Vorbemerkung: 19. August 2014. – Dieser Text ist ein Auszug aus dem 2012 erschienenen Buch der 1924 in Rothenburg geborenen Erika Wörthmann, das sie unter dem Titel „Erika lach nicht! Die alltägliche Geschichte einer Kindergärtnerin (1947-1952)“ im „book on demand“-Verfahren herausgegeben hat. Nach dem Krieg heiratete Erika Probst Richard Wörthmann. Sie starb im Juni 2014 in Rothenburg ob der Tauber. Ihr Vater, Karl Propst, war Vermessungsbeamter bei der Stadt Rothenburg. Die Tochter Erika lernte als Kindergärtnerin und war im erwähnten Zeitraum ihrer Erinnerungen in verschiedenen Gemeinden als Kindergärtnerin tätig wie Nürnberg, Neuendettelsau, Gunzenhausen und Ipsheim. Immer wieder kehrte sie in dieser Zeit nach Rothenburg zurück, um ihre Eltern zu besuchen, im Urlaub, um ihrer Mutter beim Kriegsende beizustehen, als der Vater beim Volkssturm und anschließend kurze Zeit in amerikanischer Gefangenschaft war. Wo sie auch immer war, stets erinnerte sie sich an Geschehnisse in Rothenburg, auch weiter zurückbesinnend an das Jahr 1933. So beschreibt sie aus der Sicht eines jungen Mädchens das, was sie im nationalsozialistischen Rothenburg gesehen und erlebt hat und versucht, es aus zeitnahem Wissen bzw. Nichtwissen einzuordnen. Dabei scheint sie da oder dort auch damaliges Wissen mit dem heutigen vermengt zu haben.
Ihre Familie war nationalsozialistisch, dennoch mochte sie ihren Vater nicht in der braunen Uniform und in Stiefeln sehen. Da war sie gerade neun Jahre alt. Sie mochte ihn als freundlichen Herrn, der seinen Hut zum Grüßen abnahm, wie sie schreibt. Sie selbst war ebenfalls ns-organisiert, etwas Anderes kannte sie nicht. Als junges Mädchen verehrte sie Hitler zutiefst und konnte nach Kriegsende gar nicht glauben und schon gar nicht begreifen, dass ihr „Parzival“ ein Verbrecher war. Anfangs fragte sie sich, ob die Nachrichten über den millionenfachen Mord an Juden und anderen nicht doch Feindpropaganda seien! Ihre Sprache ist einfach und eindringlich. Faszinierend ist ihre Offenheit in der Darstellung ihrer Sicht auf das, was sie als Mädchen und junge Frau in Rothenburg vor 1945 und danach erlebt und gesehen hat. Eine Sichtweise, die einfach ist und nicht in der Weise geschönt wie bei vielen Politiker und Amtsvertretern. – Für die nachfolgenden drei Artikel haben wir aus 140 Seiten Textpassagen ausgewählt und hier mit angepasster Rechtschreibung unkommentiert veröffentlicht – W. St.
1933 gab es viele Veränderungen in Rothenburg
„Auch der Teufel schützt die Seinen!“ Ungewohnt scharf stößt Schwester Therese die Worte hervor, nachdem wir aus dem Radio vom missglückten Attentat auf Hitler hören. Es ist der 20. Juli 1944. Mir fährt der Schrecken durch alle Glieder: „Ohne ihn können wir den Krieg nicht gewinnen!“ Spöttische Blicke der fünf Schwestern treffen mich. „Und wie stellen Sie sich einen gewonnenen Krieg vor, Fräulein? Wissen Sie denn nicht, dass zuerst die Juden verschwanden, dann das so genannte unwerte Leben, und nach dem Krieg werden es die Kirchen sein. So ein Friede würde schrecklich!“ Entsetzt höre ich Schwester Linas Worte, hat sie recht? Vor allem wird es wieder ein furchtbares Blutgericht geben, das über die Verschwörer und ihre armen Familien hereinbrechen wird, Sippenhaft nennt man es wohl. Am nächsten Tag bin ich daheim. Der Blockwart kommt in jedes Haus: „Es wird erwartet, dass alle Einwohner an der Dankkundgebung am Marktplatz teilnehmen, für die glückliche Bewahrung unseres Führers.“
Ich lasse mich durch die Gassen treiben, höre und verstehe kein Wort von den überschwänglichen, zugleich hasserfüllten Tiraden des Redners. Was ist nur mit mir los? Wieso war ich lange Zeit begeistert von Hitler, er war Siegfried, Parzival und Lohengrin für mich, von Gott gesandt, unserem Volk aus der Not und Schmach zu helfen. Wie oft wurde schon in den unteren Schulklassen vom schmachvollen Versailler Frieden gesprochen, der größten Schande, die über Deutschland kam, vom Erbfeind über uns gebracht, ohne eigene Schuld. Begeistert sangen wir mit unserem Lehrer: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall, zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein, wer soll des Stromes Hüter sein? Lieb Vaterland magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein.“
Unter einem Fackelzug lauter kleine Ferkel vorgestellt
Dann die große Armut im Lande, auch in Rothenburg zu sehen. Vor den Toren der Stadt kampieren Menschen in alten Eisenbahnwaggons, weil sie ihre Miete nicht bezahlen konnten, in der Paradeisgasse liefen die meisten Kinder mit abgetragenen Kleidern, die Buben mit durchgewetzten Hosen und kahl rasierten Köpfen herum, um den Frisör oder Bader zu sparen. Acht Jahre war ich alt, als Hitler Reichskanzler wurde. Aufgeregt rief damals mein sechzehnjähriger Bruder Georg durch das Haus: „Der Hitler ist Reichskanzler und heute Abend ist Fackelzug, da marschier’ ich mit!“ Wer beschreibt meine Enttäuschung am Abend, als ich mit der Mutter an der Ecke zur Galgengasse stand, als Männer mit brennenden Stäben, singend, in braunen Uniformen näherkamen. Stellte ich mir doch bis dahin unter dem Begriff „Fackeln“ kleine, quietschende Schweinchen vor, wie ich sie an manchen Samstagen am Schweinemarkt gesehen hatte, wenn ich an Vaters Hand ihrem lustigen Treiben zusah. Voller Verachtung rannte ich heim, was war das schon groß?
Vater war anfangs nicht gut auf Hitler zu sprechen …
Langsam veränderte sich alles in Rothenburg. Auf den Straßen Marschschritte, Trommeln, Fanfaren und Pfeifen. Es marschierten SA, SS, bald der Reichsarbeitsdienst, die Hitlerjugend, mir gefielen am besten die Pimpfe in ihren schwarzen Uniformen. Fanfaren, Fahnen und Landsknechtstrommeln zogen ihnen voraus, BDM und Jungmädel. An wichtigen Tagen, wie Führers Geburtstag, waren die Hauptstraßen beflaggt, nun sollten auch aus den Häusern der Nebenstraßen die Hakenkreuzfahnen wehen.
Mutter nähte aus rotem und schwarzem Fahnenstoff sowie aus einem alten Betttuch eine Hakenkreuzfahne. Aus dem zweiten Fenster hing die schwarzweißrote Fahne. „Wo kommt die Weißblaue hin?“ fragte die Großmutter. Der große Bruder lachte sie aus: „Wer braucht denn die noch, oh Großmutter!“ Öfter lachte er jetzt über sie, über ihre frommen Worte, ihre Gebete wollte er nicht mehr hören.
Mutter nähte aus Tüchern eine Hakenkreuzfahne
Vater, der früher nicht gut auf Hitler zu sprechen war, änderte langsam seine Meinung. Eines Tages sah ich ihn die Paradeisgasse hochkommen in einer braunen Uniform und schwarzen Schaftstiefeln. Mein Schönheitssinn empörte sich, wie fremd und unvorteilhaft sah Vater aus. Viel schöner war es mit Hut, Anzug und Stock, wenn er mit mir Sonntagfrüh die Herrngasse hinunterging, mir in der Burg eine Eismilch mit Waffel spendierte. Wie lustig schwenkte Vater den Stock in der Luft, zog höflich grüßend seinen Hut vor den Leuten. Er war ein Herr und ich war stolz auf ihn. Und nun diese Verwandlung: er trug braune Uniform und hatte sonntags „Dienst“.
Irgendwann stand ich auch nach der Schule in Reih und Glied mit anderen Mädchen. Ein großgewachsener Hitlerjugendführer sprach zu uns: „Ihr werdet heute, liebe Mädels, in die Gruppe der Jungmädel aufgenommen. Nun gehört ihr unserem Führer, seid stolz und macht ihm Ehre. Seid zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie die Windhunde!“ Wir nannten unsere Namen, eine Führerin nahm mich und einige andere Mädels aus der Reihe, ernannte uns zu Mädelschaftsführerinnen. Als nächstes mussten wir uns einkleiden. Mutter nähte und kaufte ein: einen dunkelblauen Rock mit Mittelfalte, dazu eine kurzärmelige, weiße Polobluse, ein schwarzes Halstuch, das durch einen braunen, geflochtenen Lederknoten gezogen wurde und eine hellbraune Kletterweste. Meine Füße steckten in weißen Baumwollsöckchen und braunen Haferlschuhen, die langen, braunen Zöpfe baumelten am Rücken. Ich hielt „Dienst“ und nahm es ernst. Sieben Mädels hörten mir zu, wenn ich ihnen vorlas. Wir sangen, bastelten, marschierten, sammelten für das Winterhilfswerk. Ich war stolz darauf, in einer „großen“ Zeit leben zu dürfen, in der das Reich erneuert wurde, das unsere Zukunft war. Bei Kriegsbeginn führte ich ein Kriegstagebuch, in meine Zelle in Neuendettelsau heftete ich mit Reißnägeln eine Hitlerpostkarte, die ich irgendwann wieder abnahm. All das geht mir durch den Sinn auf dem Heimweg vom Marktplatz. Und nun wäre es besser gewesen, Hitler wäre tot? Ich wage nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Daheim verkrieche ich mich mit einem Buch in eine Ecke, wie so oft.
