Von Wolf Stegemann
An der Ecke Marktplatz zur Hafengasse sieht auf einem Sockel ins Mauerwerk eingelassen ein steinerner Sackpfeifenspieler, der vom Aussehen her an die rustikalen Figuren des Hans-Sachs-Spiels erinnert. Die Plastik stammt von dem Rothenburger Bildhauer Johannes Oertel (1893-1976) und zeigt exemplarisch den Stil, dem sich der Künstler verschrieben hatte: Unaufgeregt und handwerklich gut. Seine Kunst ist angepasst. An die Zeit und an die Stadt, dem „mittelalterlichen Kleinod“. Ein Stil, der damals in der Architektur, in der Literatur und bildenden Kunst gepflegt wurde und dessen Ergebnisse die Realität abbilden ohne viel zum Nachdenken und Interpretieren anzuregen. Eine Realität also, die sich auf das sichtbar Schöne und mitunter Heroische beschränkt. Eine solche Kunst fand das Wohlgefallen der Nationalsozialisten, die u. a. ihn, Johannes Oertel, mit Aufträgen und Ausstellungen förderten, wie es beispielsweise der bayerische NS-Ministerpräsident Ludwig Siebert persönlich getan hat, der von 1908 bis 1919 Bürgermeister der Stadt Rothenburg gewesen war.
NSDAP-Eintritt schon 1930
Als Ministerpräsident gefielen ihm die Arbeiten Johannes Oertels, so wie er auch Rothenburg als propagandistisch aufgewertete Vorzeigestadt des Nationalsozialismus immer wieder mit staatlichen Finanzierungszuschüssen zugetan war. Und Johannes Oertel? Er nahm die ihm entgegen gestreckte Hand der Nationalsozialisten, war er doch spätestens mit seinem Eintritt in die NSDAP 1930 als „Alter Kämpfer“ selbst einer von ihnen. Er formte das, was die Nationalsozialisten wollten und so, dass es ihrem Geist entsprach. Seine Tochter Rosemarie Richter schrieb über ihren Vater in der FA-Beilage „Die Linde“ des Vereins Alt-Rothenburg 1993: Während des Krieges hatte er „seit Jahren vom [bayerischen] Innenministerium den Auftrag, die Friedhöfe in fünf Landkreisen von Mittelfranken zu überwachen. Er genehmigte die einwandfreien Entwürfe, wies Unzumutbares zurück und gab den Steinmetzen künstlerische Ratschläge“. Vom Komponisten Armin Knab, der zeitweise in Rothenburg Amtsrichter war, bevor er beruflich ganz in die Musikbranche wechselte, fertigte Johannes Oertel eine Bronzebüste an, die bei einem Brand 1931 gerettet werden konnte. Oertel schuf auch Nazikunst im faschistischen Stil, wie es die Säule mit den Adlerschwingen im Burggarten war, die der bayerische Ministerpräsident 1934 stiftete, weil sich Rothenburg von „Anbeginn an als eine Hochburg des Nationalsozialismus gezeigt und bewährt hat[te]“ (FA vom 19. und 23. September 1934). Mit der Errichtung dieses „Hoheitszeichens der Bewegung“ wollte Siebert seiner „lieben Stadt Rothenburg ein Erinnerungszeichen an die Großtat unserer geistigen Revolution verschaffen“, wie Siebert am 7. März 1934 an den Bildhauer Johannes Oertel schrieb.
Seifenkopf des Prinzregenten förderte den Berufswunsch
Bis Johannes Oertel dies alles tun konnte, hatte er schon einen langen Lebens- und Berufsweg hinter sich. Seine evangelische Familie war seit Generationen in Rothenburg ansässig, nachdem sie als Hugenotten aus Franreich fliehen musste. Viele seiner Vorfahren waren Pfarrer. So auch sein Vater, der zur Zeit der Geburt seines Sohnes Johannes im Jahre 1893 im unterfränkischen Dorf Lichtenstein wohnte. Drei Jahre später wurde sein Vater Pfarrer in Windelsbach bei Rothenburg, wo er bis zu seinem Tod 1932 lebte.
Sohn Johannes besuchte in Rothenburg das Jakobsschulhaus am Kirchplatz. Als er aus einem Stück Seife, das erzählt seine Tochter in der oben erwähnten FA-Beilage, den Kopf des Prinzregenten Luitpold formte, stand für die Familie fest: Johannes wird Bildhauer. Nach der Schule studierte Johannes Oertel drei Jahre bei Prof. Max Heilmeier an der Nürnberger Kunstgewebeschule. Im Praktikum bei dem Rothenburger Steinmetz Riedel vervollständigte er seine Ausbildung in Steinbildhauerei und besuchte danach die Münchener Bildhauerschule Schregele.
Freiwillig in den Krieg, verletzt aus dem Krieg
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, legte Oertel Hammer und Meißel weg und zog mit Hurra und seiner „geliebten Gitarre“ freiwillig in den Krieg, nahm am schrecklichen Stellungskrieg im Westen teil. Seine Tochter: „So erntete er auch Beifall aus den französischen Schützengräben.“ Nach dem Krieg lernte er als Verwundeter im Luitpoldschul-Kriegslazarett in Rothenburg seine spätere Frau kennen, die ihn zuerst pflegte und dann ermunterte, seinen Beruf bei Prof. Bernhard Bleeker an der Kunstakademie in München weiter zu vervollkommnen. Seine Bewerbung für eine Professur an der Kunstschule Rheinland scheiterte 1927. Johannes Oertel ließ sich mit seiner Familie als freier Bildhauer in Rothenburg nieder.
Er war „Alter Kämpfer“ der NSDAP
Das neue Reich der Nationalsozialisten begrüßte der Bildhauer. Dennoch beurteilte ihn seine Tochter etwas an der Realität vorbei als „völlig unpolitischen“ Künstler. Das ist angesichts des frühen Eintritts Oertels in die NSDAP 1930 und seiner ehrenamtlichen Tätigkeit in der Partei als Blockwart und Mitglied des Stadtrates Schönfärberei. Sie schreibt, dass ihr Vater trotz seines Glaubens „an eine neue Zeit“ und des Wissens um die „Unzulänglichkeiten“ des NS-Regimes und um die Judenverfolgung „beruflich auf Staatsaufträge angewiesen“ war, „denn von den Porträtaufträgen alleine hätte er seine Familie nicht ernähren können“. – Eine entlarvende Begründung von vielen, die Karriere im Dritten Reich machten, indem sie wegschauten oder sich an den Verbrechen des Regimes aktiv beteiligten. Johannes Oertel schaute weg, war aber auch dabei. Er etablierte sich im neuen Reich, stellte im Domizil des Rothenburger Künstlerbundes am Marktplatz aus, dessen Mitglied er seit 1925 und zeitweise Vorsitzender war.
Johannes Oertel konnte von den Aufträgen, die ihm Staat und Kirche zukommen ließen, gut leben. 1935 fertigte er im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP, Hauptamt für Volkswohlfahrt, vier lebensgroße Architekturplastiken für die Ehrenhalle der Ausstellung „Der Feldsoldat“, „Der SA-Mann“, Der ehrenamtliche Helfer“ und „Mutter und Kind“ an. Ministerpräsident Ludwig Siebert bedankte sich am 19. Juli 1935 beim Reichsleiter für Volkswohlfahrt, Hilgengruber, mit der Bitte, den Künstler Oertel weiterhin mit Aufträgen zu unterstützen.
