Von Wolf Stegemann
Mit den Büchern und Schriften, die von hoch- und weniger politischen, meist militärischen Geschehnissen berichten, denen die einstmals freie Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber ausgesetzt war – oder selbst initiiert hat –, ließen sich meterweise Regalbretter füllen. Einige der bekannteren Autoren sind Weigel, Schnitzlein und Ude-Bernays. Sie alle gehören schon selbst der Geschichte an und haben eins gemeinsam: Sie schrieben ausschnitthaft aus ihren Blickwinkeln mit Anhaftungen der Zeit, in der sie lebten. Entsprechend sind ihre Einschätzungen, Formulieren, Weglassungen, Überhöhungen und Unterschätzungen. Die in jüngster Zeit erschienenen Geschichtsbücher über Rothenburg, deren Autoren einer anderen Generation entstammen, sind wünschenswert umfassender und objektiv geschrieben. Auch sie haben allerdings wieder etwas Gemeinsames. Kaum einer der Autoren widmet sich in seinen Rückblicken auf die Stadtgeschichte umfassend dem Nationalsozialismus, der in den Städten und Gemeinden wie Rothenburg handfeste und teilweise nachhaltige Unterstützung hatte. In der Literatur wird zwar auf die Jahre von 1933 bis 1945 eingegangen, aber nur marginal und mit oberflächlicher Betrachtung. Einfacher hatten es die Herausgeber des nun vorliegenden Sammelbandes „Rothenburg ob der Tauber – Geschichte der Stadt und ihres Umlandes“, Horst F. Rupp und Karl Borchardt. Denn Daniel Bauer, Oliver Gußmann und Joshua Hagen hatten bereits über die NS-Zeit bzw. das Judentum in Rothenburg veröffentlicht Auf diese drei Autoren konnten die Herausgeber zurückgreifen, welche dann die abscheulichsten Jahre der Stadt in neuerer Zeit dokumentierten.
In tausend Jahren Stadtgeschichte zwölf Jahre Nationalsozialismus
In dem vorzüglich edierten Sammelband über die tausendjährige Geschichte der Stadt machen die zwölf Jahre nationalsozialistische Herrschaft – gemessen an die Seitenzahlen des Buches – 33 von 616 Textseiten (mit Anhang 751) aus. Das ist rund Einzwanzigstel der tausend Jahre Rothenburger Geschichte im Buch. Diese 33 Seiten teilen sich die Autoren Oliver Gußmann, der über die Judengemeinde vom Zweiten Kaiserreich bis zur Vertreibung 1938 und ihre Nachgeschichte schrieb, Joshua Hagen mit seinem Beitrag, wie Rothenburg zum Kleinod deutscher Vergangenheit wurde, und Daniel Bauer, der sich mit der gescheiterten Demokratisierung sowie der darauffolgenden NS-Zeit befasste.
Daniel Bauer dokumentiert den Übergang der letzten Jahre der Weimarer Republik in die NS-Diktatur, wobei er feststellt, dass in Rothenburg bei Wahlen in den 1920er-Jahren der rechte Anteil der Stimmen kontinuierlich stieg und die Ergebnisse oft deutlich über dem Reichsdurchschnitt lagen. So auch bei den Reichstagswahlen 1924.
„Als Teil Mittelfrankens war Rothenburg innerhalb Bayerns bzw. im Reich eine Hochburg des Völkischen Blocks und damit auch der Nachfolgeorganisation der verbotenen NSDAP.“
Sodann führt Daniel Bauer den Leser durch die Propagandavielfalt der Nationalsozialisten, die nach 1933 ganz Rothenburg gleichgeschaltet hatten, berichtet über die Besuche von Hitler und seiner Paladine in der Stadt, die Rothenburg propagandistisch und kontinuierlich zur NS-Vorzeigestadt machten, woraus die Stadt ihren touristischen Profit zog. Bauer kommt zu dem Fazit:
„Inmitten der kleinstädtischen und ländlichen Idylle verbanden die Nationalsozialisten regionale Traditionen mit ihrer Weltanschauung, wie ,Blut und Boden’ sowie ,Volksgemeinschaft’. Die NS-Akteure vereinnahmten fränkische Traditionen wie den ,Frankenstolz’ mit seinen Ritualen und Symbolen. Damit erhielt die NS-Diktatur in Stadt und Land Rothenburg ob der Tauber eine genuin lokalspezifische Komponente.“
Joshua Hagen nimmt den Faden auf und knüpft an den Teilbereich Fremdenverkehr an. Der Tourismus, von dem die Stadt seit ihrem Aufwachen aus dem Dornröschenschlaf Mitte des 19. Jahrhundert erwachte, hatte von 1914 bis 1933 drei Krisen zu überstehen, schreibt der US-Historiker: Krieg, Inflation und Depression. Zu Beginn des Dritten Reiches kam es dann zu einer Erstarkung des Fremdenverkehrs, der durch die gewollte Politisierung des Tourismus durch die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ anstieg. Auch er widmet sich in seinem Aufsatz dem mittelalterlichen Stadtbild als Touristenmagnet, das 1945 fast zur Hälfte zerstört wurde, Der Wiederaufbau Rothenburgs versetzt aber dennoch ins neu gebaute Mittelalter zurück. In seiner Schlussbemerkung kommt Joshua Hagen u. a. zu dem Ergebnis:
