Von Wolf Stegemann
Nach dem Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933 konnten „Reichsangehörige, die sich im Ausland aufhalten, der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, sofern sie durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt haben“. Durch Arisierungspolitik und „forcierte Auswanderung“ zur Emigration gezwungen, verloren danach neben politischen Gegnern des NS-Regimes auch viele jüdische Akademiker ihre deutsche Staatsangehörigkeit.
Universitäten wirkten im Sinne des Nationalsozialismus mit
Die deutschen Universitäten nahmen das Gesetz zum Anlass einer weitreichenden Änderung ihrer Promotionsordnungen mit der Begründung, die „emigrierten Landesverräter“ seien nicht würdig, einen deutschen Doktortitel zu tragen. Eine weitere Bestimmung der seit 1934 durch verschiedene Erlasse gleichgeschalteten Promotionsordnungen sah vor, dass die Doktorwürde durch die Universität wieder entzogen werden konnte, wenn ihr Träger wegen einer strafbaren Handlung verurteilt worden war. Zu diesen strafbaren Handlungen zählten insbesondere eindeutig als politisch und ideologisch zu klassifizierende Delikte wie Hochverrat, Verstöße gegen das Heimtückegesetz, die sog. Rassenschande oder das Abhören von Feindsendern. Für andere Delikte, die auch schon vor 1933 strafwürdig waren, wie etwa Homosexualität oder Abtreibung, wurde das Strafmaß in bestimmten Fällen aus ideologischen Gründen drastisch verschärft. An der Münchener Universität gab es in der Zeit von 1933 bis 1945 achtzehn Aberkennungen mit dieser Begründung. Für die Zeit nach 1933 ist es im Nachhinein jedoch schwer feststellbar, ob eine strafrechtliche Verurteilung im Einzelfall aus politischen Gründen erfolgt war, was auch die spätere Rehabilitierung in der Bundesrepublik erschwerte. Nachdem das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 die sog. Nicht-Arier von der Reichsbürgerschaft ausgeschlossen hatte, konnte nach § 4 des Gesetzes über die Führung akademischer Grade vom 7. Juni 1939 auf reichsgesetzlicher Grundlage der von einer deutschen staatlichen Hochschule verliehene akademische Grad wieder entzogen werden, wenn sich nachträglich herausstellte, dass der Inhaber der Verleihung „unwürdig“ war. Insgesamt sollen über 2000 Akademiker von den Depromotionen betroffen gewesen sein. 1685 Namen wurden allein zwischen 1937 und 1943 im deutschen Reichs- und Preußischen Staatsanzeiger veröffentlicht. In 1151 Fällen wurde die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft als Grund angegeben. – Entziehungen an deutschern bzw. reichsdeutschen Universitäten (Auswahl): Die Julius-Maximilian-Universität Würzburg hat mit 223 eine der höchsten Zahlen), Heidelberg 124, Leipzig 174, Erlangen 160, München 183, Köln 70, Gießen 51, Frankfurt am Main 114, Kiel 40, Marburg 46, Göttingen mehr als 70, Reichsuniversität Straßburg 73.
Akkurate Nazis: Auch an die Deportierten wurde gedacht
Am 25. November 1941 erging eine Verordnung, die regelte, dass ein Jude, der nicht strafausgebürgert worden war, seine deutsche Staatsangehörigkeit verlor, wenn er sich im Ausland befand. Oder aber dann, „wenn er seinen gewöhnlichen Aufenthalt später im Ausland nimmt, mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland“. Damit wurden die Deportationen in die Vernichtungslager vorbereitet. Selbst die Nazis wollten sich nicht nachsagen lassen, die eigenen Bürger systematisch zu ermorden. Sobald die Deportationszüge die Grenze erreichten, verloren die Opfer ihre Staatenzugehörigkeit und damit den staatlichen Schutz. In beiden Fällen fiel ihr gesamter Besitz automatisch an den Staat. Ob mit der neuen Verordnung von 1941 allen Juden automatisch die Promotion entzogen wurde, lässt sich mit Sicherheit nicht sagen. Die Systematik der Gesetze spricht eher dagegen. Die Haltung zum Recht hat sich in den Präsidien der deutschen Universitäten in der NS-Zeit stark verändert. Unter dem Deckmantel des Rechts geschah Unrecht.
