Von Wolf Stegemann
Der Name Julius Streicher bleibt in der Betrachtung des Nationalsozialismus stets mit den Attributen perfider Volksverhetzer, abscheulicher Antisemit, korrupter Machtmensch und kleinbürgerlicher Spießer verbunden. Verbunden war er aber auch mit der Stadt Rothenburg und seinen NS-Funktionären und Bürgern, die in überwiegender Mehrheit Nationalsozialisten waren, wie die Wahlergebnisse im März 1933 und davor zeigten. Das gefiel dem „Frankenführer“. Das mittelalterliche Rothenburg war für ihn die Vorzeigestadt nationalsozialistischer und antisemitischer Urbanität, was für ihn Antriebsfeder war, Nazi-Prominenz nach Rothenburg zu holen: wie Heinrich Himmler, Hermann Göring, Rudolf Hess, Wilhelm Frick und hochrangige Militärs. Der Besuch Adolf Hitlers löste bei den Rothenburgern Euphorie aus. Der Fränkische Anzeiger schrieb am 22. Juni 1935: „Groß und einmütig war der Jubel, der damals dem Führer entgegenschlug!“ 1938 beauftragte Julius Streicher den Rothenburger Archivar Dr. Martin Schütz, ein Buch zu schreiben, wie die Stadt Rothenburg in der Geschichte mit seinen Juden umgegangen ist und wie sie sich in der NS-Zeit „gegen sie wehrte“. Entsprechend erschien das Buch mit eingedruckter Widmung Streichers „Eine Reichsstadt wehrt sich. Rothenburg ob der Tauber im Kampf gegen das Judentum“. Wie erwartet wurde daraus ein antisemitischen Machwerk. – Zehn Jahre, nachdem die Rothenburg ihrem Führer Adolf Hitler, der im Hotel Eisenhut nächtigte, „einmütig“ zujubelten, beging er Selbstmord in Berlin und Julius Streicher wurde in Nürnberg gehenkt.
Schmach des verlorenen Weltkriegs
Der 1885 in Fleinhausen (Bayern) geborene Julius Streicher besuchte die Volksschule und wurde nach der Lehrerausbildung Grundschullehrer in Nürnberg. 1913 heiratete er die Bäckerstochter Kunigunde Roth. Mit ihr hatte er zwei Söhne, Lothar (geb. 1915) und Elmar (geb. 1918). Seine Frau starb 1943. Im Mai 1945 heiratete er Adele Tappe, die bis Mai 1940 seine Sekretärin gewesen war. Mit dem Nationalsozialismus hatte er sich schon früh verbunden. Ebenso die Stadt Rothenburg mit dem leicht aufbrausenden „Frankenführer“. Bereits als Lehrer sei er durch Jähzorn und diktatorisches Gehabe aufgefallen, so der ehemalige Schüler und spätere SPD-Reichstags- und Bundestagsabgeordnete Josef Felder.
Hoch dekoriert kehrte Streicher aus dem Ersten Weltkrieg zurück und konnte die „Schmach“ der Niederlage nicht überwinden. Er war ein Gegner der Weimarer Republik. Daher betätigte er sich in rechtsradikalen Verbänden, trat 1919 dem „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ bei, in dem der Antisemit Konstantin Freiherr von Gebsattel (1854-1932) führend tätig war und der zeitweise wieder sein Schloss in Gebsattel bei Rothenburg bewohnte. In diesem völkischen Verband trat Julius Streicher erstmals mit heftiger antisemitischer Rhetorik auf, die ihn später berüchtigt machte. Nach der Ermordung Walter Rathenaus wurde der Verband 1922 verboten. Daher betätigte sich Streicher in Nürnberg nunmehr in der ultra-nationalistischen, anti-katholischen und antisemitischen „Deutschsozialistische Partei“ (DSP).
NSDAP-Abgeordneter im Bayerischen Landtag und ab 1932 im Reichstag
1922 war Streicher derjenige, der den Nürnberger Flügel der DSP auflöste und im Herbst in Anwesenheit Hitlers die Nürnberger Ortsgruppe der NSDAP gründete. Ein Jahr später gab er die virulent antisemitische Zeitung „Der Stürmer“ heraus, die 1938 mit einer Auflage von 500.000 den Höchststand erreichen sollte, und nahm 1923 am missglückten Hitler-Ludendorff-Putsch in München teil. Dafür wurde er vom Lehramt suspendiert, förmlich aber erst 1928 entlassen. Verstärkt betätigte sich Streicher für die NSDAP und war von 1924 bis 1932 Abgeordneter im Bayerischen Landtag. Danach saß er als „Alter Kämpfer“ bis 1945 im Reichstag.
