Von PD Dr. Edith Raim
Kurz nach dem Einmarsch amerikanischer Truppen in Würzburg begannen die Ermittlungen bezüglich der Deportation der Juden aus Franken. Da es sich bei den Opfern um deutsche Staatsangehörige handelte, war nicht ein amerikanisches Militärgericht zuständig, sondern die deutschen Staatsanwaltschaften des betreffenden Gerichtsbezirks, für Franken insbesondere Würzburg und Nürnberg-Fürth. Erleichtert wurden die Recherchen durch die Tatsache, dass – anders als bei den weitaus meisten Staatspolizeidienststellen im Reich – die Akten der Staatspolizei-Außendienststelle Würzburg nicht vernichtet worden waren.
Im Abschlußbericht des Staatsanwalts Heinke vom 27. November 1947, nahezu auf den Tag genau sechs Jahre nach dem Beginn der Deportationen aus Franken, wurden insgesamt 149 Personen benannt, die an den Deportationen beteiligt gewesen waren. Es handelte sich um Angehörige des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), der Staatspolizeistellen Nürnberg, Würzburg, Regensburg, Bayreuth, um Angehörige der Schutzpolizei und Gendarmerie, des Finanzamts, des Oberfinanzpräsidiums Nürnberg, um Gerichtsvollzieher, Zollinspektoren, Angehörige des Amtsgerichts Würzburg, Landräte, Oberbürgermeister von Städten und Bürgermeister umliegender Gemeinden, NSDAP-Ortsgruppenleiter, die NSDAP-Kreisleitung Würzburg, Personal der Reichsbahn, Schreibkräfte, ja sogar den Direktor des Staatsarchivs Würzburg, der anlässlich der zweiten Deportation vom 24. März 1942 bei einem Juden konfiszierte Thorarollen in die Bestände des Archivs übernommen hatte. Zu den im Zusammenhang mit den Deportationen Genannten gehörten der Leiter des Referats IV B 4 im Reichssicherheitshauptamt, Adolf Eichmann, der hier irrtümlich für tot erklärt wurde, (sowie Angehörige seines Referats wie Rolf Günther), ebenso wie Küchen- und Aufräumpersonal, das die so genannten Sammelstellen betreten durfte. (Verschämt wurde handschriftlich der Geschäftsführer der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg und Verbindungsmann zur Gestapo, Bernhard Kolb, angefügt.)
In verschiedenen Funktionen mit der Enteignung der Juden befasst
Sie alle waren in den verschiedensten Funktionen mit der Enteignung der Juden, ihrer Verbringung zu den Sammelstellen und Deportation in den Tod befasst gewesen. Die Landräte sowie die Oberbürgermeister ließen die Juden zu den Sammelstellen bringen und ihre Wohnungen nach Wertgegenständen durchsuchen. Die Arbeitsämter teilten mit, welche Juden im Arbeitseinsatz waren, der Oberbürgermeister von Würzburg sorgte beispielsweise auf Bitten der Staatspolizei Würzburg dann für die Entlassung der Juden aus dem Arbeitsverhältnis. Die Gerichtsvollzieher stellten den Juden die Einziehungsverfügungen über das Vermögen zu. Ein Angehöriger der Stadtverwaltung stellte auf Anordnung des Oberbürgermeisters die Stadthalle in Würzburg als Sammelstelle zur Verfügung. Gendarmen brachten die Juden zu den Sammelstellen. Die Angehörigen der sogenannten Sonderkommissionen, die sich aus Angehörigen der Staatspolizei zusammensetzten, bewachten die Juden in den Sammelstellen. Sie kassierten das Geld für die Bahnfahrt, nahmen den Juden ihre Wertgegenstände ab, beteiligten sich an den Leibesvisitationen sowie der Durchsuchung des Gepäcks. Sie stellten Listen mit Wertsachen auf, stempelten die Kennkarten der Juden ab und verluden das so genannte Ghetto-Gepäck, das die Juden in den Osten mitnehmen durften. Sie erstellten Endabrechnungen über die Kosten und Schlussberichte über die Deportation. Angehörige der Reichsbahn sorgten für die Waggons, Schutzpolizisten und SS-Leute bildeten Wachkommandos während der Fahrt. Sie beschafften die Transportpapiere und verhandelten über Bezahlung und Verrechnung des Transports. Angehörige des Finanzamtes verwalteten und verwerteten das jüdische Vermögen. So quittierte ein Oberregierungsrat beim Finanzamt Würzburg die Übernahme von zehn Nähmaschinen und einer Geige. Während die meisten der Beteiligten auf Anweisungen handelten, waren in einigen Fällen eigene Initiativen feststellbar. Der Leiter der Zollfahndungsstelle Würzburg bot der Gestapo Würzburg an, dass Beamte seiner Dienststelle an den Leibesvisitationen und Durchsuchungen teilnehmen sollten, um diese noch gründlicher zu gestalten. Ein Funktionär der NSDAP-Kreisleitung Würzburg ersuchte die Gestapo, möglichst sämtliche Juden aus Reichenberg bei Würzburg sofort zu deportieren. Der Bürgermeister der Gemeinde Höchheim in Unterfranken war ebenfalls besorgt, dass nicht alle Juden aus seiner Gemeinde deportiert würden (siehe Fallbeispiele in „Juden-Deportationen aus Franken (I): Neben der SS, Gestapo und Reichsbahn waren auch Finanzämter, Amtsgerichte und Stadtverwaltungen beteiligt, denen der Zweck nicht verborgen blieb“.
