Vorbemerkung: Zwei wesentliche Arbeiten haben Rothenburgs nationalsozialistische Vergangenheit umfassend und wissenschaftlich aufgearbeitet: Joshua Hagen in seinem englischsprachigen Buch „Preservation, Tourism and Nationalism. The Jewel of the German Past“, das 2006 erschien, und Daniel Bauer in seiner Dissertation „Formen nationalsozialistischer Herrschaft in Rothenburg ob der Tauber“, die 2014 als Buch erscheinen wird. – Die letzten Jahrzehnte hindurch wurde immer wieder von einzelnen „Rufern in der Wüste“ eine umfassende Darstellung über die Rothenburger NS-Zeit vergebens angemahnt. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang allerdings die schon früh veröffentlichten Artikelserien von Dieter Balb im „Fränkischen Anzeiger“ und das vorsichtige Sich-an-die-Thematik- herantasten des Vereins Alt-Rothenburg durch thematisch ausschnitthafte Vorträge und Buchveröffentlichungen. – Über die Dissertation von Daniel Bauer berichten wir, sobald sie vorliegt.
Rothenburg ob der Tauber ist nicht irgendeine deutsche Stadt. Jährlich besuchen das vorgebliche „Kleinod des Mittelalters“, das heute gerade nicht ganz 11.000 Einwohner zählt, an die zweieinhalb Millionen Touristen aus dem In- und Ausland. Doch die meisten von ihnen verbinden mit Rothenburgs Geschichte nach dem (Halb-Tages-)Besuch nicht viel mehr als grobe Etiketten. Und auch die Verächter des angeblich nur disneyhaften Historien-„fake“ wollen nicht viel wissen von einer Stadt, die sich nach dem „Meistertrunk“ 1631 doch sowieso aus der Geschichte verabschiedet und fortan in ihrem eigenen Klischee aufzugehen scheint. Vielleicht liegt hierin der Grund, dass Hagen Schulze und Etienne Francois in ihrer monumentalen Enzyklopädie deutscher Erinnerungsorte zwar Dresden und Heidelberg, nicht aber das ungleich massenwirksamere Rothenburg aufgenommen haben. […]
Regionale Verwurzelung und nationaler Horizont bilden eine Einheit
„Hauptverhandlungsort“ deutscher Nationalidentität ist nach Hagen die mittelalterliche Kleinstadt, die dem kulturell tonangebenden Bürgertum seit dem frühen 19. Jahrhundert einen stabilisierenden Gegenhalt im immer dynamisch-selbstläufigeren Modernisierungsprozess versprach. Hier erschienen die Gegensätze von Natur und Kultur wie der drohende soziale Konflikt im Ideal einer klassenlosen Bürgergemeinschaft aufgehoben; „Heimat“, regionale Verwurzelung und nationaler Horizont bildeten zudem eine Einheit. Obwohl schon um 1800 ein Großteil von Rothenburgs bedeutendem architektonischen Erbe nachmittelalterlich war, tat dies dem Ruf der Stadt als „nationaler Symbollandschaft“ keinen Abbruch. […]
Rothenburg, die „deutscheste aller Städte“
Seit 1929/30 avancierte Rothenburg mit seinem Umland zur reichsweit führenden NS-Hochburg. Hagens Hauptthese lautet: Dem lange vorgearbeiteten Ideal der (Stil-)Reinheit des Stadtbilds war das NS-Ideal der „Rasse-Reinheit“ kongenial; der Kampf gegen Verunstaltung (etwa durch Kommerz, Kitsch und „Reklame“) fand nach 1933 gewissermaßen in der Purifikation des lokalen Volkskörpers seine Fortsetzung. Stadt, Verein Alt-Rothenburg, lokale Geschichts- und Denkmalpflege und viele Rothenburger arbeiteten hier, so Hagen, an einem Ziel: „Purging the town of perhaps its most pollutant, the town’s jews.“. Von der KdF-Propaganda verbreitet und massentouristisch erfahrbar, sollte die „deutscheste aller Städte“ Modell sein: Schon vor der allgemeinen Pogromnacht am 22./23. Oktober 1938 mussten die letzten Rothenburger Juden die Stadt verlassen, „perhaps a ,dress rehearsal’ from above or maybe a source of inspiration from below“ – einen Quellenbeweis muss Hagen aber schuldig bleiben. Eindrücklich belegt dagegen wird die beklemmende Rolle von (ehemaligen) führenden Antisemiten und Nationalsozialisten im Verein Alt-Rothenburg bis weit in die 1970er-Jahre.
