Die Hitlerdiktatur prahlte wiederholt mit den Erfolgen der weitreichenden neuen Polizeibefugnisse bei der Zurückdrängung des Verbrechens. Anfang 1936 gaben die Behörden bekannt, im Land sei „das große Aufräumen“ erfolgt, das Verbrechen sei niedergerungen, und die Bürger sollten das zu schätzen wissen. Anfang 1941 nutzte Reinhard Heydrich den „Tag der Deutschen Polizei“, um das Volk daran zu erinnern, dass Kripo und übrige Polizei die Verbrechensrate gegenüber 1932 um 40 Prozent gesenkt hätten. Im Laufe der Jahre bekamen die Bürger viele solche Erfolgsmeldungen zu hören, und ohne Zweifel gingen bestimmte Verbrechensarten zurück – aus Gründen, die nichts mit der neuen Polizei und dem neuen Gerichtssystem zu schaffen hatten. So brachte die Rückkehr zur Vollbeschäftigung im Jahr 1936 vielen potentiellen Straftätern wieder Arbeit, und der Aufbau der Streitkräfte entfernte Millionen junger Männer von den Straßen und damit von der Gelegenheit, Verbrechen zu begehen.
Urteile der Sondergerichte tauchten in den Statistiken nicht auf
Das Vorkommen „wirklicher“ Verbrechen einzuschätzen ist schwierig, doch wenn wir die Statistik von 1931 bis zum Krieg betrachten, ist ein genereller Rückgang festzustellen. Gleichwohl wurde das Verbrechen aus mehreren Gründen unterschätzt. Zum einen verstanden die Statistiker unter „Verbrechen“ einen durch Schuldspruch eines ordentlichen Gerichts bestätigten Verstoß gegen das Strafgesetzbuch. Die Hunderttausande von Fällen, die vor den Sondergerichten und dem Volksgerichtshof abgeurteilt wurden, tauchten in den Statistiken nicht auf. Darüber hinaus erledigten Polizei und sogar NSDAP Tausende von Anschuldigungen und Delikten aus eigener Machtvollkommenheit, ohne vor Gericht zu ziehen.
Neue Straftatbestände in den Kriegsjahren
Die Zahl der Angeklagten vor den ordentlichen Gerichten ging auch durch die vielen Amnestien Hitlers zurück. Nach einem undatierten Bericht aus dem Reichsjustizministerium hatte es seit 1932 zehn Amnestien gegeben, in deren Genuss schätzungsweise 2,5 Millionen Menschen gekommen waren; zahlreiche schwebende Fälle wurden niedergeschlagen, von den Gerichten fallengelassen oder gar nicht erst vor Gericht gebracht. Diese Amnestien hatten also nebenbei den Effekt, den Rückgang des „Verbrechens“, definiert als Erfolg der Strafverfolgung, schön zu rechnen. Wie die Justizbeamten selber klagten, bedeutete die kriegsbedingte Personalknappheit höchstwahrscheinlich, dass viele Verbrechen unentdeckt und ungesühnt blieben. Alles in allem gibt es guten Grund zu der Schlussfolgerung, dass das „Verbrechen“ – unter Zugrundelegung der nationalsozialistischen Definitionen – insgesamt in den Jahren des Dritten Reichs wohl eher zunahm, zumal in den Kriegs jähren, als viele neue Straftatbestände erfunden wurden. Das Steigen oder Sinken der Verbrechensrate war keine so ausgemachte Sache, wie Polizeisprecher die deutschen Bürger glauben machen wollten.
Einberufung von Delinquenten zum Militär verfälschte die Statistiken
Eine Analyse des Statistischen Reichsamtes von 1944 zeigt, dass die Gesamtzahl der von den Strafgerichten rechtskräftig verurteilten deutschen Männer und Frauen (nicht nur der ausländischen Staatsangehörigen), die zu Beginn des Krieges infolge einer Amnestie zurückging, jetzt wieder im Steigen begriffen war. Für den anfänglichen Rückgang 1939 und 1940 nannten die Statistiker mehrere Gründe. So kam zu Hitlers Amnestie vom 9. September 1939 hinzu, dass durch die Wehrpflicht viele Männer einberufen wurden, deren Verfahren anhängig waren. Auch wiesen die Statistiker darauf hin, dass die Bevölkerung zögerte, minder schwere Delikte anzuzeigen, und die Arbeitgeber sich mit Klagen gegen ihre Arbeiter zurückhielten, weil sie befürchteten, frei werdende Stellen wegen des akuten Arbeitskräftemangels nicht wieder besetzen zu können. Ferner standen für Ermittlungen weniger Polizeibeamte zur Verfügung, da viele von ihnen eingezogen waren oder polizeiliche Aufgaben außerhalb des eigentlichen Deutschlands wahrnehmen mussten. Gleichwohl begann die Zahl der Männer und Frauen und besonders der Jugendlichen, die von ordentlichen Gerichten verurteilt wurden, wieder zu steigen, sobald sich die Auswirkungen der Amnestie nicht mehr bemerkbar machten. Der Anstieg der Verbrechensrate schlug sich ab 1941 in den Statistiken nieder. Mit der kriegsbedingten Verdunkelung der Straßen ergaben sich sogar neue Gelegenheiten zu krimineller Betätigung, desgleichen mit der Einführung von Maßnahmen zur Kriegsversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Kleidung und Schutzräumen.
