Von Prof. Dr. Horst F. Rupp
Creglingen, Perle im Taubertal, berühmt wegen seiner Altstadt, seiner idyllischen Lage und, nicht zu vergessen, der Herrgottskirche mit ihrem spätgotischen Riemenschneider-Altar – wer einmal hier war, dem bleibt es unauslöschlich in Erinnerung. Wer aber weiß (noch), dass hier über Jahrhunderte hinweg Juden gelebt haben, deren Gemeinde in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts endgültig ausgelöscht wurde?
Bestialisch mit Stahlruten geschlagen
Jüdisches Leben im Taubertal hatte eine lange Tradition. Ebenso lang ist aber die Tradition der Verfolgungen, ursprünglich gespeist aus christlichem Antijudaismus, der später bruchlos in Antisemitismus übergehen konnte. In Creglingen sind Juden seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar. Ab Anfang des 19. Jahrhunderts waren sie als Filialgemeinde dem benachbarten Archshofen zugehörig, errichteten aber schon Ende des 18. Jahrhunderts eine eigene Synagoge. Das Ende dieser jüdischen Gemeinde wird am 25. März 1933 eingeläutet. Zwei Tage nach dem im Reichstag durchgeboxten „Ermächtigungsgesetz“, keine zwei Monate nach der „Machtergreifung“, kommt es zu einem Pogrom, wie er seit dem Mittelalter in dieser Gegend sich nicht mehr ereignet hatte: Durch ein „Rollkommando“ Heilbronner SA unter dem Standartenführer Klein, unterstützt von Polizei und örtlichen SA-Leuten, insbesondere dem Ortsgruppenleiter Karl Stahl, werden am Samstagmorgen 16 jüdische Bürger aus dem Gottesdienst heraus verhaftet, aufs Rathaus verschleppt und „verhört“, das heißt mit Stahlruten so bestialisch misshandelt, dass gleichen Tags noch der Gütermakler Hermann Stern und wenig später der Viehhändler Arnold Rosenfeld starben. Nach allem, was man weiß, handelt es sich bei Stern und Rosenfeld um die ersten jüdischen Toten der Naziherrschaft. Die Schoah hat hier ihren Anfang genommen.
Schon 1939 wurde gemeldet, dass die Stadt judenfrei sei
Lion Feuchtwanger, der die Bedeutung erkannte, hat das Ereignis schon im Herbst 1933 in seinem Roman „Die Geschwister Oppermann“ (erschienen in Amsterdam) behandelt. Der 25. März 1933 war der Anfang vom Ende der Creglinger jüdischen Gemeinde. Ziemlich genau sechs Jahre später, im April 1939, kann Bürgermeister Liebert an die vorgesetzten Behörden melden, dass Creglingen „judenfrei“ sei.
Wie wohl nur wenige Gemeinden in Deutschland hat sich die Stadt aber nach 1945 gegen eine Aufarbeitung des Unrechts gesträubt und sträubt sich –leider! – noch immer. 1947 wurde im Rathaus von der Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus eine Tafel mit dem Text enthüllt: „Sie sollen eine Mahnung sein, Rosenfeld Arnold, 53 Jahre, Stern Hermann, 67 Jahre. Die ersten jüdischen Opfer des Jahres 1933, ermordet am 25. 3. 33.“ Von den lokalen Verantwortlichen des Pogroms wurde nur Stahl zur Verantwortung gezogen. Nach vier Jahren Internierungshaft und Eingruppierung als „Hauptschuldiger“ im Spruchkammerverfahren wurde er vom Ellwanger Schwurgericht zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt, die er jedoch nicht ganz absaß. Auf wiederholtes Gnadengesuch werden ihm zwei Monate erlassen. Ab 1951 lebte er wieder im Ort, von seinen Mitbürgern keineswegs geächtet oder ausgegrenzt. Versäumt aber wurde es in Creglingen, die Geschehnisse im „Dritten Reich“ aufzuarbeiten.
Kein wirkliches Interesse an den damaligen Ereignissen
Lang ist die Liste der gescheiterten Versuche, sich des verlorenen jüdischen Erbes zu erinnern. Weder wurde die ehemalige Synagoge – sie wird heute als Bistro genutzt – als Ort der Erinnerung ausgebaut, noch wurde der Friedhof an die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs zurückgegeben; weder wurde ein anderer Raum der Erinnerung geschaffen, noch gelang es in verschiedenen Anläufen, ein öffentliches Gebäude –zum Beispiel eine Schule – nach Stern und Rosenfeld zu benennen.
Stattdessen: eine schäbige Abstimmung nach der anderen im Creglinger Gemeinderat, verbale Ausfälle von Stadträten, wenn entsprechende Initiativen, meist von Auswärtigen angestoßen, zur Abstimmung anstanden. Stimmen von Stadträten aus vergangenen Jahren: „Im ,Dritten Reich’ ist nicht alles falsch gewesen … Wenn man die Presse verfolgt, muss man sagen, dass die Juden auf dieser Erde nicht gerade beliebt sind.“ Ein anderer hält sich laut Gemeinderatsprotokoll für zu jung, ihn interessiere die Sache überhaupt nicht mehr. Zudem sei der 60. Jahrestag (des Pogroms) keine richtige Jubiläumszahl. So wurden bis in die Gegenwart hinein alle Initiativen abgeschmettert.
Tafel enthüllt und Buch herausgegeben
Einen Wandel im Umgang mit dem Thema scheinen zwei Ereignisse 1998/99 zu zeigen. Am 25. März 1998 wurde auf private Initiative hin eine Gedenkfeier aus Anlass des 65. Jahrestages des Pogroms mit der Enthüllung einer Tafel durchgeführt, die an die Creglinger Opfer der Schoah erinnert. Bei der Gedenkfeier kamen ein Angehöriger der Opferseite zu Wort, Daniel Erlanger, Enkel der aus Creglingen stammenden Jüdin Käthe Wasserstrom-Wolf, wie auch der Autor dieser Zeilen, der sich als Enkel des seinerzeit mitschuldigen Ortsgruppenleiters Stahl in einer besonderen Verantwortung für die Aufarbeitung der Geschehnisse sieht. 1999 erschienen zwei Bücher, die sich der jüdischen Geschichte Creglingens annahmen, eines davon unter meiner Mitarbeit: Hartwig Behr/Horst F. Rupp: „Vom Leben und Sterben. Juden in Creglingen“. Die Buchpräsentation unter reger Teilnahme der Bevölkerung schien wie ein Einschnitt in der Auseinandersetzung: Man konnte den Eindruck gewinnen, das Thema sei im Ort endlich „angekommen“.
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Quelle: Auszug der Online-Veröffentlichung des Autors „ERINNERUNG – Wo der Holocaust begann. Warum Creglingen ein jüdisches Museum will und zugleich nicht will“ am 31. Dezember 1999. – Horst F. Rupp lehrt evangelische Theologie in Würzburg und ist Enkel des Ortsgruppenleiters, der am Pogrom gegen die Creglinger Juden 1933 beteiligt war. Rupp kämpft gegen die zähe Geschichtsvergessenheit der Stadt.