Schneller Wiederaufbau nach dem Krieg
Widersprüchlich zeigt sich insgesamt – hier nur stichpunktartig – die Nachkriegszeit: der schnelle Wiederaufbau der zu über vierzig Prozent (!) zerstörten Stadt nach 1945 in eigenständig, explizit nicht-historisierender, gleichsam eskapistischer Heimatschutz-Formensprache (heute für den unkundigen Laien aus der zeitlichen Distanz kaum erkennbar und mittlerweile selbst denkmalwürdig!), die erschreckenden, massiven Substanzverluste bis weit in die 1980er-Jahre, andererseits die Rettung des angrenzenden Taubertals vor entstellender Bebauung, der Erhalt der einzigartigen Judengasse und anderer, alltagsgeschichtlich aufschlussreicher Bauten, nicht zuletzt ermöglicht durch bürgerschaftliches Engagement im Zeichen der fortschrittskritischen Wende ab etwa 1975 (Denkmalschutzjahr!). Letztlich hat Rothenburg Altes vielfach bedenkenlos und schlecht kopiert, wo andere Städte im Zuge der zweiten, Wirtschaftswunder-Zerstörung einfach abrissen oder modern-unmaßstäblich neu bauten. Das Image der Stadt in der westdeutschen Öffentlichkeit schwankte je nach Zeitgeist beträchtlich – zwischen nach-nationaler „Heimat“-Verklärung, Intellektuellen-Spott und postmoderner Wiederverzauberung.
Will Rothenburg wirklich im UNESCO-Welterbe ausgenommen werden?
Es ist die Verengung des Selbstbilds auf massentouristische Erwartungen und der damit einhergehende, noch fortschreitende Denkmalverlust, was der Autor in seiner bemerkenswert engagierten und bewusst gegenwartsbezogenen Arbeit der Stadt Rothenburg vorwirft. Will die Stadt tatsächlich ins UNESCO-Welterbe, so weiß sie – eingestandenermaßen – selbst, dass sie nicht auf ihr „Mittelalter“ zu setzen hat, sondern auf ihre herausragende Bedeutung als Erinnerungsort gerade auch deutscher Zeitgeschichte in allen ihren Brüchen und Vereinnahmungen. Diese sensibel und überzeugend nachgezeichnet zu haben, ist Hagens Verdienst. Die Orthographie des Literaturverzeichnisses und der Anmerkungen hätte allerdings eines abschließenden konzentrierten Lektorats bedurft. Die Qualität der durchweg viel zu kleinen Abbildungen ist eine Zumutung. Abschließend legt der Autor den Rothenburgern einen zukünftig anspruchsvoller konzipierten und lesartoffenen „heritage tourism“ nahe. Man kann nur hoffen, dass die Stadt Rothenburg bei der Abfassung des entsprechenden UNESCO-Antrags Joshua Hagen Gehör schenkt.
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Quelle: Rezension von Thomas Götz, Historisches Seminar, Universität Regensburg: Joshua Hagen: „Preservation, Tourism and Nationalism. The Jewel of the German Past, Aldershot: Ashgate 2006” in sehepunkte 7 (2007), Nr. 2; für die Online-Version von der Redaktion stark gekürzt, lediglich die Zeit des Nationalsozialismus blieb ungekürzt. In Gänze zu lesen unter http://www.sehepunkte.de/2007/12/13186.html (2013)