Nacherzählt von Wolf Stegemann
NSDAP-Kreisleiter Höllfritsch gab in den Tagen vor dem Einmarsch der Amerikaner den Befehl heraus, dass die Stadt bis zum letzten Mann verteidigt werden müsse. Um dies möglich zu machen, sollten Frauen und Kinder die Stadt nach Eichstätt und in die umliegenden Orte verlassen. Für die Familien organisierte Höllfritsch Busse und Lastkraftwagen, um die Familien außer Orts zu bringen. In diesem Konvoi befanden sich auch die NSDAP-Ortsgruppenleiter Haas und Wobst, der NSV-Kreisamtsleiter Beyerl und andere Funktionäre. NSDAP-Kreisleiter Höllfritsch blieb noch, flüchtete dann aber, als die Amerikaner in die Stadt einrückten. Die Wehrmacht hatte sich schon zurückgezogen, als auch die SS als letzte Einheit die Stadt verließ, bevor die Amerikaner einrückten. Den Militär- und SS-Konvois schlossen sich etliche Rothenburger Zivilisten an, vor allem nationalsozialistische Familien, die der Gräuelpropaganda der Nazis erlegen waren, was alles an schlimmen Dingen passieren würde, wenn die Amerikaner die Stadt besetzten.
Die SS setzte sich auf der Frankenhöhe fest
Zu den auf diesem Wege die Stadt verlassenden Familien gehörte auch Werner M. (Name geändert) mit seiner Mutter und seinem Bruder. Allerdings wurde dieser Konvoi bereits in der Höhe des heutigen heutigen Krankenhauses beschossen, so dass die Mutter mit ihren Kindern wieder in die Stadt zurückkehrte. Die SS setzte sich auf der Frankenhöhe fest und soll von dort rücksichtslos in die Stadt geschossen haben, als die Amerikaner sie besetzten. Werner, der heute in Oberbayern wohnt, erinnert sich an diesen missglückten Fluchtversuch und erzählt heute (2013) auch offen über seine Familie:
„In den letzten Kriegstagen hatte sich meine Mutter mit mir und meinem Bruder den nach Osten zurückweichenden deutschen Truppen angeschlossen. Sie hat uns auf ihr Fahrrad gesetzt. Auch andere Rothenburger Familien waren dabei. In der Höhe des früheren Krankenhauses, wo heute die Autobahn die Straße nach Ansbach überquert, wurde die Kolonne von einem amerikanischen Jäger beschossen. Es gab Verletzte. Meine Mutter ist dann wieder mit uns nach Hause zurückgekehrt. Nach der Einnahme von Rothenburg wurden zu Quartierzwecken der US-Truppen viele Wohnungen und Häuser im Viertel östlich der heutigen Ludwig-Siebert-Straße geräumt. Davon waren auch wir betroffen. Wir konnten nur wenige Habe mitnehmen und mussten bei meiner Großmutter Unterschlupf suchen. Erst Monate später konnten wir zurückkehren.“
Werner M. kann sich an den Nationalsozialismus in Rothenburg kaum erinnern. Doch an seine Familie schon:
„Mein Vater war Ende der Zwanziger Jahre in die NSDAP eingetreten. Im Kriege gehörte er zu einer Panzerdivision an der Kurlandfront. Als Obergefreiter in der Schreibstube war er bis Herbst 1946 in einem russischen Gefangenenlager in Swirstroj zwischen dem Ladoga- und dem Onegasee. Er kam desillusioniert zurück und blieb in der Folge völlig unpolitisch. Sein Rat an mich und meinen Bruder war: ,Tretet nie in eine politische Partei ein!’ Aus der Vorkriegszeit – aber auch aus der Kriegszeit – hat er fast nichts erzählt. Als Ergebnis des Entnazifizierungsverfahrens wurde er vorerst nicht mehr als Beamter am Finanzamt eingesetzt. Daher hatte er mit einem Partner in der Rödergasse ein Textilgeschäft eröffnet, das nur wenige Jahre bestand. In der ersten Hälfte der 50er-Jahre wurde mein Vater erst Vertragsangestellter und dann wieder Beamter beim Finanzdienst.
