Von Wolf Stegemann
Ihm raubte ein Kopfschuss im Ersten Weltkrieg das Augenlicht. Doch er sah mit der Seele die Türme der Stadt im Nebel und im Sonnenschein, er sah des Abends den sinkenden Glutball hinter der Engelsburg verschwinden und nachts den silbrigen Glanz des Vollmondes auf den Dächern liegen. Im Vorwort seines Buches „Das alte Rothenburg ob der Tauber“ schreibt Paul Heinrich 1926: „Was mir das Auge versagt, lässt mir die Seele erstehen!“ Die Seele war seine Frau Else, Tochter des Fotografen Alfons Ohmeyer, die ihm die Augen ersetzte, die Stadt erklärte und ihm vorlas, da er nicht sehen konnte.
Herausgekommen ist im Frühjahr 1926 ein ansehnliches Buch mit 174 Seiten, das die Gebr. Holstein in Rothenburg verlegten. Ein ansehnliches Buch deshalb, weil es, sieht man vom Vorwort ab, in einem erfreulichen Stil ohne überschwänglichem Pathos verfasst ist und wenig persönliche Stimmungsgrade erkennbar sind, also nicht so wie in Martin Weigels „Rothenburger Chronik“.
Doch einen Schönheitsfehler hat das Buch von Paul Heinrich. Es verschweigt einen Teil der jüdischen Geschichte der Stadt, nämlich den der grausamen Pogrome im 13. und 15. Jahrhundert und vollends den Beginn der neuen jüdischen Gemeinde im 19. Jahrhundert sowie deren soziales und kommunikatives Leben in der Stadt. Bei dem erwähnten Verfasser der „Rothenburger Chronik“ wissen wir, dass er schon frühzeitig Nationalsozialist war und unter diesem Aspekt die damals gegenwärtige jüdische Gemeinde weggelassen hat und länger zurückliegende historische Ereignisse anders gedeutet haben mag (siehe bitte Link noch einfügen
Und Paul Heinrich? Wir wissen es nicht. Wir wissen aber, dass er, wie er im Vorwort schreibt, darauf angewiesen war, was ihm andere als Information gegeben und vorgelesen hatten, dass er dann in seinem Buch verarbeitete. Natürlich auch seine eigenen Anschauungen. Augenfällig ist bei der Lektüre des Bandes nicht nur das Weglassen der Entwicklung der jüdischen Gemeinde in der neuen Zeit, auch wie er über Juden schreibt.
In den 38 Kapiteln des Buches hat die nicht nur innerjüdisch wichtige jüdische Gemeinde des Mittelalters bis 1520 kein eigenes Kapitel. Man findet Angaben über Juden marginal vielmehr da, wo er den Stadtspaziergang durch die Judengasse fortsetzt. Bei der Beschreibung der Juden und Darstellung seiner Gedanken, die ihm in der Judengasse kommen, bedient Paul Heinrich bewusst oder unbewusst antisemitische Klischees. Ihm fällt zur Judengasse nichts Weiteres ein, als zu schreiben: „Die kleinen Häuser mit der Rundbogentür lassen kaum vermuten, dass ihre einstigen Bewohner zuweilen über größeres Vermögen verfügten, als mancher Besitzer der Herrenhäuser.“ Danach beschreibt er das Haus des Stadthenkers und am Ende der Judengasse geht er nochmals auf die Geschichte der Juden ein, die vom Kaiser geschützt waren und die Stadt Rothenburg versuchte, „aus Juden herauszuholen, was sie nur konnte. Die Mittel, dies zu erreichen, waren nicht immer einwandfrei; doch verstand es die Stadt, bei Beschwerden der Judenschaft sich stets vor dem Kaiser zu rechtfertigen“. In einer weiteren Passage steht:
„Die Juden befassten sich ausschließlich mit Geldgeschäften [was nicht stimmt], wobei der Schuldner allerlei Sicherheit zu bieten hatte. Dadurch wurden viele Einheimische von ihnen abhängig und der Jude als Bedrücker empfunden. So entstanden die Judenverfolgungen; die im Laufe der Jahrhunderte sich mehrmals wiederholten und 1520 mit dem endgültigen Vertreiben der Juden endigte.“
Das zweite Buch in der Heinrichschen Publikation befasst sich mit dem Titel „Das religiöse Leben in der alten Reichstadt“ mit Kirchen und Klöstern. Die Synagogen der Juden kommen darin ebenso wenig vor, wie die seit dem 19. Jahrhundert wieder bestehende Gemeinde mit ihrer Gemeindehaus und Betsaal in der Herrngasse. Im dritten Buch, das sich mit dem Kommunal- und Bürgerleben befasst, kommen die Juden lediglich in der viel zitierten Predigt des Archidiakonus Seyboth von 1774 vor, der das Entstehen des historischen Schäfertanzes mit der geplanten und verhinderten Brunnenvergiftung der Juden erklärte, die durch Töten aller Rothenburger ihr Jerusalem errichten wollten. Eine oft zitierte Legende, mit der man die Judenfeindschaft und auch den Antisemitismus schürte und Opfer zu Tätern machte.
Wenn Paul Heinrichs Buch, wie der Titel es auch sagt, sich schwerpunktartig mit dem alten Rothenburg befasst, so leitet er doch immer wieder hin zur Gegenwart des angefangenen 20. Jahrhunderts. Wie gesagt, die jüdische Gemeinde und die jüdischen Bürger lässt er außer Acht.