Mutter nach Wasserzell evakuiert
Am Rothenburger Bahnhof klettern wir steif, doch voll Vorfreude aus dem Auto. Lina versichert mir, dass ich jederzeit zu ihr kommen kann, wenn nirgends Platz für mich ist. Ich freue mich über ihr Angebot, hoffe aber, dass ich keine Hilfe brauche. In der Siebertstraße wohnt meine Schwägerin Berti mit Eltern und Klein-Irmela, jetzt auch meine Eltern und Schwester Marianne. Mein Herz klopft während ich die Treppe hochsteige. Auf mein dreimaliges Klingeln öffnet niemand. Vielleicht schlafen alle im Keller, es ist ja noch früh am Morgen, und Daueralarm, wegen akuter Luftgefahr. Wirklich, in einem Kellerabteil liegt meine zweijährige Nichte in einem Holzkistchen und schläft. Berti umarmt mich, ihre Eltern begrüßen mich freudig. „Wo sind sie alle? Mutter, Vater und Marianne?“
Bertis Vater bringt mir schonend bei: „Dein Vater ist mit dem Volkssturm in der Fliegerschule, Marianne und Deine Mutter wurden zusammen mit anderen ausgebombten Obdachlosen nach Wasserzell bei Eichstätt evakuiert.“ Maßlose Enttäuschung überkommt mich, ich unterdrücke meine Tränen. Nun beseelt mich nur noch ein einziger Gedanke: Ich muss auf schnellstem Wege in die Fliegerschule (früher Reichsmodellbauschule) zu meinem Vater.
Ich sehe nur Ruinen und Trümmerhaufen
„Das kannst Du nicht, es ist akute Luftgefahr! Hast Du nicht die Sirene gehört?“ Alle Drei reden auf mich ein. Niemand kann mich aufhalten. Ich gehe die Treppe wieder hoch und verlasse das Haus. Der hohe Warn-Ton der Sirene begleitet mich die lange Ansbacher Straße entlang. Dumpfes Kanonengrollen kommt aus Richtung Uffenheim. Ich denke an Willi und seine Familie. Die Straße ist leer, kein Mensch begegnet mir. Ich bin ohne Angst. Vor dem Gebäude der Fliegerschule verwehrt mir ein Soldat den Zutritt. „Ich möchte meinen Vater, Karl Probst sprechen!“ … Ein zweiter Soldat kommt dazu: „Sie sind seine Tochter? Bitte reden Sie mit ihm, er macht uns große Sorge. Er isst kaum etwas, hat seinen Humor gänzlich verloren. Bitte muntern Sie ihn auf!“ Beide führen mich in einen Schlafsaal.
Vater liegt auf einer blanken Matratze in einem Stockwerkbett. Wir umarmen uns wortlos, unter Tränen. „Warst Du schon in der Stadt, an unserem Haus?“ – „Nein!“ – „Dann gehen wir jetzt zusammen!“ Je näher wir der Stadt kommen, umso enger wird mir ums Herz. Schwerer, dumpfer Brandgeruch liegt über der kaputten Stadt. Die Dächer der Stadtmauer sehen traurig aus, sie sind beschädigt, abgedeckt. Auf dem Weg durch die sonst so vertraute Galgengasse bietet sich uns ein schrecklicher Anblick.