Meine Mutter war eine begeisterte Anhängerin von Adolf Hitler, jedoch war sie nie in der Partei, wohl aber in einer der Gliederungen, dem Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK). Während des Krieges hatte sie zeitweise einen Holzgas-Lastwagen (es gab kein Benzin mehr) mit Milch zwischen Rothenburg und Geslau gefahren.“
Fragen nach dem Warum und Wieso wurden barsch zurückgewiesen
Als die Amerikaner die Stadt besetzten, drangen sie in jedes Haus ein, die Familie war verängstigt. Die Amerikaner wollten Orden und Nazi-Devotionalien. Als die Amis an der Tür von Werners Mutter hämmerten, fiel ihr mit Schreck ein, dass auf einem Tisch noch Hitlers Büste stand. Schnell hat sie die Büste aus dem Fenster geworfen, während die GI’s schon im Haus waren. Wie viele andere Erwachsene, hat sich auch seine Mutter nach dem Krieg nie mit der Vergangenheit auseinandersetzt, geschweige denn sie aufgearbeitet. Dafür mag es viele Gründe gegeben haben: Scham und Schuldgefühle, Restüberzeugungen, Starrsinn oder auch nur die Angst und das Unbehagen, von den eigenen Kindern Schuldzuweisungen hören zu müssen. Werner M.:
„Die politische Entwicklung in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit hat sie nicht interessiert. Für sie waren die Sozialdemokraten immer noch ,Kommunisten’. Da ich Anhänger der sozial-liberalen Koalition und der Aussöhnung mit dem Osten unter Willy Brandt war, hatte ich manches Streitgespräch mit ihr, was sich aber jedes Mal als sinnlos erwies.“
Um 1956 hatte sich Werner M. bei Bertelsmann ein Buch über das Schicksal der Juden bestellt: „Der gelbe Stern“. Es war eine Dokumentation von Schwarz-Weiß-Bildern, die amerikanische Reporter bei der Befreiung von Konzentrationslagern aufgenommen hatten. Grauenvoll! „Ich war geschockt und wollte von meinen Eltern Auskunft haben, was sie denn davon gewusst hätten. Ich wurde barsch zurückgewiesen. Man war verärgert und wollte davon nichts wissen.“
Der Großvater ritt in der Reiter-SA
Werners Großvater mütterlicherseits diente als Berufssoldat in der bayerischen Armee. Im Ersten Weltkrieg war er in Frankreich bei der pferdebespannten Artillerie und wurde als Feldwebel-Leutnant mit Versorgungsschein entlassen. Er wurde in Rothenburg Gerichtsvollzieher und Mitglied des SA-Reitersturms. Zeitweise hatte er eigene Pferde. Die Reiter-SA traf sich regelmäßig im Gasthaus „Zum Grünen Baum“ in der Rödergasse. Zu den SA-Übungen wurde dann gemeinsam nach Ansbach auf das Urlas-Gelände gefahren (oder geritten?). 1939 meldete er sich mit 56 Jahren freiwillig zur Wehrmacht. Er wurde als Leutnant eingestellt und war zeitweise Kompaniechef einer Eisenbahn-Pionierkompanie in Russland. Auf Grund seines Alters wurde er dann auf den Truppenplatz Milowitz (Milovice, Tschechien) versetzt und dort als Reit- und Fahrlehrer eingesetzt. Als Hauptmann geriet er in tschechische Gefangenschaft und wurde noch 1945 nach Rothenburg entlassen.
Als Ergebnis des Entnazifizierungsverfahrens wurde er vorerst nicht mehr als Beamter im Justizdienst übernommen. Dies erfolgte erst wieder später. In seinem Zimmer hing bis an sein Lebensende ein Bild der Feldmarschalls Paul von Hindenburg zusammen mit Erich Ludendorff. Darunter stand in Handschrift: „Nimmer wird das Reich vergehen, wenn ihr einig seid und treu!“ – Es ist vergangen, das eine mit dem Kaiser wie das andere mit Hitler!