Steinerne Gefallenen-Tafeln brachten ihn wieder ins Geschäft
Dies änderte sich, als er im Zweiten Weltkrieg keine Aufträge mehr bekam und an das Landesbauamt Ansbach versetzt wurde, denn seine im Ersten Weltkrieg zugezogene Beinverletzung bewahrte ihn vor der Front. Dafür musste er Mauern bauen, in einer Munitionsfabrik arbeiten und dann doch noch als Volkssturmmann seine Heimat verteidigen. Vornehmlich mit dem Feuerwehrschlauch als es galt, nach dem Luftangriff vom 31. März 1945 das brennende Rathaus und weite Teile der Innenstadt zu löschen. Danach war er 14 Monate interniert, kam im Juni 1946 in einem schlechten gesundheitlichen Zustand wieder frei. Die Familie lebte von der Wohlfahrt und von dem Lohn, den Johannes Oertel in einer Rothenburger Fabrik verdiente. Da es in jeder Stadt und jedem Dorf Kriegstote gegeben hatte, kam Johannes Oertel wieder ins Geschäft. Er bekam Aufträge, Ehrenmale mit Namenstafeln zu fertigen. Längere Zeit arbeitete er an den Totentafeln mit über 10.000 Buchstaben in der Blasiuskapelle im Burggarten von Rothenburg. Seine Tochter: „Diese Aufgabe befriedigte ihn nicht nur, sie sicherte auch seinen Lebensunterhalt.“
1973 mit der Verdienstmedaille der Stadt ausgezeichnet
Es ging wieder aufwärts. Johannes Oertel ersetzte im Auftrag des Landesamts für Denkmalschutz so manche beschädigte Steinfigur an öffentlichen Bauwerken. Auch kopierte er die 14 figürlichen Darstellungen am Baumeisterhaus, die Schmuckportale am ehemaligen Lateingymnasium (Jakobsschulhaus) und Brunnenfiguren. Er bekam Aufträge in Bayreuth und Ellwangen, Weikersheim und Würzburg. 1973 überreichte ihm der Oberbürgermeister die Verdienstmedaille der Stadt Rothenburg. – Johannes Oertel starb am 3. Februar 1976. Im Nachruf schrieb der Berufs- und frühere NSDAP-Kollege Ernst Unbehauen die hehren Sätze:
„Bildhauer Johannes Oertel ist tot! Ein Künstler, weit bekannt und geschätzt, ein Mensch voll liebenswürdiger Kameradschaft und Treue ist ausgelöscht! Sein Leben war das Leben eines Menschen, der von der ewigen Sehnsucht nach künstlerischer Vollkommenheit und menschlichem Edelmut erfüllt war!“
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Quellen: Rosemarie Richter geborene Oertel: „Johannes Oertel (1893-1976). Ein Künstlerleben in bewegter Zeit – Zu seinem 100. Geburtstag“ in „Die Linde“ 4/93. – Daniel Bauer „Ludwig Siebert und die Stadt Rothenburg ob der Tauber“ in „Die Linde“8/2011, 9/2011, 10/2011. – Manfred H. Griebs (Hg) „Nürnberger Künstler-Lexikon: Bildende Künstler, Kunsthandwerke, Wissenschaftler, Sammler, Kulturschaffende und Mäzene vom 12. bis Mitte des 20. Jahrhunderts“, 2046 Seiten, De Gruyter Sauer, 2007. – Weitere Quellenangaben im Text.
Mich interessiert die Figur des “steinernen” Sackpfeifenspielers.
1) Aufgrund der grünen Färbung hätte ich hier Bronze als Material vermutet und die grüne Farbe als Patina.
2) Wann bitte ist diese Figur entstanden? Soweit ich informiert bin, ist die Schaffert-Chronik, die eine späte Variante der bekannten Augustinlegende enthält, erst 1955 ins Stadtarchiv gelangt. Natürlich könnte Oertel diese damals in Privatbesitz gewesene Chronik gekannt haben – doch Denkmäler dieser Art setzen doch einen lokalen Bekanntheitsgrad des zu würdigenden Ereignisses bzw. der betreffenden Sage voraus?