Von Wolf Stegemann
Über die Vertreibung der Juden informieren in dieser Online-Dokumentation auch andere Artikel. Dieser Bericht informiert darüber, wie die Stadt vier Tage nach der Vertreibung der letzten jüdischen Bürger am 22. Oktober 1938 dieses Ereignis feierte. Der „Fränkische Anzeiger“ berichtete am 27. Oktober in der üblichen schwülstigen und pathetischen Schreibweise. Der heutige Leser soll einen möglichst authentischen Einblick in die ganze Erbärmlichkeit und das verlogene hohle Pathos des Nationalsozialismus und der Berichterstattung darüber erhalten. Verantwortlicher Chefredakteur (Hauptschriftleiter) beim „Fränkischen Anzeiger“ war damals der Rothenburger Wilhelm (Willi) Junker, der zudem „NSDAP-Kreispresseamtsleiter beim Fränkischen Anzeiger“ war. Dieses Amt degradierte die Lokalzeitung zu einem propagandistischen Verlautbarungsorgan der NSDAP. Dies sollte der Leser wissen, wenn hier Auszüge des „Fränkischen Anzeigers“ wiedergegeben sind.
„Unser Rothenburg ist judenfrei!“
Was ist Freude? Sie ist eine Beglückung, eine helle oder heitere Stimmung. Für Friedrich Schiller ist Freude ein göttliches Prinzip, wie in seinem Gedicht „An die Freude“ zu lesen ist („Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium“). Freude ist das Prinzip, welches alles Leben antreibt („Freude, Freude treibt die Räder in der großen Weltenuhr“). In der Freude fühlt man sich wohl, es sind im Augenblick alle seelischen Bedürfnisse erfüllt. Sie kann sehr verschiedene Formen und Stärken von angenehmen Gefühlen annehmen. Sie kann sich nach außen auf der ganzen Skala zwischen einem Lächeln und einem Freudenschrei äußern. Wer sich freut, dem kann man diesen Zustand am Gesicht ablesen: entspannte Muskulatur, lächelnde Augen und ein lächelnder Mund, ein heiteres Gesicht. Nicht so bei den Rothenburger Nazis, ob Bonzen oder Mitläufer, die ihre „Freude“ tagelang propagandistisch und medial immer wieder herausschrien. Damit zeigten sie in ihrer „Freude“ über das judenfreie Rothenburg die hässliche Fratze des Nationalsozialismus. Nachzulesen im „Fränkischen Anzeiger“ vom 22. und 27. Oktober 1938, dessen Berichterstatter sich über diese „Freudentage der Rothenburger“ (Überschrift) anlässlich der Vertreibung der jüdischen Einwohner selbst zu freuen schien. Andere Überschriften zum Thema lauten: „Unser Rothenburg ist judenfrei – ein jahrhundertelanger Abwehrkampf unserer Vorfahren hat seine Erfüllung gefunden“ und „Nie wieder wird ein Jude nach Rothenburg zurückkehren“.
„Mein Gauleiter! Franken voran! Heil Hitler!“
Kreisleiter Karl Steinacker schickte am Tag, an dem er die letzten jüdischen Einwohner aus Rothenburg gewaltsam vertrieben hatte, dem Gauleiter Julius Streicher in Nürnberg ein Telegramm:
„Mein Gauleiter! Am 2. Februar 1520 verließen einst alle Juden Rothenburgs die Tauberstadt. Nach nahezu 330jährighem Abwehrkampf des Rates der Stadt konnten die Juden wieder in Rothenburg Einzug halten, nachdem im Jahr 1802 der Stadt das Selbstbestimmungsrechte genommen wurde. – Heute, im Zeichen des gewaltigen Geschehens dieses Jahres, melde ich Ihnen, mein Gauleiter, dass die Stadt und damit der gesamte Kreis Rothenburg wieder frei von Juden sind. Soeben haben die letzten Juden Rothenburgs – 20 Köpfe stark – die Stadt für immer verlassen. Franken voran! Heil Hitler! Ihr Steinacker.“
Brausende Beifallsstürme bei der Verkündung „Judenfrei!“
Bei einer NSDAP-Kreistagung im Wildbad, an der auch der stellvertretende Gauleiter Holz teilnahm, verkündete Kreisleiter Steinacker die gewaltsame Vertreibung der letzten jüdischen Bürger aus der Stadt. Er sagte:
„In der vergangenen Nacht haben die letzten Juden Rothenburgs, 20 Köpfe stark, die Mauern Rothenburgs hinter sich gelassen und zwar für immer, für ewige Zeiten.“ (FA: „Beifallsstürme brausen durch den Saal“). Daß sie nicht wiederkehren, dafür bürgt die nationalsozialistische Idee und die Bewegung und dafür ist jeder einzelne bereit, einzustehen.“
Nachdem Steinacker über die Vertreibung des Jahres 1520 berichtet hatte, kritisierte er die Kirche: Wenn es einst ein Geistlicher war, so Steinacker, der von der Kanzel der St.-Jakobs-Kirche herab den Juden den Kampf ansagte, so frage man sich heute umsonst, wo heute die Nachfolge jenes Mannes seien, der einst der Urheber der Judenaustreibung war.
