Von Wolf Stegemann
„Der Dichter Leonhard Frank“, schrieb der Rothenburger Autor Wilhelm Staudacher 1974, „hatte seine in der Emigration geschriebene ,Deutsche Novelle’ in der ,Neuen Zeitung’ der ersten Nachkriegszeit und 1954 als Buch in der Nymphenburger Verlagsbuchhandlung veröffentlicht. In Rothenburg spielend, sollte die Geschichte nach Absicht Leonhard Franks eine verschlüsselte Antwort auf die Frage nach der Befreiung Deutschlands von Hitler sein. Sie gilt heute als ein wesentliches Kapitel der literarischen Entdeckung Rothenburgs.“
Thomas Mann würdigte Franks „Deutsche Novelle“ als „ein kleines Meisterwerk“ und Marcel Reich-Ranicki sagte über den Erzähler: „Ein exemplarischer Novellist.“
Lebensabrechnung am Ende der nationalsozialistischen Zeit
Leonhard Frank, 1882 in Würzburg geboren, schrieb diese Novelle 1944 in Hollywood und verlegte deren Handlung in das nach außen malerische aber aus damaliger Sicht des Autors nach innen muffige Rothenburg des Jahres 1904. Dabei hatte er auch das rechtsradikale und ab der Weimarer Republik nationalsozialistische Gebaren der Stadt und deren Bürger im Blick, auch die Verbrechen des Naziregimes an der Menschheit, und die Verantwortung der Deutschen danach. Warum verlegte Leonhard Frank diese Schlüssel-Erzählung nach Rothenburg ob der Tauber? Die Frage hat er selbst nie beantwortet.
Da Leonhard Frank die Stadt aus der Zeit des anbrechenden 20. Jahrhunderts gut kannte, er arbeitete hier als Anstreicher in den Häusern und hatte in einem Patrizier-Palais der Stadt die entscheidende Begegnung, die ihn zu der „Deutschen Novelle“ inspirierte. Zudem wusste er auch, wie sich die Stadt Rothenburg in den 1920er-Jahren und ab 1933 zu einer nationalsozialistischen Vorzeige-Stadt entwickelte. Literarisch ein Ort des Verbrechens von 1904, real ein Ort der nationalsozialistischen Intoleranz, der Ausgrenzung und Verfolgung Andersdenkender, der Vertreibung und Auslieferung. Leonard Franks Rothenburger „Deutsche Novelle“ ist – wie viele seiner Werke – auch eine Lebensabrechnung.
Psychologie des Opfers und des Verführers
Nach dem Prolog, beginnt die Erzählung mit den Sätzen:
„Im Jahre 1904 wanderte Michael, damals noch ein Schlossergeselle, von seiner Heimatstadt Würzburg nach Rothenburg ob der Tauber, in der Absicht, den Sommer über bei einem Zimmermaler zu arbeiten und so viel zu ersparen, dass er im Winter an der Münchener Kunstakademie studieren könne. Er hatte drei Mark und den Glauben an sich, der durch nichts begründet war…“
Was in jenem Sommer des Jahres 1904 in der Tauberstadt begann und das sein Leben beeinflussen sollte, endet in der Erzählung mit einem Besuch am Grab seiner stillen Liebe auf dem Rothenburger Friedhof:
„Er besuchte Josephas Grab. Der Friedhof war nicht größer geworden. Die Toten Rothenburgs lagen im großen Friedhof Europa. Er stellte seine Staffelei auf und begann zu malen, den blühenden Jasminbusch und die von Mauerefeu überwucherte Marmorplatte, auf der ihr Name stand. Er ließ die Hand sinken und blickte hin. Er sah Josepha, ihr Gesicht. Er dachte: ,Ich hätte sie geliebt.’ Michael war auch noch als Dreiundsechzigjähriger ein sentimentaler Mann.“
Dieser sentimentale Mann von 63 Jahren konnte den Sommer 1904 in Rothenburg, als er gerade 22 Jahre alt war, und ganz gleich wo er sich in seinem weiteren Leben aufhielt, nicht vergessen. – Die vereinsamte Baroness Josepha bewohnt ein Palais in Rothenburg ob der Tauber des Jahres 1904. Sie hat einen sadistischen Diener, dem sie sich vollkommen unterwirft. Der Diener ist eine Inkarnation der Verworfenheit und somit das Sinnbild Deutschlands der nationalsozialistischen Zeit. Die Baroness wird in leidenschaftlicher Sucht herausgefordert und erschießt schließlich den gewalttätigen Diener und sich selbst. Während dieser Zeit verehrt und liebt der junge Handwerker und Künstler Michael Vierkant, der in einem Rothenburger Stadtturm wohnt, das Edelfräulein. Er muss später ins Exil nach New York gehen und stellt dort die selbst erlebte Rothenburger Tragödie in einem Gemälde dar. Michael findet sich am Ende, nach seiner Rückkehr aus dem Exil am Grab seiner Angebeteten in Rothenburg wieder. Am Grab kann er von seiner Liebe nur im Konjunktiv reden. Leonhard Frank hat ihn in seiner Novelle mit autobiografischen Zügen ausgestattet. Der junge Handwerker und Künstler Michael Vierkant ist zum Beispiel auch Titelheld der Nachkriegs-Novelle „Michaels Rückkehr“. Im danach gedrehten und künstlerisch abgelehnten Film „Chronik eines Mordes“ erschießt eine Jüdin den soeben zum Bürgermeister ernannten Mörder ihrer Familie, nachdem sie vergeblich anstatt materieller die ethische Wiedergutmachung gefordert hatte.