Abschlussbericht zur Klageerhebung von Beteiligten und Verantwortlichen
Herman L. Lang, Assistant des Directors deer „Special Project Division“ des „Office of Chief of Counsel for War Crimes“ Uberaba am 8. Dezember 1947 den Ermittlungsbericht des Staatsanwalts Heinke sowie Kopien aus den Gestapoakten an das Bayerische Staatsministerium der Justiz, damit Anklage erhoben werde. Angekündigt wurde, dass Beschuldigte, die sich noch in amerikanischem Gewahrsam befänden, an deutsche Behörden überstellt würden, damit sie vor Gericht gestellt werden könnten. (Martin und Haas waren im Interniertenlager Dachau).
Die Beteiligten ließen sich in folgende Kategorien einordnen: 1. Beamte und Angestellte der Staatspolizei, 2. Ausführungsorgane der Staatspolizei, nämlich Oberbürgermeister, Landräte, Gendarmeriekreisführer sowie Polizei und SS; 3. Finanzbeamte; 4. Justiz; Reichsbahn, andere Verwaltungsbeamte (sie handelten auf Ersuchen der Staatspolizei; betraf auch den Direktor des Staatsarchivs). 5. Übrige wie etwa der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Reichenberg und des Kreisstabsamtsleiters von Würzburg.
Etliche Tätergruppen wurden von Anklagen ausgenommen
Empfohlen wurde in dem Abschlussbericht, Verfahren einzuleiten gegen Beamte und Angestellte der Staatspolizei, sofern sie einer so genannten Sonderkommission angehörten, d. h. mit den Deportationen befasst waren. Auch Oberbürgermeister, Landräte und Gendarmeriekreisführer sollten in den Kreis der Beschuldigten einbezogen werden, wohingegen anzunehmen war, dass Bürgermeister von Gemeinden und Gendarmen keinen so genauen Einblick in die Sachlage hatten, dass sie das Strafbare ihres Handelns erkannten. Ähnliches galt für SS-Männer und Polizeibeamte, die lediglich mit der Bewachung und Transportbegleitung betraut waren. Über die Finanzbeamten hieß es, dass ihr Verhalten nicht verfolgt werden konnte. Sie hätten sich keiner Erpressung schuldig gemacht, da sie erst mit der Verwertung und Verwaltung des jüdischen Vermögens begannen, als die Erpressung bereits begangen worden war. An der eigentlichen Nötigung seien die Finanzbeamten nämlich nicht beteiligt gewesen. Ihr Verhalten sei zwar rechtswidrig, strafrechtlich aber nicht zu ahnden. In dem Schreiben des Leiters der Zollfahndungsstelle Würzburg sei dagegen eine Beihilfehandlung zur Erpressung bzw. Nötigung zu erblicken. Den Beamten der Justiz und Reichsbahn wurde ebenfalls kein strafrechtlich relevantes Handeln zur Last gelegt, denn sie handelten in Amtshilfe, wobei bei einem Handeln in Amtshilfe der Beamte zur Überprüfung des an ihn gerichteten Ersuchens nicht verpflichtet war. Auch diese Beschuldigten konnten damit nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dies betraf auch den übereifrigen Bürgermeister von Höchheim, den NSDAP-Ortsgruppenleiter von Reichenberg und den NSDAP-Kreisstabsamtsleiter. Ihre Tat stellte keine Anstiftung zur Freiheitsberaubung dar, da die Deportation ohnehin beschlossen war.
Von den etwa 150 beteiligten Personen seien daher laut Abschlussbericht lediglich Verfahren gegen 110 Personen einzuleiten. Von diesen waren einige bereits verstorben, andere anderweitig durch amerikanische Militärgerichte verurteilt. So waren die Würzburger Gestapo-Angehörigen Oswald Gundelach und Heinrich Baumann wegen Beteiligung an Erschießung alliierter Flieger zum Tod verurteilt worden, Baumann am 25.10.1948 in Landsberg auch hingerichtet worden, während Gundelach nach Umwandlung des Urteils in lebenslängliche Haft 1953 aus Landsberg vorzeitig entlassen wurde. Es blieben noch 90 Beschuldigte übrig, nämlich 60 Personen in Würzburg, 24 Personen in Nürnberg, drei in Regensburg und je eine Person in Bamberg, Coburg und Bayreuth.
Zu viele Beschuldigte, daher Prozesse nur gegen Staatspolizei-Angehörige
Schon 1947 wurde empfohlen, das Verfahren aufzuspalten, um nicht gegen eine Vielzahl von Angeklagten verhandeln zu müssen. Im Schlussbericht Heinkes wurde gefordert, die Beschuldigten nicht nach Berufsgruppen oder dem Maß ihrer Verantwortlichkeit zu trennen. Trotz dieses ursprünglich großen ermittelten Täterkreises und trotz dieser ausdrücklichen Empfehlung wurden die Prozesse auf die Angehörigen der Staatspolizei begrenzt.
Da die amerikanische Militärregierung den deutschen Gerichten in der amerikanischen Zone keine Ermächtigung für die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 („Verbrechen gegen die Menschlichkeit“) gegeben hatte, stand fest, dass die Deportation nach dem deutschen Strafgesetzbuch abzuurteilen war. Die Deportation war dabei als Freiheitsberaubung (§ 239 I StGB) zu werten, denn den Juden wurde die freie Wahl des Aufenthaltsortes genommen. Die Freiheitsberaubung war durch kein Gesetz oder keine Verordnung gedeckt. Auch das RSHA führte in seinen Anordnungen kein diesbezügliches Gesetz an. Der Befehl zur Deportation der Juden war damit rechtswidrig.
Die vermögensrechtliche Behandlung der Juden wurde als Erpressung (§ 253 StGB) qualifiziert. Die Deportierten hatten dulden müssen, dass über ihr Eigentum verfügt wurde, wozu sie durch Drohungen und Gewalt genötigt worden waren. Die Gesetze vom 26. Mai 1933 und 14. Juli 1933, die der Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens dienten, hatten sich gegen kommunistisches Eigentum gewandt. Die nachträgliche pauschale Feststellung der angeblichen Volks- und Staatsfeindlichkeit der Juden, die die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens rechtfertigen sollte, konnte nicht als Rechtsgrundlage dienen. Das Reich hatte sich damit einen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft.
Rechtliche Würdigung: Weder Beihilfe zum Mord noch Täterschaft
Ferner wurde auch angeregt, zu überprüfen, ob eine Beihilfe zum Mord vorliege, ebenso ob die Beschuldigten als Täter oder Gehilfen handelten. Von einer Anklage wegen Beihilfe zum Mord wurde abgesehen, da die Staatsanwaltschaft hätte nachweisen müssen, dass die Angeschuldigten wussten, dass die Juden getötet würden. Auch ein Handeln in Täterschaft wurde verneint, da als die wahren Täter Hitler, Himmler und Heydrich galten.
Wegen der Deportationen aus den Bereichen der Staatspolizeistellen Nürnberg-Fürth und Würzburg wurden insgesamt drei Prozesse geführt, die durch mehrere Instanzen gingen. Zwei davon befassten sich vor allem mit den Deportationen, der dritte auch mit den vermögensrechtlichen Aspekten der Verschleppung. Fast zeitgleich wurden in Nürnberg-Fürth und Würzburg Anklage erhoben. In Würzburg waren die Angeklagten im Wesentlichen niedrig rangigere Beamte. Der Leiter des Judenreferats der Staatspolizei Würzburg und zeitweise kommissarische Leiter der Staatspolizei Würzburg, Michael Völkl, hatte beim Einmarsch der Alliierten Selbstmord begangen, der Leiter der Staatspolizei Würzburg in den Jahren 1941/1942, Ernst Gramowski, war zum Zeitpunkt der Anklageerhebung nicht ermittelt worden. In Nürnberg konnte die Anklagebehörde mit wesentlich höherrangigen Verantwortlichen aufwarten: auf der Anklagebank saß nicht nur der Leiter der Abteilung II (Exekutive) der Staatspolizei Nürnberg, Dr. Theodor Grafenberger, der die Deportationen verantwortlich geleitet hatte, sondern auch der frühere Polizeipräsident von Nürnberg-Fürth und Höhere SS- und Polizeiführer im Wehrkreis XIII, Dr. Benno Martin.
Perfide Einlassungen des angeklagten Polizeiführers Dr. Benno Martin
Dieser wandte sich noch vor der Anklageerhebung mit einem Brief im August 1948 an den bayerischen Justizminister, Dr. Joseph Müller. In einem zwölfseitigen Pamphlet mit antisemitischen Ausfällen stilisierte sich Martin zum Widerstandskämpfer, der sich gegen die wahren nationalsozialistischen Fanatiker (wie etwa den NSDAP-Gauleiter von Franken, Julius Streicher) gewandt habe und außerdem vielen Verfolgten geholfen habe. [Er beschwerte sich allerdings über „drei kriminelle Juden“, die ihn anlässlich einer Überstellung aus einem Lager angeblich bestahlen.] Zu den Deportationen nahm er wie folgt Stellung:
„Welcher Beamte sollte denn um Himmelswillen unter solchen Umständen auch nur eine Sekunde lang auf den Gedanken kommen, dass die von der Reichsregierung ergangene und unter Beteiligung zahlreicher Behörden vollzogene Anordnung ‚rechtswidrig‘ sein könne – was sie übrigens in Ansehung der Verordnung vom 28.2.1933 gar nicht war.“
Die spätere Ermordung der Juden stehe im Übrigen nicht fest, auch die Staatsanwälte der Anklagebehörde könnten das Schicksal der verschleppten Juden nicht kennen. Seine perfide Begründung lautete:
„Die Schleier scheinen noch nicht gelüftet zu sein, denn fast täglich kann man im Radio Anfragen nach namentlich genannten Juden, die Ende 1941 bei Riga angesiedelt worden sind, hören. Wenn sie tot wären, dann bräuchte man ja nicht mehr nach ihnen zu suchen.“
Die Zeugenaussagen überlebender Juden tat er als „problematisch“ ab. Er klagte darüber, dass er bereits seit dreieinhalb Jahren interniert sei und nun für den geplanten Deportationsprozess in Untersuchungshaft sei. Eine Haftentlassung sei von den deutschen Behörden wegen Fluchtverdacht und Verdunkelungsgefahr abgelehnt worden. Er äußerte:
„Wohin um Himmel[s]willen sollte ich denn fliehen? Ich bin fast zwei Meter groß [!], von leider allzu auffallender Erscheinung [!], bin herzkrank…; ich besitze keinen einzigen Anzug und fast keine Wäsche; ich besitze keinen Pfennig Geld.“
Er behauptete, es als seine „sittliche Pflicht“ anzusehen, den Justizminister auf die Problematik des „Judenevakuierungsprozesses“ hinzuweisen. Obwohl die Deportationen im ganzen Reich stattgefunden hätten, würden die „Vorgänge just nur in Bayern aufgekocht und ausgekocht […], als ob die Justiz im Geschehen der Jetztzeit nicht genug Betätigung fände“. Die Anklagebehörde diffamierte er als „Antreiber“ und „Scharfmacher“, die den „Ruf im Volke“ „Wann ist denn endlich einmal Schloß [sic] damit?“ bewusst ignorieren würden. Nicht einmal die amerikanische Besatzungsmacht habe Interesse an dem bevorstehenden Prozess.
Deportationsprozess in Würzburg: Milde Haftstrafen und Freisprüche
In Würzburg erhob der Oberstaatsanwalt am 25. August 1948 wegen Beihilfe zur schweren Freiheitsberaubung im Amt in Tateinheit mit räuberischer Erpressung Anklage gegen 19 frühere Angehörige der Staatspolizei, Kriminalpolizei und Gendarmerie. Minutiös wurde darin der Anteil der einzelnen Angeschuldigten am Ablauf von insgesamt sechs Deportationen geschildert. Die meisten Angeklagten waren – wohl nicht zuletzt wegen der erdrückenden Beweislast schriftlicher Dokumente – im Wesentlichen geständig gewesen und hatten lediglich Einzelheiten bestritten oder abgeschwächt. Die Hauptverhandlung wurde am 28. März 1949 eröffnet und nach zwölf Verhandlungstagen am 23. April 1949 das Urteil verkündet. Verurteilt wurden zwei ehemalige Kriminalsekretäre zu je sechs Monaten, zwei frühere Kriminalsekretäre und ein früherer Kriminalinspektor zu je neun Monaten Gefängnis, ein Ex-Kriminalsekretär zu zehn Monaten Freiheitsstrafe, vier weitere ehemalige Kriminalsekretär zu elf Monaten Gefängnis und drei weitere frühere Kriminalsekretäre zu je einem Jahr und zwei Monaten Haft. Die übrigen Angeklagten wurden freigesprochen. Die Verurteilung erfolgte stets wegen Freiheitsberaubung im Amt. Der Tatbestand der räuberischen Erpressung führte zu keiner Verurteilung. Die Höhe des Strafmaßes spiegelte das Ausmaß der Beteiligung an der Freiheitsberaubung wider: die Verurteilten waren an zwischen 64 und 1822 Fällen von Deportationen beteiligt. Die Staatsanwaltschaft hatte Strafen von bis zu drei Jahren und sechs Monaten gefordert. Ein Handeln der Angeklagten im Notstand war im Würzburger Urteil verneint worden.
Im Urteil wurde ausführlich auf die Karrieren der Angeklagten eingegangen. Es handelte sich durchweg um frühere Angehörige der Polizei, die oft über die Kriminalpolizei zur Staatspolizei gestoßen waren. Frühe NSDAP-Mitgliedschaften – vor der so genannten Machtübernahme – waren nicht vertreten, viele waren der NSDAP erst nach der Machtübernahme beigetreten. Aus den Diensträngen – der höchste frühere Dienstrang war ein Kriminalrat gewesen – ging hervor, dass es sich keineswegs um eine „Gestapo-Elite“ handelte. Die meisten der Angeklagten gehörten der unteren Laufbahn an. Einer der weniger höherrangigen Angeklagten war Kriminalkommissar Heißig, der ab dem 04. Dezember 1942 bis 18. November 1943 Leiter der Staatspolizei-Außendienststelle Würzburg war.
Deportationsprozess in Nürnberg: Polizeipräsident angeklagt
Ausgehend von dem Schlussbericht Heinkes begannen auch in Nürnberg am 12. Februar 1948 die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Obwohl etwa 55 Beschuldigte im Zusammenhang mit den Deportationen aus Nürnberg festgestellt worden waren – darunter auch der Polizist, der als Leiter des Transports 1000 Juden in Riga übergeben hatte – wurde in Nürnberg bereits lediglich gegen einen deutlich eingeschränkten Täterkreis als in Würzburg Anklage erhoben. Es handelte sich um sieben Personen, davon vier Angehörige der Staatspolizei und drei Angehörige der Polizei. Wie in dem Würzburger Verfahren, lautete die Anklage auf ein in Mittäterschaft begangenes Verbrechen der Beihilfe zur Freiheitsberaubung im Amt mit Todesfolge in Tateinheit mit einem in Mittäterschaft begangenen Verbrechen der Beihilfe zur räuberischen Erpressung. Schon in den Anklagen wurden bestimmte Straftatbestände nicht erfasst. Die Körperverletzungen bei den Durchsuchungen und beim Einsteigen in die Züge blieben unangeklagt. Ein anderer möglicher Straftatbestand der Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB) wurde nicht in Betracht gezogen. Die Verletzung der Menschenwürde – das Filmen und Fotografieren der Opfer während der Deportation – war strafrechtlich schwierig fassbar.
In Nürnberg war der höchstrangige Angeklagte Dr. Benno Martin. Er war bereits seit 1919 bei der bayerischen Polizei gewesen und seit 1923 Regierungsrat bei der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth. Nach der Machtübernahme wurde er zunächst Leiter der politischen Abteilung der Polizei, am 1. Oktober 1934 Polizeipräsident von Nürnberg-Fürth, eine Funktion, die er bis zum 17. Dezember 1942 ausübte. Auch Martin war kein frühes NSDAP-Mitglied; er war erst am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten; 1934 der SS, in der er 1938 SS-Oberführer war. Von 1933 bis 1944 kam es zu einem rasanten Aufstieg. Martin stieg vom Oberregierungsrat zum SS-Obergruppenführer und General der Polizei auf. [1941 SS-Brigadeführer und SS-Oberabschnittsführer Main. (Aufsicht über SS im Bezirk Main); 1942 SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei, HSSPF Wehrkreis XIII am 17.12.1942 = Aufsicht und Inspektion gegenüber Polizei und SS im Wehrkreis]. Während Heydrich ihn negativ beurteilte, genoss Martin das Vertrauen Himmlers. Bis Ende der 30er-Jahre war Martin auch Vertrauter des NSDAP-Gauleiters von Franken, Julius Streicher, gegen den er später mit Himmlers Billigung Material zusammentrug, was zur Absetzung Streichers 1941 führte.
Mindestens an fünf Deportationen beteiligt
Die Anklage warf Martin vor, dass er bis zu seiner Ernennung zum höheren SS- und Polizeiführer am 17. Dezember 1942 als Polizeipräsident von Nürnberg-Fürth de facto Leiter der Staatspolizei Nürnberg gewesen und damit an den mindestens fünf der sieben Deportationen beteiligt gewesen sei. Er habe die Durchführung mit Dr. Grafenberger abgeklärt und bei der ersten Aktion die Gesamtleitung gehabt, während Dr. Grafenberger die technische Durchführung übernommen habe. Für die vermögensrechtlichen Maßnahmen seien die Mitangeklagten Korn und Dr. Rudersdorf von ihm beauftragt worden; er habe auch Verhandlungen mit der Reichsbahn wegen der Personenwagen geführt und das Lager Langwasser zum Sammelort bestimmt. In seiner Funktion als Polizeipräsident habe er Polizisten zur Absperrung von Lager und Verladeort, außerdem Kriminalpolizei-Angehörige für Verteilung der Merkblätter und Vermögensverzeichnisse sowie die Abholung der Juden aus ihren Wohnungen befohlen. Sogar die Putzfrauen des Polizeipräsidiums seien von ihm zur Durchsuchung der Jüdinnen abgeordnet worden. Außerdem habe er die SS als Hilfspolizei herangezogen. Schon in der Hauptverhandlung zog die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe bezüglich der Beteiligung an der 2. bis 5. Deportation zurück.
Ein Teil der Verhandlungen befasste sich mit der Klärung der genauen Rolle von Dr. Martin innerhalb der Polizei Nürnbergs. Im Urteil wurde festgestellt, dass auf Wunsch von Martin hin es nach Einrichtung der Staatspolizei in Nürnberg von 1936 bis 1942 keinen etatmäßigen Leiter gab. Dr. Martin behielt es sich vor, nach Gutdünken selbst als Leiter der Staatspolizei aufzutreten und griff verschiedentlich in Angelegenheiten der Staatspolizei ein. Dies war dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, Himmler, bekannt und wurde von ihm gebilligt. Die laufenden Geschäfte bis 1941 führte Regierungsrat Dr. Kiesel, dann Kriminalrat Otto, der im Herbst 1942 schließlich etatmäßiger Leiter der Staatspolizei wurde. Erst mit der Ernennung zum SS-Oberabschnittsführer verbot Himmler Dr. Martin die weitere Führung der Staatspolizei, damit er sich auf seine Tätigkeit als Polizeipräsident und SS-Oberabschnittsführer Main konzentrieren könne. Nichtsdestoweniger war Martins Einfluss auf die Staatspolizei weiter sichergestellt. Die Staatspolizei war im Gebäude des Polizeipräsidiums ansässig und im Haushalt des Polizeipräsidiums. Der Polizeipräsident als Kreispolizeibehörde unterstand dem Bayerischen Staatsministerium des Innern bzw. Regierungspräsident von Mittelfranken, die Staatspolizei der Gestapa bzw. ab 1939 dem RSHA.
Gefängnisstrafen – ansonsten Freisprüche
Verurteilt wurden am 10. Mai 1949 nur zwei Personen: der Polizeipräsident Dr. Benno Martin und Dr. Helmuth Rudersdorf. Im Urteil wurde festgehalten, dass Dr. Martin zwar lediglich an der ersten Verschleppung direkt beteiligt gewesen war, aber Dr. Grafenberger mit der Organisation aller weiteren Deportationen betraut hatte, das Lager Langwasser als Sammelort ausgesucht, und Polizei zur Bewachung abgestellt. Dies stellte Beihilfe zur fortgesetzten Freiheitsberaubung im Amt mit Todesfolge dar.
Ehepaar rechtswidrig verhaftet und Vermögensvorteil abgenötigt
Dr. Rudersdorf, ein Rechtsanwalt, wurde Anfang 1942 von Dr. Martin beauftragt, das Vermögen deportierter und ausgewanderter Juden einzuziehen. Im Rahmen dieser Tätigkeit wurden am 3. Mai.1943 der Jude Kronacher und seiner nichtjüdische Ehefrau von der Kriminalpolizei Bamberg festgenommen und der Staatspolizei in Nürnberg vorgeführt. Veranlasst war die Festnahme durch einen Beamten des Bayerischen Staatsministeriums des Innern. Der Zweck war, Frau Kronacher zu zwingen, Grundstücke zu verkaufen und als stille Gesellschafterin aus der Firma Franke & Fickenwirth auszuscheiden. Dr. Rudersdorf eröffnete dem Ehepaar Kronacher, dass sie solange inhaftiert blieben, bis sie sich mit dem Verkauf der Grundstücke und dem Ausscheiden aus der Firma einverstanden erklärt hätten. Bei Vernehmungen des Ehepaars forderte Rudersdorf Frau Kronacher auf, sich per Unterschrift dazu zu verpflichten, vom Ehemann, dass er sich nicht mehr in die Geschäfte der Firma Franke & Fickenwirth einmische. Frau Kronacher unterschrieb bei der ersten Vernehmung, Herr Kronacher nach der dritten Vernehmung. Das Verhalten des Angeklagten wurde damit als Nötigung gewertet. Rudersdorf hatte zwar keinen Einfluss auf die Festnahme und die Dauer der Inhaftierung, auch sei er sich nicht bewusst gewesen, dass diese Freiheitsberaubung der Verschaffung eines rechtswidrigen Vermögensvorteils gedient habe. Gleichwohl war Rudersdorf laut Urteil bewusst gewesen, dass die Verhaftung des Ehepaars Kronacher rechtswidrig war.
Fünf Angeklagten wurde zugebilligt, dass sie bei den Deportationen auf Befehl gehandelt hatten, was als Schuldausschließungsgrund galt. Rudersdorf war der räuberischen Erpressung schuldig. Dr. Martin wurde wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung im Amt mit Todesfolge zu drei Jahren Freiheitsstrafe, Dr. Rudersdorf wegen Nötigung zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Alle übrigen wurden freigesprochen.
In der Revision 1951 Verurteilungen aufgehoben: Freisprüche
In der Revision der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hob das Bayerische Oberste Landesgericht am 15. November 1950 – nicht zuletzt wegen Verfahrensfehlern (ein Schöffe hatte ein langes Vorstrafenregister gehabt) – das Urteil auf. Das Verfahren wurde nun verbunden mit dem Verfahren gegen die verurteilten früheren Würzburger Staatspolizeiangehörigen, die in Revision gegangen waren. Es kam 1951 zu einer erneuten Verhandlung vor dem Schwurgericht Nürnberg-Fürth, wobei Martin (und die früheren Würzburger Staatspolizeiangehörigen) am 2. Juni 1951 freigesprochen wurden. Das Verfahren gegen Dr. Rudersdorf wurde durch Amnestie (Straffreiheitsgesetz 31. Dezember 1949) beendet. Das Landgericht Nürnberg-Fürth war anders als das Würzburger Landgericht zu der Auffassung gelangt, dass die Würzburger Staatspolizeileute im Nötigungsnotstand gehandelt hatten, was jede Schuld ausschlösse. Dr. Martin konnte aufgrund seines hohen Ranges keinen Befehlsnotstand in Anspruch nehmen. Sein Verhalten erfülle zwar objektiv den äußeren Tatbestand der Beihilfe zur Freiheitsberaubung im Amt mit Todesfolge in Tateinheit mit räuberischer Erpressung. Dem Angeklagten wurde aber subjektiv zugebilligt, dass er die Freiheitsberaubung und die räuberische Erpressung nicht für Unrecht gehalten habe. Das Gericht erläuterte dazu: um Beihilfe zur Freiheitsberaubung im Amt mit Todesfolge zu begehen, müsse der Gehilfe wissen oder damit rechnen, dass die Freiheitsberaubung widerrechtlich sei. Es sei nicht ausreichend, festzustellen, dass der Gehilfe die Rechtswidrigkeit hätte erkennen können. Dr. Martin habe diese Erkenntnis der Rechtswidrigkeit gefehlt.
Bundesgerichtshof sprach letztendlich die wenigen Verurteilten frei
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth ging gegen dieses Urteil in Revision. Vor dem Bundesgerichtshof kam es zu einer erneuten Verhandlung, das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth wurde am 19. Dezember 1952 durch den Bundesgerichtshof aufgehoben. Es wurde festgestellt, dass Martin – wie bereits im Urteil des Landgerichts anerkannt – nicht wusste, dass die Deportation der Juden nach Riga (November 1941) ihrer Ermordung dienen sollte. Es war davon auszugehen, dass der Angeklagte den wahren Zweck der Erlasse des RSHA nicht erkannte. Der BGH forderte das Gericht auf, es sollte überprüfen, welches Bild sich der Angeklagte vom Zweck der Deportation gemacht habe. Wenn Martin auch nichts von der Tötungsabsicht wusste, so gehörte doch zu seiner Vorstellungswelt, dass die Juden am Deportationsziel ein Leben größter Entbehrungen in Unfreiheit führen würden sowie Trennungen nach Geschlecht und Arbeitsfähigkeit stattfinden würden. Allein aufgrund der antisemitischen Politik in Deutschland und der dortigen Judenverfolgung war anzunehmen, dass Willkür und Ausschreitungen gegen die deutschen Juden an den Deportationszielen nur schlimmer sein konnten, da sie dort noch schutzloser als in Deutschland waren. Der Angeklagte Martin hatte gewusst, dass die Deportation der Juden in den Osten eine weitere Verfolgungsmaßnahme aus rassischen Gründen war. Es war zu prüfen, ob Martin „bei gehöriger Anspannung seines Gewissens“ zu der Auffassung hätte gelangen können, dass er Unrecht fördere.
Die dritte und letzte Verhandlung fand vom 17. Juni 1953 bis 1. Juli 1953 statt und betraf lediglich noch Dr. Martin. Dieses Urteil befasste sich gemäß der Forderung des BGH mit der Frage, welche Stellung Dr. Martin in der Judenpolitik des Dritten Reiches vertreten habe und was sich Dr. Martin unter den Deportationen vorgestellt habe. Er wurde am 1. Juli 1953 freigesprochen.
Polizeipräsident sei zur Amtshilfe verpflichtet gewesen
„In der Judenfrage stand Dr. Martin auf dem Standpunkt, dass diese nur im Rahmen der Gesetze unter Beachtung der Forderungen der Menschlichkeit gelöst werden könne.“ (3. Urteil) Bezüglich der Vorstellungswelt hieß es, Dr. Martin sei der Auffassung gewesen, die Juden würden in ein Lager oder Ghetto bei Riga gebracht und dort an einem Ostwall oder Straßenbau arbeiten. Dass sie dort in Unfreiheit und unter großen Entbehrungen leben würden, sei ihm bewusst gewesen, ebenso, dass die Deportation Verlust der Heimat, Existenz und des Vermögens bedeutete. Dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen so seien, dass sie dort sterben würden bzw. dass sie ermordet würden, habe Dr. Martin nicht gewusst. Es war Dr. Martin nicht zu widerlegen, dass er die Evakuierung als gesetzmäßig ansah. Als humanistisch gebildeter und christlich erzogener Mensch musste Martin allerdings wissen, dass die Deportation gegen sittliche und rechtliche Prinzipien verstieß. Er gab an, sich innerlich widerstrebend beteiligt zu haben. Der Befehl sei zwar vom RSHA an die Staatspolizei Nürnberg-Fürth gegangen, als Polizeipräsident sei er aber in Amtshilfe befasst gewesen. Er habe gegen sein Gewissen im Rahmen seiner Pflichten als Polizeipräsidenten gehandelt und sich für eine korrekte „menschenwürdige“ Abwicklung eingesetzt, Demütigungen, Beschimpfungen und Misshandlungen zu vermeiden gesucht. (Erste Deportation im Schatten der Nacht!). In dieser Funktion legte er Dr. Grafenberger nahe, die Deportation durchzuführen, um den kommissarischen Leiter der Staatspolizei, Kriminalrat Otto, auszuschalten, der als Fanatiker gegolten habe. Martin verhinderte die Beteiligung von SA- und NSKK-Angehörigen als Hilfspolizei (wegen der Beteiligung in der Pogromnacht) und empfahl, nur SS-Angehörige als Hilfspolizei zu verwenden. Den Organisationsplan von Dr. Grafenberger vom 11. November 1941 genehmigte er. Dr. Grafenberger schlug – anstatt des Velodroms im Stadtinnern von Nürnberg – das Lager Langwasser vor; Martin setzte sich ebenfalls dafür ein. Auch wurden dank der Interventionen von Grafenberger und Martin anstatt Güterwagen Personenwagen zur Verfügung gestellt. An der zweiten Deportation war Martin wegen eines Kuraufenthalts nicht beteiligt, zur 3. Deportation stellte er Dr. Grafenberger und Woesch nach Würzburg ab.
Nach Abschluss der 3. Deportation unterschrieb Dr. Martin im Mai 1942 drei Briefe der Staatspolizei Nürnberg-Fürth an den Polizeipräsidenten in Würzburg, den Kommandeur der Schutzpolizei in Würzburg und den Führer des SS-Abschnitts IX, um seinen Dank für die Hilfe bei der Deportation auszusprechen. Für den 4. Deportationstransport genehmigte er die Bildung einer Sonderkommission mit Angehörigen der Staatspolizei-Außenstelle Würzburg, die von der Staatspolizei Würzburg beantragt worden war. Für die Deportationen am 23. September 1942, 17. Juni 1942, 17. Januar 1944 war keine Beteiligung erkennbar.
Dem Polizeichef wurde mangelndes Unrechtsbewusstsein attestiert
Im letzten freisprechenden Urteil hieß es, Dr. Martin habe zwar das Bewusstsein gehabt, die Freiheitsberaubung an den Juden sei Unrecht und er beteilige sich damit an Unrecht. Gleichwohl habe er kein Unrechtsbewusstsein gehabt, als er sich dafür einsetzte, die als unvermeidlich angesehene Deportation ohne Ausschreitungen durchzuführen. Dies war ihm nicht zum Vorwurf zu machen. Er leistete als Polizeipräsident Amtshilfe; dazu war er aber dienstlich verpflichtet. Er handelte damit auch im Nötigungsnotstand § 52 StGB. Abreise oder Vortäuschung einer Krankheit oder Abwälzung der Verantwortung auf einen Untergebenen wäre unehrenhaft gewesen. Wenn er den Befehl verweigert hätte, wäre er in ein KZ gebracht oder sogar getötet worden. Diese Befürchtung habe Martin zur Teilnahme veranlasst. Sein Tatbeitrag bestand in der Amtshilfe als Polizeipräsident für die Staatspolizei, außerdem in dem, dass er sich aus „eigenem Antrieb“ „für eine menschenwürdige und schonende Behandlung der Juden“ einsetzte. Eine Verurteilung wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung kam im ersten Fall deswegen nicht in Frage, weil der Angeklagte im Befehlsnotstand handelte und bei einer Verweigerung sein eigenes Leben gefährdet hätte, im zweiten Fall fehlte ihm das Unrechtsbewusstsein. Ebenso fehlte ihm das Unrechtsbewusstsein bei der Mitwirkung an der Vermögenseinziehung der deportierten Juden.
Staatsanwaltschaft zog Revision zurück – Freispruch wurde rechtskräftig
Die kuriose Aufspaltung des Unrechtsbewusstseins in zwei Komplexe – nämlich einerseits die Deportation als Freiheitsberaubung und Unrecht zu empfinden, gleichzeitig aber kein Unrechtsbewusstsein zu haben, wenn die als unvermeidlich angesehene Deportation „menschlich“ durchgeführt werde – führte zur Revision der Staatsanwaltschaft. Sie legte Revision ein und verwies auf den Widerspruch hin, Freiheitsberaubung als Unrecht empfunden zu haben, während er gleichzeitig kein Unrechtsbewusstsein bei Entschluss hatten, die Deportation menschlich durchzuführen, da er damit nur habe helfen und „mildern“ wollen. Sie argumentierte, es sei rechtlich unmöglich, Unrechtsbewusstsein in zwei gegensätzliche Komplexe zu trennen. Auch Befehlsnotstand sei abzulehnen. Als Polizeipräsident sei Martin kein bloßer Befehlsempfänger gewesen, er habe vielmehr Initiative von sich aus entwickelt. Er hätte sich von der Deportation überhaupt fernhalten können, wenn er sich auf seine Geschäfte als SS-Oberabschnittsführer berufen hätte. Beteiligung an Deportation war immer unehrenhaft. Befehlsnotstand zweifelhaft wegen hohen militärischen Rangs des Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft zog die Revision vom 6. Juli 1953 beim BGH gegen das Urteil vom 1. Juli 1953 am 19. November 1954 zurück, da die Erfolgsaussichten der Revision gering waren. Der Freispruch Martins wurde damit rechtskräftig.
Auch weitere Verfahren endeten mit Freisprüchen
Angesichts des Freispruchs gegen Dr. Martin wurden die Erfolgsaussichten weiterer Verfahren gegen andere Beteiligte gering eingeschätzt. Die Würzburger Ermittlungsverfahren gegen Landräte und Gendarmeriekreisführer wurden schon 1949 eingestellt, ein Prozess vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth, der sich mit vermögensrechtlichen Aspekten der Deportation befasste, endete 1955 mit Freisprüchen bzw. Einstellungen. Die Verfahren gegen die Bayreuther und Regensburger Staatspolizeiangehörigen endeten ebenfalls ohne Verurteilung.
Anordnungen nicht auf Einklang mit dem Strafgesetzbuch geprüft
Schon in dem Ermittlungsbericht vom 27. November 1947 war befürchtet worden, dass die Angeklagten sich sicherlich darauf berufen würden, den Unrechtsgehalt ihrer Tat nicht erkannt zu haben, insbesondere auch, da ihr Vorgehen dem Willen der damaligen politischen und staatlichen Führung entsprochen habe. Mahnend hieß es, dass die subjektive Vorstellung des Täters über Recht oder Unrecht aber irrelevant sei. Jede Rechtsordnung wäre sonst von den Fehlurteilen der Täter abhängig. Die Deportation der Juden und die vorausgehende Enteignung hatten nicht nur gegen das Strafgesetz verstoßen, sondern auch gegen allgemein gültige ethische Normen. Während ein Soldat dem Befehl eines Vorgesetzten zu gehorchen habe, habe ein Beamter die Pflicht zu prüfen, ob die Ausführung einer Anordnung mit dem Strafgesetz in Einklang zu bringen sei.
Die Angeklagten waren sämtlich ausgebildete Verwaltungsbeamte, geschulte Polizeibeamte und teils auch Juristen (Dr. Martin, Dr. Grafenberger, Dr. Rudersdorf) gewesen, die mit dem Strafgesetzbuch vertraut waren. Es war daher anzunehmen, dass sie die Strafbarkeit ihres Handelns erkannten. Fragliche Argumentation mit Unrechtsbewusstsein. Es muss ein Armutszeugnis besonderer Art für einen Juristen sein, wenn ihm mangelndes Unrechtsbewusstsein attestiert wird.
Wie viel wussten die Angeklagten vom Zweck der Deportation?
Schon bei der Anklageerhebung war die Staatsanwaltschaft vor der Frage gestanden, wie viel die Angeklagten vom Schicksal der Juden an den Deportationszielen wussten. Die Anklage entschied sich, dem Verteidigungsvorbringen Glauben zu schenken. Gleichwohl sprachen einige Tatsachen gegen die Annahme, man habe nicht gewusst, dass die Juden der sichere Tod erwarte. Zum einen dürften dem Polizeipräsidenten Martin die SD-Berichte vertraut gewesen sein. Darin war seit 1942 teilweise mit großem Detailwissen von Tötungen die Rede, die als Gerüchte kursierte. Die Juden glaubten diesen Gerüchten wohl eher, wie aus dem biographischen Handbuch Würzburger Juden hervorgeht, in dem von Tötungen berichtet wird. In Aschaffenburg begingen sieben Personen Selbstmord, um der drohenden Deportation zu entgehen. Ein weiteres Indiz war, dass bei der sechsten Deportation, die nach Auschwitz führte, das eingezogene Geld von der Gestapo dem Transportleiter nicht mehr ausgehändigt wurde, da „keine Unkosten mehr entstehen konnten“.
Täter waren Hitler, Himmler, Heydrich – andere nur Befehlsempfänger!
Die Vorentscheidung, sich auf die Dienststellen der Staatspolizei zu konzentrieren, bedeutete auch eine Präjudizierung. Der niedrige Gestapoangestellte oder -beamte hatte sicherlich weniger Entscheidungsspielraum als beispielsweise ein Landrat. Während diesen bei Dienstverweigerungen möglicherweise ein SS- und Polizeigericht mit drakonischen Strafen gedroht hätte, hätte einem Landrat vielleicht ein Disziplinarverfahren oder die Amtsenthebung gedroht. Lebensgefahr hätte wohl keinesfalls bestanden. Die hierarchisch gegliederte Staatspolizei und das RSHA verleiteten direkt zu der Befehlskette „Hitler – Himmler – Heydrich“, die alle weiterrangigen Amtsinhaber als reine Befehlsempfänger einstufte und sie damit exkulpierte.
Zur Sache: Sieben Deportationen: 29. November 1941 (1000 Juden), 24. März 1942 (1000 Juden); 25. April 1942 (955 Juden: 852 aus Würzburg und Umgebung, 80 aus Bamberg, 23 aus Nürnberg-Fürth), 10. September 1942 (1000 Juden: 823 aus Nürnberg, 177 aus Würzburg, Aschaffenburg und Schweinfurt) nach Theresienstadt; 23. September 1942 (563 Juden aus Würzburg, einer aus Bamberg); 17. Juni 1943 (109 Juden, davon 36 nach Theresienstadt, 73 nach Auschwitz); 17. Januar 1944 (10 Juden aus Nürnberg-Fürth).
- Siehe auch: Juden-Deportationen aus Franken (I): Neben der SS, Gestapo und Reichsbahn waren auch Finanzämter, Amtsgerichte und Stadtverwaltungen beteiligt, denen der Zweck nicht verborgen blieb
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Quelle: Diese beiden Artikel „Juden-Deportationen aus Franken…“ bilden den Vortrag, den die Autorin am 25. Juni 2016 auf der Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing in Rothenburg ob der Tauber zum Thema Deportation aus Mainfranken und die Strafverfahren gegen Verantwortliche der Deportation aus Mittelfranken gehalten hat. Wir danken der Autorin für die Genehmigung zur Veröffentlichung. –