Stellvertretender Gauleiter Holz beglückwünschte sodann im Namen des Gaues Kreisleiter Steinacker und die Stadt Rothenburg zu diesem Sieg. In dieser international bekannten Stadt hätten die Juden ja immer verstanden, ihre Daseinsberechtigung mit dem internationalen Charakter der Stadt zu beweisen… Man müsse sich immer vor Augen halten, dass die Juden in Rothenburg zum Teil sich systematisch in der Herrngasse ansässig gemacht haben, also in der Straße, in der einst Rothenburgs Patrizier wohnten. Sie wollten beweisen, dass sie sich als Herren in Rothenburg fühlten… Dies sei nun vorbei und die Zeit habe bewiesen, dass der Fremdenverkehr nicht nachgelassen, sondern eine Steigerung erfahren habe… Der Nationalsozialismus werde auch in Zukunft dafür sorgen, daß der Fremdenstrom nach Rothenburg nicht abreiße…“
In der aktuellen Vertreibung sahen die Nazis ein himmlisches Wunder
In der Berichterstattung des „Fränkischen Anzeigers“ über die Vertreibung 1938 und dem damit verbundenen öffentlichen und offiziellen „Freudentag“, den Partei und Stadtverwaltung am 26. Oktober mit „der ganzen Bevölkerung“ veranstaltete, wird erst einmal auf die Vertreibung der Juden im Jahre 1520 eingegangen, nach der damals Dankgottesdienste abgehalten worden waren. „Man dankte dem Schöpfer im Himmel“, so der unbekannte Berichterstatter (vermutlich Willi Junker) im „Fränkischen Anzeiger“, „dass er vom Volk die Last nahm, die der Jude schon damals für jeden ehrsamen, christlichen Bürger der Stadt bildete.“ Weder 1520 noch 1938 war es Gott, sondern die Menschen, 1938 die Nationalsozialisten, die sich in ihren Reden häufig gottgleich stellten. Im Vergleich mit der damaligen Vertreibung nennt der „Fränkische Anzeiger“ die Vertreibung von 1938 ein Wunder: „Wenn man […] die Ereignisse der letzten Tage [damit vergleicht], dann muß man wahrhaftig sagen, dass sich hier ein Wunder vollzogen hat. Der letzte Jude hat Rothenburg verlassen und wird nie mehr zurückkehren!“ – Übrigens besuchten Angehörige der jüdischen Familie Mann, die vertrieben worden waren, anfangs der 1950er-Jahre Rothenburg. – Und weiter heißt es in der Zeitung:
„Die Bevölkerung unserer Stadt und unseres Kreises ist von einer ehrlichen Freude darüber erfüllt, dass […] Rothenburg für immer judenfrei geworden [ist]. Und mit uns freuen sich alle anständigen Deutschen, mögen sie wohnen, wo sie wollen. Jeder Mensch, der erfährt, dass die alte deutsche Tauberstadt, die auf eine geschichtlich so reiche Vergangenheit zurückblickt, frei von Juden ist, m u ß sich hierüber freuen. In würdiger, eindrucksvoller Weise hat die Bevölkerung Rothenburgs ihrer Freude gestern Ausdruck gegeben. Die Geschichte wird einst von diesem Tag als von einem wahren Freudentag der Bevölkerung sprechen. Kommende Generationen werden einst noch von diesem denkwürdigen Tagen reden und werden uns beneiden, dass sie nicht zu einer Zeit lebten, in der es uns vergönnt war, Zeugen der größten geschichtlichen Epoche zu sein, die das deutsche Volk je erlebte.“
Weiter meint der Berichterstatter, dass vor allem die Rothenburger Jugend die „richtige Erkenntnis von der Größe und Bedeutung dieser Tage erfassen und in sich aufnehmen“ müsse. NSDAP-Kreisleiter Karl Steinacker hatte zur Eröffnung des „Freudentags“ eine Jugendkundgebung angesetzt, die „den jungen Herzen unauslöschliche Eindrücke“ vermitteln sollte. Dies geschah in der Judengasse. Unter Führung von Lehrern rückte um 10 Uhr von allen Schulen Rothenburgs die Schuljugend an. Dabei waren auch Fahnenabordnungen und der Spielmannszug der Hitlerjugend, des Jungvolks und des Bundes Deutsche Mädel (BDM). Ihnen machten Kreisleiter Steinacker, Ortsgruppenleiter Götz sowie Bürgermeister Dr. Friedrich Schmidt deutlich, welchem „großen Ereignis“ sie mit der Vertreibung der Rothenburger Juden beiwohnen durften. Ortsgruppenleiter Götz“ rief der Schuljugend zu:
„Ihr seid Bürgen dafür, dass, wenn wir einst aus dieser Welt gehen, ihr unser Erbe antretet und es wieder euren Nachkommen hinterlasst, daß ihr dafür sorgt, dass Rothenburg für ewig frei von Juden und damit eine deutsche Stadt bleibt.“
Die Stadt war in ein blutrotes Fahnenmeer getaucht
An diesem Tag war die Stadt ein einziges Fahnenmeer. Dies wurde inszeniert. Mittags gab die Feuersirene das Signal zum schlagartigen Einsatz der Beflaggung mit den roten Hakenkreuzfahnen. Sechseinhalb Jahre später sollten wieder die Feuersirenen losgehen, als Bomben die Hälfte der Stadt mit loderndem Feuer überzogen.
Doch 1938 genossen die Rothenburger noch ihre gemeinsamen „Stunden der Freude“. Hatte sich die Partei vormittags der Jugend zugewandt, so richtete die NS-Frauenschaft am Nachmittag den Bedürftigen und Alten im Gasthof „Zum Ochsen“ einen „frohen Nachmittag“ aus. Auf dem Programm standen ernste und heitere Vorträge, Musik, Kaffee und Kuchen sowie antisemitische Reden der „Hoheitsträger“. Das alles fand Erwähnung in der Zeitung, auch, dass das von Rothenburger Bäckern gestiftete Backwerk weder an Menge noch Güte nichts zu wünschen übrig ließ. Bevor die Männer und Frauen das Gebäck genießen konnten, mussten sie der Rede der Kreis-Frauenschaftsführerin Schübel zuhören. Dazu der „Fränkische Anzeiger“:
„In markanten Strichen zeichnete sie dabei ein Bild des Juden, der durch Jahrhunderte hindurch das deutsche Volk im Großen und die Stadt Rothenburg im Besonderen geknechtet hat und wies damit nach, welch große, heute von vielen Volksgenossen in seiner Bedeutung noch gar nicht erkannte Tragweite diese Tage besitzen, an denen der letzte Jude sie Stadt und den Kreis Rothenburg verlassen haben (sic!).“
Dann erklärte Frau Schübel, dass es ein Märchen „von unbekannter Seite“ sei, wenn Rothenburg als „jüdisches Jerusalem“ genannt wurde „und betonte unter dem freudigem Beifall der Menge, dass wir darauf verzichten, mit Jerusalem verglichen zu werden, dass wir hingegen stolz sind, in unserem Rothenburg die d e u t s c h e Stadt zu wissen, die nach dem Willen des Führers die schönste deutsche Stadt werden soll.“
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