Nur 1937 war ein Jahr ohne Amnestie
In dieser statistischen Analyse unberücksichtigt blieb die Auswirkung jener Fälle, die nicht vor ordentliche Gerichte kamen, sondern von der Polizei in eigener Regie geregelt wurden. Eine Analyse des Reichsjustizministeriums von Ende 1944, in der diese letzteren Fälle nicht mitgezählt werden, besagt, dass im Vergleich zu 1937 (dem einzigen Jahr ohne Amnestie) in den Kriegsjahren ein bescheidener Rückgang der Kriminalität in den Grenzen des alten Deutschlands zu verzeichnen war. Dagegen nahm die Jugendkriminalität zu und war 1942, verglichen mit 1937, um 110 Prozent gestiegen.
Diebstähle und Erpressungen stiegen an
Vereinzelt erhalten gebliebene Ermittlungsakten der Kripo aus der Zeit von 1938 bis 1943 belegen eine kontinuierliche Zunahme der als „schwerer Diebstahl“ eingestuften Fälle. Die Zahl der Diebstähle und Erpressungen stieg, ebenso die Zahl der Tötungsdelikte in den meisten Jahren zwischen 1938 und 1943. Zwar beziehen sich diese Zahlen auf das Großdeutsche Reich (die österreichischen Daten sind ab 1939, die der annektierten polnischen Gebiete ab 1940 berücksichtigt), doch war auch auf dem Gebiet dieses neuen Reichs seit 1940 jedes Jahr eine signifikante Zunahme des Verbrechens zu verzeichnen. Den Meldungen zufolge gab es nur eine Verbrechensart, die zurückging, und zwar Betrug. Indessen hatte die Kripo die Verfolgung von Betrügereien und anderen Straftaten wie „einfacher Diebstahl“ zurückgestellt und konzentrierte sich auf Delikte wie Einbruchsdiebstahl. Außerdem hatte sie sich um die polizeiliche Umsetzung der vielen neuen Kriegsmaßnahmen zu kümmern.
Vergehen der Fremdarbeiter wurden polizeilich erledigt
Es gibt eine andere Seite der Kriminalität, die wir bei der Einschätzung der Verbrechensrate im nationalsozialistischen Deutschland während des Krieges in Rechnung stellen müssen, und zwar die Millionen von Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen, die nach Deutschland gebracht wurden. Fremdarbeiter waren in den Kriegsjahren die Hauptsorge der Polizei. Wenn wir die ins Astronomische gehende Zahl ihrer Zusammenstöße mit Ausländern hinzunehmen, müssten wir zu dem Schluss kommen, dass es im nationalsozialistischen Deutschland nichts weniger als eine Explosion des „Verbrechens“ gegeben habe. Die meisten dieser Verbrechen wurden unmittelbar durch polizeiliche Maßnahmen geregelt, so dass solche Fälle überhaupt nicht vor einem ordentlichen Gericht verhandelt wurden.
Angebliche Erfolge waren nur Propaganda
Gleichwohl waren die märchenhaften Statistiken der nationalsozialistischen Verbrechensbekämpfung selber die größte Kriminalstory, und wenn auch die Erfolge mehr fiktiv als real waren, darf man nicht unterschätzen, welche Auswirkung auf die Bevölkerung die wiederholten Ankündigungen hatten, die Diktatur gewinne den Krieg gegen das Verbrechen. Diese Propaganda hinterließ bei vielen Zeitgenossen einen enormen Eindruck, so dass die angeblichen Erfolge der Nationalsozialisten bei der Verbrechensbekämpfung bei manchen noch heute in guter Erinnerung sind. Besonders frappierte sie, wie die Diktatur die Straßen von Unangepassten und sozialen Außenseitern säuberte.
Siehe auch: Sondergericht Nürnberg (1)
Siehe auch: Artikelreihe Sondergerichte (2 -16)
Siehe auch: Artikelreihe Justiz (I – V)
Siehe auch: Das Gesetz gegen heimtückische Angriffe gegen Staat und Partei…
Siehe auch: Rothenburger Amtsgerichtsgefängnis…
Siehe auch: Artikelreihe Ermittlungsverfahren (1 bis 5)
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