Auch homosexuellen Akademikern wurde der Doktorgrad entzogen
Die „Depromotion“ ist ein bis jetzt wenig beleuchteter Aspekt der Bestrafung und Demütigung Homosexueller im NS-Staat. Dass diese verfolgt, verurteilt und – mit einem rosa Winkel auf der Kleidung – in Konzentrationslagern inhaftiert wurden, ist bekannt. Dass dies auch die Aberkennung akademischer Titel zur Folge haben konnte, wurde indes kaum thematisiert. In Leipzig etwa hat sich der Senat der Uni bereits 2001 in einem Beschluss von »Depromotionen« distanziert und sie als »Willkürakte« bezeichnet; es ging aber dabei explizit nur um Aberkennungen aus politischen, rassenideologischen oder aus Glaubensgründen. Die Uni Leipzig entzog von 1933 bis 1945 insgesamt 174 Doktortitel; im halben Jahrhundert zuvor waren es zehn. Dass für den Entzug des Doktortitels bei mindestens sieben Trägern die sexuelle Orientierung ihrer Träger den Ausschlag gab, ist erst seit kurzem bekannt. Von den sieben Leipziger Opfern wurde bisher nur einer offiziell rehabilitiert. Da die Bundesrepublik 1948 die Strafbarkeit homosexueller Orientierung des Menschen beibehalten und die Strafbarkeit unter homosexuellen Erwachsenen erst 1968 abgeschafft hatte (§ 175 StGB), gab es bis dahin rund 50.000 rechtskräftige Verurteilungen.
Die Doktorgrad-Entziehung scheiterte 1938 bei dem Zahnarzt N. D.
Unter den Entziehunsgfällen wegen Homosexualität, befindet sich auch der Fall eines Zahnarztes, der bei seinem Promotionsverfahren Glück hatte, denn bei der Entziehung des Titels blieb es bei dem Antrag. Wegen Geringfügigkeit seines strafbaren Handelns durfte er den Titel behalten. Beispielhaft hier seine Geschichte:
N. D. wurde am 1. Juni 1892 in Speyer geboren. Nach der Schulzeit begann er die militärische Laufbahn, versah im Ersten Weltkrieg den aktiven Dienst als Offizier in verschiedenen Orten an der Front und wurde im Mai 1920 als Hauptmann verabschiedet. Die folgenden acht Jahre war er als Kaufmann tätig, bevor er im Sommersemester 1928 das Studium der Zahnheilkunde in Erlangen aufnahm. 1931 erhielt er seine Approbation als Zahnarzt und bestand im darauf folgenden Jahr die Doktorprüfung.
Am 18. November 1938 wurde N. D. zusammen mit einem Mitangeklagten „wegen Vergehens gegen § 175 StGB“ vom Schöffengericht in Koblenz zu sechs Wochen Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft verurteilt. Beide Angeklagten hatten den ihnen vorgeworfenen Verstoß, über den die Universitätsakten keine näheren Angaben machen, vor Gericht zugegeben. Der § 175 erhielt zum 1. September 1935 die folgende Fassung: „Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft.“ Der Rektor der Universität wurde wenige Tage später vom Koblenzer Oberstaatsanwalt über diese Verurteilung des in Erlangen promovierten Zahnarztes, der zu diesem Zeitpunkt eine Praxis in Boppard betrieb, informiert. Nachdem der Dekan der Medizinischen Fakultät Einsicht in die Gerichtsakten genommen hatte, sprach er sich mit Verweis auf die niedrige Strafe, auf das offenkundig einmalige und geringfügige Vergehen sowie auf den bisherigen untadeligen Lebenswandel des Verurteilten gegen die Entziehung des Doktortitels aus. Der zuständige Ausschuss und der Rektor schlossen sich dieser Stellungnahme an, so dass der Vorgang zu den Akten gelegt wurde. Der entsprechende Vermerk des Rektors enthält allerdings den nicht zu übersehenen Hinweis darauf, dass diese Entscheidung durchaus Ausnahmecharakter hatte: „Im Einverständnis mit den Herren Dekanen wird von der Entziehung des Dr.-Titels in diesem Falle abgesehen.“ Über D’s weiteren Lebensweg ist hier nichts bekannt.
