker Walter Bose und der Rothenburger Lehrer Dr. Martin Schütz mit ihren Aufsätzen beteiligten („Fränkischer Anzeiger“ vom 24. März 1934, 12. Januar 1936, 2. August, 7. November 1937).
Dr. Martin Schütz forcierte den Antisemitismus in der „Linde“
Studienrat Dr. Martin Schütz war nicht nur Lehrer, sondern auch ein geschätzter Historiker und ehrenamtlicher Stadtarchivar. Sein Wort zur Geschichte der Stadt und Region, speziell zum Judentum, hatte Gewicht. Schütz’ antisemitische Aufsätze hatten Überschriften wie „Der Jude im Heimatschrifttum Rothenburgs“, „Was der fränkische Sippenforscher über die Judenfrage wissen muß“ oder „Wie der Jude Seckle von Schnaittach der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber Vorschriften machen wollte?“ Zudem besprach er in der „Linde“ die antisemitischen Aufsätze des Leiters der „Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“, Wilhelm Grau.
Der Autor sonnte sich vor Nazi-Größen in seinem Antisemitismus
Dr. Schütz versuchte mit seinen verbogenen und antisemitisch hingebogenen Darstellungen der Judengeschichte und -geschichten mit formaler Wissenschaftlichkeit den Eindruck von seriös belegten und nur der historischen Wahrheit verpflichteten Erkenntnissen zu geben. Zerrbilder über Juden und deren Religion zu zeichnen, war das, was Dr. Martin Schütz tat. In dieser Rolle gefiel er sich, denn er bekam darin höchste Anerkennung. Einer, der es ihm im bildnerischen Bereich gleichtat, war der Gewerbelehrer Ernst Unbehauen, über den mehrere Artikel in dieser Dokumentation informieren. Beide, Unbehauen und Schütz, dienten sich dem nationalsozialistischen Antisemitismus an und machten sich ihn zu Eigen. Beide Männer verband die Arbeit an einem Buch – ein antisemitisches Machwerk. Schütz schrieb den Text und dokumentierte Unbehauens gestaltete „Judentafeln“ an den Toren der Stadt, mit denen auf die „Schande“ der Juden und auch ihre Vertreibung in Schrift und abscheulichen Bilddarstellungen hingewiesen wurde. Das 180 Seiten starke Buch heißt: „Eine Reichsstadt wehrt sich. Rothenburg ob der Tauber im Kampf gegen das Judentum.“ Es erschien 1938.
Die Anregung dazu bekam Martin Schütz vom Franken-Gauleiter und antisemitischen „Stürmer“-Herausgeber Julius Streicher, dessen faksimilierte Widmung „Wer gegen die Juden kämpft, kämpft gegen den Teufel“ zu Anfang des Buches abgedruckt ist. Das Nachwort schrieb Gauamtsleiter Fritz Fink (Nürnberg):
„Die Judenemanzipation eröffnete den Fremdrassigen nicht nur in Rothenburg ob der Tauber und in Franken, sondern im ganzen weiten Reich die Tore. Man empfand den Juden nicht mehr wie ehedem als Artfremden, als Schänder deutscher Ehre und deutschen Blutes; das Gewissen des Blutes und der Rasse war eingeschlafen. Es musste ein Großer kommen, der dieses Gewissen wieder wachrüttelte. Dieser Große entstand unserem Volke in Adolf Hitler. … Diesmal führt der Kampf zum Sieg… worum Jahrhunderte vorher der Rat Rothenburgs kämpfte… Deutschland ist erwacht.“ (Auszug)
Der Autor Martin Schütz zitiert als Schlusswort einen Satz von Julius Streicher, das seit 1936 auf einer „Mahntafel“ am Rödertor zu lesen war:
„Die Weltgeschichte nennt die Namen der Völker, die am Juden zugrunde gingen. Ihr tragisches Ende ist eine furchtbare Mahnung für die Völker, die noch am Leben sind.“
Fußnoten und Quellenverzeichnis uiggerieren Wissenschaftlichkeit
In dem Buch beschreibt Dr. Martin Schütz die jüdische Geschichte der Stadt Rothenburg. Die Juden wurden 1519/20 pogromartig vertrieben, wobei der Autor die damalige Vertreibung mit nationalsozialistischer Ideologie begründet. Folgerichtig musste die Stadt in nationalsozialistischer Zeit wiederum jüdische Einwohner gewaltsam vertreiben, was am 22. Oktober 1938 auch geschah. Mit 123 Fußnoten auf zwölf Seiten und drei Seiten Quellen- und Literaturangaben soll das Werk Wissenschaftlichkeit suggerieren, das es aber durch eine antisemitisch vorgegebene Interpretation und auch durch falsche Behauptungen fehlen lässt.
Gedruckt wurde das Buch in der Schneider’schen Druckerei in Rothenburg. Es konnte für 2,85 Reichsmark subskribiert werden. Im „Fränkischen Anzeiger“ wurde im Mai 1938 für den Kauf des Buches geworben, so dass bereits 1.000 Bücher vorbestellt waren.
Vortrag vor den Politischen Leitern der Partei
Als die Rothenburger NSDAP mit großem Pomp ihr zehnjähriges Bestehen feierte, war am 7. November 1937 auch Dr. Martin Schütz dabei. Er hielt im neuen Sitzungssaal des Rathauses einen Vortrag über seine neuesten Judenforschungen. Anwesend waren alle Mitglieder des Kreis- und Ortgruppenstabes, die Zellenleiter der Ortsgruppe, die Führer und Leiter sämtlicher Parteigliederungen und der Partei angeschlossenen Verbände, Träger des goldenen Parteiabzeichens, sämtliche Ratsherren, Vertreter des Stadtrates und sonstiger Behörden. Vor diesem braunen Auditorium lobte Kreisleiter Karl Steinacker den „Parteigenossen Dr. Schütz“, der sich seit Jahren mit der Erforschung der Rothenburger Judengemeinde beschäftigt und nun in prägnanten Darstellungen das Ergebnis seiner Arbeit niederlegt habe. Dr. Schütz begann seine Rede mit der vermutlich gewollt organisierten Gleichheit der Tagesdaten, dem 7. November 1938 mit dem von 1519:
„In den Nachmittagsstunden des 7. November 1519 hatte der Rat von Rothenburg nach langer, sorgfältiger Überlegung den Beschluss gefasst, die Juden für immer aus der Stadt zu treiben… Damit beendete der Rat mit einem dicken Strich einen Zustand, der mehr als 350 Jahre angedauert hatte…“
Martin Schütz erläuterte weiter, dass sich der Rat allerdings schon vor 1519 klar geworden war, „dass der Jude im Staate ein Fremder“ sei „und für seinen Gastgeber eine ernste Gefahr bedeute. „Jüdische Rücksichtslosigkeit, Wucherwirtschaft und Hemmungslosigkeit brachten über viele ärmere Untertanen der Stadt und des Landes unsagbares Unheil und Leid.“ In diesem Stil setzte Dr. Martin Schütz seinen Vortrag fort. Am Ende seines Vortrags forderte er die Anwesenden auf, das Gehörte hinauszutragen und sich mit dieser Frage auch immer wieder zu beschäftigen. Er erinnerte die Rothenburger daran:
„Stolz darauf zu sein, in einem Kreis und in einer Stadt wirken zu dürfen, in der man schon in den vergangenen Jahrhunderten die Gefahr des Judentums erkannt hätte.“
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