Diese um und nach 1945 entstandenen Werke des Würzburger Schriftstellers bilden seine Lebensabrechnung. So – nur weitaus tiefer – geht beispielsweise auch Thomas Mann in seiner Allegorie „Doktor Faustus“ und 1945 Arnold Zweig in „Das Beil von Wandsbeck“ um. Wenn auch mit etlicher Distanz bekräftigt Bert Brecht in seiner Utopie „Der kaukasische Kreidekreis“ den Glauben an das deutsche Volk. Ähnlich wie Brechts sozialistischer Standort ist Leonard Frank als sozialistisch-pazifistischer Erzähler zwischen Expressionismus und Sachlichkeit mit Neigung zu psychoanalytischer Darstellung einzuordnen. Sein Tatsachenstil ist karg. Seine Handlungsführung in „Deutsche Novelle“ und in anderen Erzählungen ist straff und von praktischem Sinn geleitet. In seinen Jugendwerken lässt er die fränkische Landschaft einfließen, dazu Handlungsstränge mit sozialrevolutionären Tendenzen gegen Krieg, Massenmord und Todesstrafe. In seinen Spätwerken, zu denen die „Deutsche Novelle“ gehört, zeigt Leonhard Frank eine Vorliebe für die psychologische Darstellung erotischer Spannungen und für fatale Situationen.
Das in Rothenburg Selbsterlebte in der Erzählung verarbeitet
In der „Deutschen Novelle gibt es etliche augenfällige autobiografische Momente. Wie oben schon erwähnt, begann Leonhard Frank seine Laufbahn als Maler, wie eben jener Michael, auch arbeitete Frank als Anstreicher in einem Patrizierhaus in Rothenburg ob der Tauber, um das Geld für sein Studium zu verdienen. Hier traf er die Baroness, die damals 32 Jahre alt gewesen war, ein altes Mädchen, das nicht mehr hoffen konnte, dass der Mann, den sie sich einstens erträumt hatte, noch kommen und sie heimführen würde. In der „Deutschen Novelle“ kontrastiert die Idylle Rothenburgs das tragische Schicksal der Bewohner. Dass Frank seine Erzählung „Deutsche Novelle“ nannte, fand auch Kritiker wie Erich Kuby in „Das deutsche Fräulein aus Rothenburg“ und Wilhelm Westrick in „Abstürze und Aufstiege“. Auch Günter Blöcker kritisiert im Berliner „Tagesspiegel“ 1954 den Titel, wird aber am Ende der Rezension versöhnlich, wenn er schreibt:
„Trotzdem steht es uns nicht an, den Autor deswegen zu tadeln. Zu einem Kunstwerk gehört auch die Geschichte seines Werdens, und oftmals gibt die Kenntnis davon ihm erst die rechte Tiefendimension. So ist auch hier, wo man die Situation des von Bitterkeit und Heimweh kranken Emigranten vorzustellen hat, um zu verstehen, weshalb dies – wenigstens für den Autor – eine „Deutsche Novelle“ werden musste.“
Warum Leonhard Frank seine Erzählung „Deutsche Novelle“ genannt hatte, darüber gibt die Literaturwissenschaftlerin Judith Hetyei Auskunft:
„Sie heißt deshalb Deutsche Novelle, weil die Geschichte in einer deutschen Stadt spielt. Am Anfang erscheint das von Mittelalter geprägte, idyllische Bild Rothenburgs mit seinen Giebelhäusern, Türmen und verwickelten Gassen vor uns. Ein Teil der Heimat, aus der Zeit bevor Frank emigrieren musste, wird hier dargestellt. Am Ende sehen wir das ,bis ins Herz zerstörte Deutschland’ nach dem Zweiten Weltkrieg. 1950 suchte der heimgekehrte Dichter ebenso wie Michael (in der Novelle) „die Stätten seiner Jugend und fand sie nicht mehr“. Dazu passt die Behauptung Helmut Günthers in „Welt und Wort“ (Tübingen 1954), der schrieb: „Dieses Rothenburg (…) ist heute fast nur noch Kulisse. Die zwölf deutschesten Jahre haben diese deutsche Gefühlssinnigkeit gründlich zerstört. So ist diese deutsche Novelle ein Abschiedsgruß an ein Deutschtum, das einmal war.“