Frauenarzt Dr. Otto Grosse-Wietfeld wurde 1941 depromoviert
Andere der rund 2000 aus welchen Gründen ihnen sie auch immer der Doktortitel von deutschen und reichsdeutschen Universitäten entzogen wurde, hatten dieses Glück nicht, wie beispielsweise der Frauenarzt Dr. Otto Grosse-Wietfeld, der 1898 in Bottdorf bei Menslage (Landkreis Osnabrück) geboren wurde. Die Großeltern und Eltern hatten einen wirtschaftlichen Betrieb mit Bäckerei, Molkerei und Mühle im Dorf Emstek bei Cloppenburg. Als Gymnasiast in Dorsten (Westfalen) diente er von 1915 bis 1918 freiwillig als Soldat im Ersten Weltkrieg. Dies war offensichtlich auch der allgemeinen Kriegsbegeisterung geschuldet. Otto Grosse-Wietfeld konnte allerdings nur dadurch Soldat werden, da er sich bei der Musterung als 17-Jähriger für ein Jahr älter ausgab. Er bestand 1920 das Abitur und studierte Medizin, promovierte 1930 an der Universität Erlangen und praktizierte in Rheine als Frauenarzt. Dr. Grosse-Wietfeld wurde in der Zeit des „Dritten Reichs“ wegen Einzelfällen von Schwangerschaftsabbrüchen juristisch verfolgt und angeklagt. Mit Urteil des Schwurgerichts Münster (Westfalen) vom 22. Oktober 1938 und Beschluss des Reichsgerichts vom 27. Februar 1939 wurde er schließlich wegen durchgeführter Schwangerschaftsabbrüche in zwei Fällen und versuchter Abtreibung in einem Fall von nationalsozialistischen Richtern zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. 1941 wurde ihm der Doktortitel entzogen, den er offiziell nie mehr zurückbekam, ihn allerdings problemlos verwendete. Er starb in Emstek/Cloppenburg 1980 im Alter von 82 Jahren.
Rehabilitierung ist Ehrenpflicht: Jahrzehntelanges Zögern der Unis
Die Wiedergutmachungspolitik der Bundesregierung zielte vor allem auf materielle Entschädigung. Die Rehabilitierung der Depromovierten als immaterieller Akt spielte allein deshalb in der Nachkriegszeit eine untergeordnete Rolle. Hinzu kam eine unklare Rechtslage ohne gesetzliche oder zumindest ministerielle Regelungen, außerdem der Umstand, dass die für eine Wiederverleihung akademischer Grade zuständigen Hochschulorgane (Consilium decanale) zumeist noch mit denselben Personen besetzt waren, die die Aberkennungen ausgesprochen hatten. Auch an den deutschen Universitäten wurde die Frage individueller oder institutioneller Schuld „nicht oder nur in allgemein-unverbindlicher Form artikuliert“.
Die Westdeutsche Rektorenkonferenz wandte sich bereits 1950 an die Universitäten mit der Bitte, Angaben zu 350 namentlich aufgeführten Professoren zu machen. Deren Wiedereinsetzung sei „eine solidarische Ehrenpflicht“. Die Umfrage blieb ohne Resonanz. Noch 1999 waren bei einer Umfrage der Kultusminister-Konferenz zur Aberkennung akademischer Grade die meisten Universitäten weder in der Lage, Antwort auf die gestellten Fragen zu geben, noch wurde an den dort vorhandenen Quellen in dieser Frage geforscht.
Universität Würzburg beseitigte erst 2011 nationalsozialistisches Unrecht
Mit der Aufarbeitung der Entziehung des Doktorgrades hatte 1991 Hamburg den Anfang gemacht und öffentlich alle Betroffenen rehabilitiert. Dann folgten 1995 Frankfurt am Main, 1998 die Universität Bonn und die Humboldt-Universität Berlin. 2000 kam Münster hinzu, 2002 auch Marburg, 2005 erstattete die Kölner Universität die zwischen 1933 und 1945 aberkannten Doktorgrade zurück – wenn auch nur symbolisch, denn von den 70 Betroffenen war niemand mehr am Leben. Es folgten 2006 Gießen und 2011 Würzburg. – Wien rehabilitierte im Jahre 2004. Dabei war 1965 erstmals in der Bundesrepublik der Beschluss gefasst worden, den jüdischen Doktoren die Titel wieder zuzuerkennen. Aberkennungen aus politischen Gründen oder wegen Homosexualität wurden damals allerdings nicht erwähnt. Weil eine gesetzliche Regelung für ein automatisches und umfassendes Revidieren der Depromotionen fehlte, wurde nur in Einzelfällen und auf Antrag rehabilitiert. Die wohl einzige Ausnahme war Thomas Mann. Die Bonner Philosophische Fakultät erklärte gleich nach Kriegsende die „von ihrem nationalsozialistischen Dekan und SS-Mann Obenauer 1936 völlig eigenmächtig verfügte Aberkennung“ für gegenstandslos. Weihnachten 1946 erhielt Thomas Mann eine erneuerte Doktorurkunde. Die Abbildung zeit den Titel der 2016 von der Universität Jena herausgegeben Broschüre zur Wiedergutmachung des Unrechts der Dokorgrad-Entziehung.
Warum ließen sich die Hochschulen nicht schon viel früher zu einer öffentlichen Entschuldigung herab? Jens Blecher, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig: „Durch die offenkundige Art des Unrechts erschien eine öffentliche Rehabilitierung respektive Entschuldigung der entziehenden Universität unnötig. Der entzogene Doktortitel wurde stillschweigend als nicht entzogen betrachtet, und die akademische Gemeinschaft hat ihren Common Sense wiedererlangt.“ – Übrigens war es 1945 mit der Entziehung akademischer Grade aus ideologischen Gründen noch längst nicht vorbei: Die DDR erkannte republikflüchtigen Akademikern den Titel ab – den diese allerdings in aller Regel in der Bundesrepublik einfach weiterführten.
Am Rande vermerkt! Auch das noch:
Damals geschehenem Unrecht hat sich die Technische Universität (TU) München gestellt: 2007/08 hat sie vier jüdischen Absolventen in der NS-Zeit aus antisemitischen Motiven heraus ihre regulär erworbenen Doktorgrade entzogen worden waren, diese posthum wieder zuerkannt. Doch bis heute ehrt die Technische Universität München vier Männer, die in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt waren oder ihrer Propaganda dienten. Es ist eine fragwürdige Truppe, deren Andenken von der Technischen Universität (TU; Foto München-Maxfeld) München in Ehren gehalten wird: Der eine war ein Nazi-General, der andere ein Fliegerass aus dem Ersten Weltkrieg, das sich von den Nazis zum Helden stilisieren ließ, der dritte war ein begnadeter Ingenieur, forderte aber vehement den Einsatz von Zwangsarbeitern in der Luftrüstung. Und der vierte war „Alter Kämpfer“ der NSDAP und gründete die paramilitärische Kriegsbautruppe „Organisation Todt“. Emil Zenetti, Ernst Udet, Wilhelm Messerschmitt und Fritz Todt: Sie alle wurden in der Zeit des Nationalsozialismus von der Technischen Hochschule, wie die TU damals hieß, geehrt, Zenetti als „Ehrensenator“, die anderen mit einem Doktortitel ehrenhalber. Alle vier sind längst tot. Und obwohl viele Jahre seit dem Ende der Nazi-Diktatur verstrichen sind, tragen sie nach Recherchen der „Süddeutschen Zeitung“ alle ihre Ehrentitel bis heute.
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