Ich sehe nur Ruinen, Trümmerhaufen, kaum ein Haus steht mehr unversehrt da. Der Weiße Turm ist ohne Dach, was ist aus der einst stattlichen Straße geworden? Klopfenden Herzens gehe ich mit Vater die Paradeisgasse hinunter, suche seine Hand, wie früher als kleines Kind. Nur der Teil einer Wand ist stehengeblieben von unserem Haus, alles andere ein einziger Trümmerhaufen. Schweigend stehen wir davor, ich beiße meine Zähne zusammen, Vater hat selbst schwer daran zu tragen, ich will ihm nicht auch noch Kummer machen. Wir gehen noch ein Stückchen weiter zusammen. Stollengasse, Pfarrgasse, Milchmarkt, Kapellenplatz sind ein einziges Bild der Verwüstung. Vom Renaissancebau des Rathauses steht noch die Fassade. „Erika, Du solltest unbedingt nach Wasserzell zu Mutter und Marianne“, bittet mich Vater. „Nein, ich bleibe hier bei Dir, mich bringt niemand mehr weg!“ – „Ich lasse Dich aber nicht gerne allein hier, der Volkssturm kann jeden Tag, schon morgen, zum Einsatz gerufen werden, da muss ich mit!“ Ich kann es nicht begreifen, Vater sieht nicht gesund aus. Der Volkssturm ist das letzte Aufgebot, alte Männer, halbe Kinder sollen noch den Feind aufhalten mit dem Mut der Verzweiflung.
Amerikaner sind 15 Kilometer vor der Stadt – Flucht
In Rothenburg kann jeden Tag der Feind eindringen, er steht fünfzehn Kilometer vor unseren Toren. Am nächsten Morgen ziehe ich mit Bertis Familie und einem Handwagen, auf ihm einige Koffer, das hölzerne Schlafkistchen für Irmela, in den Felsenbunker am alten Brauhaus. Nachmittags stecke ich mit Berti Kartoffeln im Garten meiner Eltern in der Jahnstraße. Geschosse pfeifen über uns hinweg, dumpfe Einschläge kommen näher. Nachts sitzen wir mit anderen Leuten im Felsenbunker. Am Samstag kommt Vater, um mich in die Herrngasse, zur Kreisleitung, zu begleiten. Ich trage noch immer die ungeliebte [Flakhelferinnen-]Uniform, ich besitze nichts anderes. Samstagmittag steigen auf den Bulldog: Soldat Herbert, Udo, ein schwerbeschädigter Jungbannführer mit einem Bein, und ich. Ein letzter Blick auf Vater, das Gefährt tuckert los. Am Eckhaus Wenggasse / Schmiedgasse klebt ein rotes Plakat. Ein Mann aus Brettheim, namens Uhl, zum Tode verurteilt, ist flüchtig. Ich bange mit ihm, ernte deshalb einen verächtlichen Blick des Jungvolkführers, der in schwarzer Uniform, mit weißer Schulterschnur, Affenschaukel genannt, neben mir sitzt.
Mit Mutter und Schwester in Wasserzell wieder vereint
Am Wildbad, HJ-Musikschule, wird Wäsche und ein Berg Matratzen aufgeladen. Langer Halt in Schillingsfürst. Der Fahrer will auf den Einbruch der Nacht warten, um nicht von Tieffliegern bemerkt zu werden. Im Dunkeln fahren wir weiter, ohne Licht. Trotzdem brausen immer wieder Jabos auf uns zu, wir hüpfen in Windeseile vom Anhänger herunter, verstecken uns unter ihm. Ich bewundere Udo, wie er sich mit nur einem Bein und zwei Krücken hinunter und ebenso schnell wieder auf den Anhänger schwingt. Oft bleibt das Gefährt im Wald stehen, hier sind wir sicherer. Langsam tuckern wir weiter. Zu dritt liegen wir auf den Matratzen und schauen in den Sternenhimmel. Dann singen und scherzen wir. Udo lehrt uns das Lied vom „Chianti-Wein, der lädt uns alle ein…“ Ich komme mir beschwipst vor, ohne Wein. Diese Nacht werde ich nicht schlafen. Doch bald darauf schläft Emil ein und wir sind nur noch zu zweit. Die Sterne leuchten und glühen am nachtschwarzen Himmel. Eine Sternschnuppe fällt: „Wünsch Dir was!“ Vielleicht denkt Udo an das Mädchen, von dem er mir erzählt hat, ich denke an Willi. Aber dieser schreibt immer nur von Freundschaft, dem edelsten aller Gefühle. Willi, Udo, in meinem Kopf geht es durcheinander und wie ich aufwache, graut der Morgen und ich liege an Udos Brust. Auch Emil ist wach, wir stellen fest, dass wir alle drei einen Riesenhunger haben. Unsere Vesperbrote legen wir zusammen und teilen sie redlich. Bald müssen wir uns trennen, wir nähern uns Wasserzell. „Vergesst mich nicht!“ – „Nein, Du uns auch nicht!“ An einem Brunnen steht meine Schwester Marianne und pumpt Wasser. Ein Freudenruf aus zwei Kehlen! Lange winke ich den Freunden nach, den Gefährten dieser Nacht. Dann führt mich Marianne, ich kann es kaum erwarten, zu unserer Mutter. In einer kleinen, schmalen Stube sitzt sie und weint vor Freude, als mich Marianne zu ihr bringt. Ich bin glücklich, mit den Beiden vereint zu sein.