„Die Attraktivität der Stadt findet man vermutlich weniger in ihrer historischen Substanz, sondern eher in ihrer symbolischen Kraft.“
In Oliver Gußmanns Beitrag „Die Judengemeinde vom Zweiten Kaiserreich bis 1938 und ihre Nachgeschichte“ steht die nationalsozialistische Verfolgung und gewaltsame Vertreibung der Rothenburger Bürger jüdischen Glaubens im Mittelpunkt. Detailliert schildert der Autor die Schicksale der Familien, von denen etliche schon viele Jahre hier gelebt hatten und sich am Vereins- und Handelsleben der Stadt rege beteiligten, bis ihnen alles genommen wurde. Zuerst die Würde, dann ihre Häuser und Wohnungen, ihre Führerscheine, Haustiere und Geschäfte, ihre Heimat und zuletzt den meisten ihr Leben. Gußmann berichtet von der Verdrängung dieses dunklen Kapitels der Rothenburger Geschichte danach, vom über Jahrzehnte anhaltenden Schweigen auch so mancher, die als Autoren anderer Artikel in diesem Sammelband vertreten sind. Doch die junge Generation verlangte nach Wissen, was mit den Juden in der Stadt zwischen 1933 und 1945 geschah. Hier schildert der Autor aus eigenem Erleben, wie das Schweigen in der Stadt gebrochen wurde. Erinnerungstafeln wurden angebracht (2002, 2008), seit 2010 jährlich die „Woche der jüdischen Kultur“ veranstaltet, Stolpersteine verlegt (2013) und ab 2014 die NS-Geschichte der Stadt Rothenburg erforscht und auf diesen Seiten, die der geneigte Leser gerade im Blickfeld hat, dokumentiert.
Eine Stadt der Architekturen und Überlieferungen
Auf den übrigen 592 Seiten des Sammelbandes Rothenburger Geschichte wird der Leser von Horst Brehm, der kürzlich verstorben ist, auch zurück in die Vor- und Frühgeschichte der Rothenburger Landwehr und in die Altstadtarchäologie entführt, Wolf-Armin von Reitzenstein klärt über den Ortsnamen auf, Karl Borchardt berichtet über die Burg und Stadt unter den Staufern, Markus Naser führt durch das Spätmittelalter, Claudia Steffes-Maus schildert das mittelalterliche jüdische Rothenburg und Florian Huggenberger macht dem Leser die frühe Neuzeit mit Reformation, Dreißigjährigem Krieg, Aufklärung sowie der Rothenburger Landwehr lebendig.
Der Romantik Rothenburg widmet sich Thomas Biller, der Gotik, der Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie dem „Meistertrunk“ Hellmuth Möhring, der Renaissance sowie dem Kunstschaffen des Barock und Rokoko Karl-Heinz Schneider. Über das 19. Jahrhundert berichtet Gabriele Moritz – mit Claudia Steffes-Maus die einzigen beiden Frauen in der Riege der 18 geschichtsträchtigen Herren – über den Neubeginn im 19. Jahrhundert. Rothenburg im Kaiserreich von 1871 bis 1918 beschreibt Georg Seiderer, die NS-Zeit die bereits ausführlich erwähnten Autoren Daniel Bauer, Oliver Gußmann, Joshua Hagen und die Zerstörung und den Wiederaufbau Hanns-Jürgen Berger und Tobias Lauterbach. Über Kirchen und Vereine schrieb Richard Schmitt und die Zeittafel stellten Karl Borchardt, Horst F. Rupp und Ludwig Schnurrer auf. – Fast alle Autoren sind promoviert, etliche haben Professuren.
„Ein Meilenstein in der Stadtliteratur“
Die Herausgabe von Sammelbänden verschiedener Autoren ist für Herausgeber und Verlag immer ein schwieriges Unterfangen. Schwierig im Falle des vorliegenden Rothenburger Buches, weil die Vielzahl der ohne Honorar arbeitenden Autoren in ein möglichst einheitliches Konzept unterzubringen waren. Liest man im Anhang des Buches die Tätigkeitsfelder der Autoren, dann weiß der Kundige, wie schwierig und zeitraubend dies gewesen sein mochte. Aber die eine oder andere Schwachstelle des Buches mag den enormen Facettenreichtum nicht berühren. Dass manche Texte (wenn auch nicht wörtlich) bereits veröffentlicht waren, mag dem immerhin mehrere Jahre benötigten Zeitaufwand Erleichterung verschafft haben. Über die Probleme, ein solches Buch vorzulegen, und speziell dieses, darüber gibt das Vorwort der Herausgeber Auskunft.
„Es ist eine sehr gelungene Reise durch mehr als tausend Jahre örtlicher Geschichte“, schreibt Dieter Balb im „Fränkischen Anzeiger“ und setzt hinzu: „Das Werk ist einen Meilenstein in der Stadtliteratur, denn bislang fehlte solch eine fachlich fundierte Sammlung. Den Herausgebern Dr. Horst F. Rupp und Dr. Karl Borchardt sowie den Autoren gilt große Anerkennung.“ – Dem kann nur beigepflichtet werden.
- Horst Rupp, Karl Borchardt: „Rothenburg ob der Tauber. Geschichte der Stadt und ihres Umlandes“, zahlreiche farbige und s/w-Abbildungen, Theiss Darmstadt, 2015
Artikel von Dieter Balb im „Fränkischen Anzeiger“ Rothenburg ob der Tauber: