Von Wolf Stegemann
Nachdem Theodor Schletterer 1911 den Schäfertanz wiederbelebte hatte, hob er zehn Jahre später die Hans-Sachs-Gilde aus der Taufe. Denn die humoristischen und deftigen Schwänke des Nürnberger Schuhmacher-Poeten Hans Sachs (1494 bis 1576) hatten es ihm angetan. Der „Fränkische Anzeiger“ schrieb darüber 1970, dass nach dem ersten Auftritt der „Hans-Sachser“, wie sie kurz genannt wurden und werden, bereits feststand, dass „Theodor Schletterer mit zu den besten Interpreten der Werke von Hans Sachs zählte“. Aus dem großen Repertoire der Schwänke hatte sich die Gilde folgende Stücke ausgesucht, wie Rolf Schreglmann, Sohn des späteren Vorsitzenden der Gilde, herausfand: Das heiße Eisen, Der gestohlene Schinken, Der Krämerskorb, Der Roßdieb zu Fünsing, Das Kälberbrüten, St. Peter auf Erden und Das böse Weib mit Worten, Kräutern und Steinen wieder gut zu machen. Gespielt wurde vor allem im Kaisersaal. Die Hans-Sachs-Gilde konnte zusammen mit dem Schäfertanz zum „Weltkongress für Freizeit und Erholung“ fahren, der vom 23. bis 30. Juli 1936 in Hamburg stattfand.
Fränkisches Brauchtum und Kunst hinaus in die Welt
Ausgewählt und eingeladen wurden sie von den NS-Organisationen „Deutsche Arbeitsfront“ und „Kraft durch Freude“, weil sie „fränkisches Brauchtum und bodenständige Volkskunst aus Franken am besten zeigten“. Der Fränkische Anzeiger schrieb dazu:
„Es ist müßig, über den Wert und die Bedeutung der Hans-Sachs-Vereinigung Bemerkungen zu machen. Wir Rothenburger wissen ganz genau, was wir an ihr haben und wenn sie sich nun anschickt, zusammen mit dem Schäfertanz nach Hamburg zu fahren, um dort vor den Augen der Welt die herrlichen Schwänke des Nürnberger Schusterpoeten zu spielen, dann wissen wir, dass auch unsere Hans-Sachser in Ehren bestehen und Heimatstadt und Heimatgau ehrenvoll vertreten.“
In Hamburg bestritt die Hans-Sachs-Vereinigung während des Weltkongresses einen Teil des Programms des „Fränkischen Heimatabends“ (siehe: Der Verein Schäfertanz: Sie tanzten vor dem Bischof von Canterbury und vor Nazigrößen in Hamburg, wo Theodor Schletterer zum Tee bei Joseph Goebbels eingeladen war).
Rothenburger spielten auf der Freilichtbühne am Hamburger Zoo
Im Juni 1938 ging die Hans-Sachs-Vereinigung wieder auf Reise. Wieder nach Hamburg, wo die NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ tagte. Gespielt haben die „Hans-Sachser“ auf der Freilichtbühne am Hamburger Zoo. Dazu Theodor Schletterer: „Es ist doch eigentümlich, dass immer und überall unsere Spiele so ein freudiges Echo finden, so viel Freude und Jubel bereiten.“ Von ihrem Hotelfenster aus erfreuten sich die Rothenburger Mimen erst einmal an dem Festumzug „Schönheit und Freude“. Theodor Schletterer schrieb begeistert: „Was an Form, Farbenpracht und Phantasie hier zu sehen war, grenzt ans Fabelhafte.“ Die einzelnen Regionen Deutschlands stellten sich mit ihren Figuren auf den Festwagen vor, beispielsweise die Franken auch mit Hans Sachs. Dann waren Märchenfiguren, Kinder als Gänseblümchen, Nussknacker aus dem Erzgebirge und Ähnliches zu sehen. Den Schluss des Zuges bildete der „Rhein“ mit seinen Burgen und farbenfrohen Bändern, die den Fluss darstellen sollten. „Einen unauslöschlichen Eindruck bot dieser Schluss“, so der Vorsitzende der Rothenburger Hans-Sachs-Vereinigung in seinem Bericht, „Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Dieser Festzug war ein Erleben.“ Am Abend übertraf allerdings ein Feuerwerk alles bis dahin Gesehene. „Dieses Feuerwerk war der Höhepunkt alles Dargebotenen. Eine Schilderung von der Größe, Schönheit und Kraft ist einfach unmöglich.“
Mit dem KdF-Ausflugsdampfer „Wilhelm Gustloff“ nach Rom
Überrascht und freudig waren die Rothenburger, dass sie anschließend mit 32 Gruppen anderer Nationen mit dem „Kraft durch Freude“-Dampfer „Wilhelm Gustloff“ zu einem Internationalen Volksschauspielfestival nach Rom fahren konnten. Mit dabei waren neben den Mimen auch der Gewerbeoberlehrer Ernst Unbehauen und der Obermusikmeister der Stadtkapelle Streckfuß. Die Schiffsreise begann am Dienstag, den 14. Juni. Bevor sie das Schiff betreten durften, mussten die Hans-Sachser die Zollstation passieren. Denn Devisen durften nicht ausgeführt werden. Dazu schrieb Schletterer: „Wir kamen hier alle, ohne behelligt zu werden, durch; denn der Zollbeamte sah es uns schon von der Ferne an, dass wir keine Devisen verborgen halten.“ Allerdings mussten sie ein Gutschein-Heft als Ersatz für Devisen vorzeigen. Einer der Hans-Sachser, Paul, hatte es in einer Gaststätte im Terminal liegen lassen und schrie: „Detor, i hob mei Heft nit!“ Mit Detor war Theodor Schletterer gemeint. Paul rannte zurück, wo er sein Gutscheinheft liegen gelassen hatte. Im letzten Moment kam er keuchend wieder an und rief freudig: „I hob’s!“ Das Schiff setzte sich Richtung Atlantik in Bewegung. Im Musiksaal des Schiffes gaben die Rothenburger ihre Schwänke zum Besten. Das Schiff fuhr unentwegt Tag und Nacht, passierte die französische Küste und führte an der spanischen entlang bis Lissabon.
- Wie die Erlebnisse der Hans-Sachser in Rom waren, darüber gibt es hier keine Information. Vielleicht weiß der eine oder andere Leser darüber Bescheid und informiert uns. Danke!
Zu einem Teil der Rothenburger Kultur geworden – bis heute
Vom 1. bis 9. August 1938 fand in ganz Deutschland, so auch in Rothenburg, eine „Reichsfestwoche der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ statt. Sie hatte den Sinn, den auf Reisen befindlichen Volksgenossen und Ausländern, die gerade in Deutschland weilten, zu zeigen, was die NSG „Kraft durch Freude“ im Reich alles macht, um dem „arbeitenden Volksgenossen in seiner Freizeit Erholung und Zerstreuung zu bieten“. Der „Fränkische Anzeiger“ schrieb dazu am 12. Juli 1938:
„Was wäre in unserem Rothenburg geeigneter als Hans Sachs’sche Kunst in den Dienst dieser idealen Bestrebungen zu stellen. Zahlreiche hier weilende fremde Gäste aus Deutschland und dem Ausland nahmen gestern Abend die Gelegenheit wahr, kernige deutsche Volkskunst, wie sie unsere Rothenburger Hans-Sachs-Vereinigung zu bieten vermag, kennen zu lernen.“
Theodor Schletterer war über drei Jahrzehnte Spielleiter der Hans-Sachser
Nach dem 2. Weltkrieg setzte die Gilde ihre Aufführungen im Kaisersaal des Rathauses fort. Die Aufführungen wurden durch eine Musikkapelle unter Leitung des Stadtkapellmeisters Georg Streckfuß eingeleitet. Für gewöhnlich standen drei Schwänke auf dem Programm. Nach dem Tod des Gründers Theodor Schletterer 1958 übernahm Max Schreglmann den Vorsitz der Gilde, der bereits seit den 1930er-Jahren Ensemblemitglied war.
Siehe auch:
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Zur Person Theodor Schletterer
1880 in Wertheim geboren, wohnte er bis 1958 in Rothenburg ob der Tauber. Der gelernte Kunstgärtner mit eigener Gärtnerei am Topplerweg und Geschäft in der Unteren Schmiedgasse war 1911 einer der zehn Gründer des Schäfertanzes und 1921 der Hans-Sachs-Gilde. Beide Vereinigungen leitete er Jahrzehnte lang und drückte ihnen seinen unverwechselbaren künstlerischen und erfindungsreichen Stempel auf. In seiner Person vereinigten sich der Dichter, der Tänzer, der Schauspieler und der Regisseur. Wie er seine Gewächse in der Gärtnerei mit Geduld, Vorausschau und viel eigenem Zutun zum Blühen brachte, so entwickelte er mit denselben Eigenschaften ein Stück Rothenburger Kultur und ließ sie blühen und gedeihen. Er schnitt die Hans-Sachser wie die Schäfertänzer auf Rothenburger Verhältnisse zu. Mehrmals versuchten auswärtige Tanzgruppen die Tanzfiguren der Rothenburger Schäfer zu übernehmen, was nie gelang. Als Schauspieler übernahm Schletterer meist selbst die Hauptrollen in den deftigen Schwänken von Hans Sachs, zu dessen besten Interpreten Schletterer gehörte. Die Laienbühne gehört heute zu den Besten dieser Art in der Bundesrepublik. Dabei zeigte sich Schletterer humorvoll, pointensicher und lebensnah. Er verstand es zu begeistern, sagen die Rothenburger, die ihn kannten. Nicht nur die Zuschauer, auch die Tänzer und Tänzerinnen, denen er als Oberschäfer voranschritt, sie „anpfiff“ und seine Schauspieler, denen er vormachte, wie man einen Hans Sachs auf die Bühne bringt. Theodor Schletterer war aber auch ein politischer Mensch und vertrat die Bayerischer Volkspartei vor 1933 im Stadtrat und nach dem Krieg die CSU.
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