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Zur Person: Leonhard Frank
Leonhard Frank wurde 1882 in Würzburg als Sohn eines Schreiners geboren. Nach einer Fahrradmechanikerlehre schlug er sich zunächst als Fabrikarbeiter, Klinikdiener,Chauffeur und Anstreicher (in Rothenburg) durch, bis er 1904 in München Kunst studierte. Von 1910 bis 1914 lebte er in Berlin, wo 1914 sein Debütroman „Die Räuberbande“ erschien, für den er noch im selben Jahr mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde. 1915 ohrfeigte Leonhard Frank den Journalisten Felix Stoessinger, der die Versenkung des Passagierdampfers „Lusitania“ durch ein deutsches U-Boot vor der irischen Südostküste – 1.198 Personen kamen dabei ums Leben – als Heldentat begrüßt hatte. Danach emigrierte er in die Schweiz und kehrte erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nach Deutschland zurück.
In München gehörte Leonhard Frank zu den Mitgliedern des Arbeiter- und Soldatenrates und wurde bei der blutigen Beseitigung der Räterepublik im Mai 1919 verwundet. Im Jahr darauf zog er erneut nach Berlin. Für den im Deutschen Reich aufgrund der pazifistischen Grundhaltung verbotenen Novellenzyklus „Der Mensch ist gut“ (Zürich 1917) erhielt Leonhard Frank 1920 den Kleist-Preis.
Nationalsozialisten verbrannten seine Bücher
Nationalsozialisten verbrannten im Mai 1933 einige seiner Bücher. Leonhard Frank emigrierte daraufhin erneut, zunächst nach Zürich, dann über London nach Paris, wo er bei Kriegsbeginn (1939) interniert wurde. 1934 wurde er ausgebürgert. 1940 gelang es ihm, nach Marseille und von dort über Lissabon in die USA zu flüchten. Unter dem Titel „Desire Me“ verfilmte Metro Goldwyn Mayer mit Robert Mitchum, Morris Ankrum, Richard Hart, Greer Garson u. a. das 1920 uraufgeführte Theaterstück „Karl und Anna“ von Leonhard Frank. 1947 erschien sein Roman „Die Jünger Jesu“, der die elende Nachkriegssituation in Deutschland beschreibt. In Amerika arbeitete Frank erneut als Drehbuchautor, jedoch wurde er wegen seiner pazifistischen Haltung vom FBI überwacht. 1955 kehrte er nach Deutschland zurück und ließ sich endgültig in München nieder. Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR ehrten ihn mit mehreren Preisen – weitere Bücher zu veröffentlichen gelang ihm allerdings kaum mehr, da er sich als scharfer Kritiker einer nicht gelungenen Entnazifizierung einen Namen machte. Ab 1950 lebte Leonhard Frank wieder in München. Dort heiratete er 1952 zum dritten Mal, und zwar die ehemalige Schauspielerin Charlotte London, die in den USA seine Geliebte geworden war. Als Trauzeuge fungierte der mit Leonhard Frank befreundete Theaterregisseur Fritz Kortner. Frank starb 1961 in München. Er gilt als einer der bedeutendsten pazifistischen Erzähler in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
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