Von Wolf Stegemann
Rassismus und Antisemitismus gab es in Rothenburg bereits vor 1933. Als die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, hatte der Antisemitismus auch einen direkten Einfluss auf den Tourismus. Nach anhaltenden Belästigungen, Demütigungen und Angriffen auf jüdische Einwohner, bekam der Antisemitismus in Rothenburg ab 1937 eine virulente Wendung zum noch Schlimmeren.
Mit der von Bürgermeister Schmidt im März 1937 eröffneten Ausstellung „Blut und Rasse“ eröffneten die Stadtverwaltung und NS-Funktionäre die Endphase der Vertreibung der jüdischen Bürger aus Rothenburg. Über 2.400 Menschen besuchten die antisemitische Ausstellung, wie der Fränkische Anzeiger in den Tagen zwischen dem 10. und 16. März berichtete. Kaum ein Jahr nach einer umfassenden Neugestaltung des touristischen NS-Programms mit Sauberkeit auf den Straßen und in den Winkeln der Stadt, der Denkmalpflege und Konsumkultur begann das „rassische Säubern“ der Stadt. Nicht nur von jüdischen Menschen. Auch deren Geschichte in der Stadt, die weit ins Mittelalter zurückreicht, wurde im nationalsozialistischen Sinn „gesäubert“, umgedeutet, teilweise sogar die Fakten gefälscht. Daran waren auch exponierte Mitglieder des Vereins Alt-Rothenburg beteiligt.
Seit dem Mittelalter stete Vertreibung und Verfolgung
Im Mittelalter waren Juden in Rothenburg Opfer wiederholter Verfolgung. Der Rat der Stadt vertrieb 1520 alle Juden, die in Rothenburg eine gewichtige Rolle spielten. 400 Jahre später bestritt Walter Bose in seinem Aufsatz „Greuellügen seit 400 Jahren: Eine Judenverfolgung, die keine war“, erschienen in den „Nationalsozialistischen Monatsheften“ 1935, dass das Pogrom von 1520 gar nicht stattgefunden hätte. Denn er schrieb, dass die Juden die Stadt friedlich verlassen hätten. In die gleiche Kerbe schlug der lokale Heimatdichter Georg Harro Schaeff-Scheefen. Er stellte 1937 den Rothenburger Stadtprediger Johannes Teuschlin, der das Pogrom von 1520 durch seine feurigen Reden gegen die Juden auslöste, zumindest dazu beigetragen hatte, auf eine Stufe mit Rothenburgs Bürgermeister Heinrich Toppler (gest. 1408) und Altbürgermeister Georg Nusch. Ersterer brachte Rothenburg zur wirtschaftlichen und politischen Blüte. Nusch rettete der Legende nach 1632 die Stadt vor der vorgesehenen Plünderung durch die Soldateska Tillys. Auf diese Helden-Ebene stellte Schaeff-Scheefen den städtischen Judenhasser Teuschlin. Der Heimatdichter machte 1939 aus dem Judenhasser Teuschlin einen „mutigen Kämpfer gegen die Juden“. Dies trug er zum Ergötzen seiner Zuhörer im Verein Alt-Rothenburg vor (nach Joshua Hagen in „Preservation, Tourism and Nationalism“). Allerdings ist sein öffentlicher Antisemitismus im Vergleich zu den anderen hier Genannten ein als gering einzuschätzendes opportunistisches Verhalten. G. Harro Scheaff-Scheefen (gest. 1984 in Kirchberg an der Jagst) war damals und in den Jahren nach dem Krieg „Haus“-Schriftsteller beim Rothenburger Holstein-Verlag und gründete 1964 in Kirchberg an der Jagst den heute noch bestehenden „Autorenverband Franken“, der seit 2008 jährlich einen Literaturpreis vergibt und ihn nach Schaeff-Scheefen benennt.
Antisemitisches Machwerk war Pflichtlektüre für Schüler
Martin Schütz war derjenige in Rothenburg, der wohl die größte Verfälschung der jüdischen Geschichte der Stadt zu verantworten hat. In seinem vom „Franken-Führer“ Julius Streicher initiierten antisemitischen 1938 erschienenen Buch „Eine Reichsstadt wehrt sich“ beschreibt er, „wie beispielhaft und standhaft die […] Bürger von Rothenburg seit Jahrhunderten gegen die Macht des internationalen Judentum gekämpft“ hätten. Im späten Oktober 1938 wurden dann die letzten Rothenburger Juden vertrieben. Das Buch, zu dem der Rothenburger Künstler und Lehrer Ernst Unbehauen die Titelseite lieferte, wurde ein lokaler Bestseller. Über 1.000 Exemplare konnten innerhalb von vier Wochen verkauft werden. Martin Schütz verknüpft in diesem abscheulichen Buch die gelöste „Judenfrage“ von 1520 mit der nationalsozialistischen Juden-Politik. Das Buch wurde in Rothenburgs Schulen zur Pflichtlektüre. Der antisemitische Autor war auch Redakteur der vom Verein Alt-Rothenburg als Beilage zum Fränkischen Anzeiger herausgegebenes Geschichtsblatt „Die Linde“. In dieser Beilage veröffentlichte Schütz mehrmals Informationen zur jüdischen Geschichte im Sinne der NS-Rassen-Ideologie.
Der Antisemitismus schwappte bald vom scheinbar akademischen Bereich in den Tourismus über. „Kraft durch Freude“-Gäste (KdF) wurden über den Kampf gegen die Juden in der Stadt „aufgeklärt“. Den Gästen wurden auch die von Ernst Unbehauen gemalten vier Holztafeln gezeigt, die seit August 1937 an den Stadttoren den Touristen die Juden in hässlichen antisemitischen Karikaturen zeigten. In Text und Bild wurden frühere Pogrome mit der nationalsozialistischen Vertreibung verknüpft und von den Tafeln Postkarten für Rothenburgs Touristen angefertigt.
Bindung zwischen Mensch und Ort, Blut und Boden stärken
Nach einer Nacht der Quälerei, des Vandalismus und der Einschüchterung vom 22. auf den 23. Oktober 1938 wurden Rothenburgs Juden zum sofortigen Wegzug aufgefordert. Die etwa 17 bis dahin noch verbliebenen Juden verließen fluchtartig ihre Heimatstadt. Am 24. Oktober 1938 verkündeten lokalen NS-Führer, dass „die letzten der Rothenburger Juden die Mauern der Stadt hinter sich gelassen haben“. Die Schlagzeile in der Zeitung lautete: „Unser Rothenburg ist judenfrei! […] Der jahrhundertlange Abwehrkampf unserer Vorfahren hat seine Erfüllung gefunden.“
Ein Strom von Glückwunschschreiben, Telegrammen und Briefen aus ganz Deutschland kamen in Rothenburg an. Die Vertreibung der Juden aus Rothenburg hatte das Ziel, die Bindung zwischen Mensch und Ort, Blut und Boden zu stärken. Rothenburgs Rassensäuberungsprogramm war nach nationalsozialistischer Lesart reichsweit vorbildlich.
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