Streicher erzwang vor der Pogromnacht den Abbruch der Synagoge
Nachdem Hitler aus dem Gefängnis in Landsberg am Lech entlassen worden war, rückte Streicher 1925 als Gauleiter von Mittelfranken, später von Franken, auf (bis 1940). In dieser Eigenschaft gab er sich schon in den 1930er-Jahren den Titel „Frankenführer“. In der SA hatte er den Rang eines Obergruppenführers. Julius Streicher beanspruchte für sich die unbedingte Führungsrolle in der Partei und im Gau. Streicher ging nach der Machtübernahme der Partei 1933 besonders scharf gegen Juden und bürgerliche Gegner vor und setzte dabei auch frühzeitig und demonstrativ auf äußerlich sichtbare Zeichen des Antisemitismus. Streicher, der häufig mit einer Reitpeitsche auftrat, erzwang den Abbruch der Hauptsynagoge am Hans-Sachs-Platz in Nürnberg bereits im August 1938, also schon vor der Reichspogromnacht. Im März 1933 übernahm Streicher den Vorsitz des „Zentralkomitees zur Abwehr der jüdischen Gräuel- und Boykotthetze). In dieser Funktion war er an der Organisation des eintägigen Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 beteiligt und leitete die Hetze gegen jüdische Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler u. a.
Wegen persönlicher Bereicherung aller Ämter enthoben – nur der Titel blieb
Julius Streicher erwarb 1936 für 300.000 RM das Landgut Pleikershof bei Cadolzburg. Da das Gut ihm nicht „fränkisch genug“ vorkam, ließ er es fast völlig neu umbauen und errichtete ein Mustergut, das dadurch auch als „Streicher-Hof“ überregional bekannt wurde. Nachdem sich Streicher als Partei-Funktionär sich durch Erpressung der Juden am arisierten Eigentum der Juden persönlich bereichert hatte, was den staatlichen Stelle vorbehalten blieb, untersuchte eine Kommission das Verhalten Streichers und stieß „in ein Wespennest von Korruption“. Die Kommission befand, dass dies nur der Staat bereichern dürfte, nicht aber eine Person. Die Kommission ergänzte ihren Bericht mit einer Liste sonstiger Vergehen und Abartigkeiten des Gauleiters, die seine Raffgier, seine exzessive Aggressivität selbst gegenüber führenden Parteigenossen und öffentliches übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen thematisierte. Streicher wurde vom obersten Parteigericht zwar nicht bestraft, aber doch durch ein im Februar 1940 tagendes „Gauleiter-Ehrengericht“ aller Ämter enthoben. Zwar hielten auch hohe Parteigenossen ihn für „nicht ganz zurechnungsfähig“, doch genoss er die persönliche Protektion Hitlers. „Der Stürmer“ und der zugehörige Verlag, an denen Streicher gut verdiente, wurden ihm auf Hitlers Anweisung belassen. Streicher wurde verboten, Nürnberg zu betreten. Er wohnte unbehelligt außerhalb der Stadt auf dem Landgut Pleikershof bei Cadolzburg. Auf Anordnung Hitlers durfte Streicher sowohl den Titel „Gauleiter“ weiterhin führen als auch die zugehörige Uniform tragen. Streicher lebte bis zu seiner Flucht 1945 auf dem Hof.
Verhaftung auf der Flucht, Hinrichtung in Nürnberg
Im Mai 1945 wurde Streicher von US-Truppen an seinem Fluchtort, einem Dorf bei Waidring in den Alpen gefangen genommen und bis zur Verbringung nach Nürnberg in Luxemburg interniert. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher behauptete Streicher zunächst, vom Genozid an der jüdischen Minderheit nichts gewusst zu haben; er sei lediglich ein „Naturfreund“ gewesen, der nur die „Fremdlinge“ aus dem Land haben wollte. Dann schränkte er ein, die Vernichtung nicht geglaubt zu haben. Als ihm vorgehalten wurde, dass er selbst im „Stürmer“ die Vernichtung ausdrücklich forderte, meinte er, er habe mit „Vernichtung“ etwas anderes gemeint.
Streicher wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet. Als er unter dem Galgen stand, bespuckte er den Henker und sagte: „Die Bolschewiki werden Sie eines Tages hängen!“ Während die Bodenklappe geöffnet wurde, schrie er: „Purim Festival 1946!“ Damit spielte er offenbar auf das jüdische Purimfest an, das an die Befreiung der Juden von Haman, dem Minister des persischen Königs, erinnert, der die Vernichtung der Juden forderte, Königin Esther dies aber verhinderte. Seine Asche wurde wie die der andern Hingerichteten in den zur Isar fließenden Conwentzbach bei München geschüttet. Gegenüber der „ZEIT“ gab der bei der Hinrichtung als Dolmetscher anwesende US-Soldat und spätere Kabarettist Georg Kreisler ein Interview (hier Auszug) zum Tod Streichers:
ZEIT: Sie sind politischen Verbrechern schon als ganz junger Mann begegnet – Sie haben als amerikanischer Soldat den Nationalsozialisten Julius Streicher […] verhört. Später haben Sie die Begegnung als einen Moment der Ernüchterung beschrieben: Streicher, eine fahle Gestalt, die nichts Dämonisches an sich hatte.
Kreisler: Nein, er war nicht mehr ganz bei Sinnen. Aber er wusste noch, was er gemacht hatte.
Streichers Pleikershof wurde 1945 zum Kibbuz auswandernder Juden
1945 beschlagnahmten die Amerikaner Streichers Pleikershof. Unmittelbar nach Kriegsende bezogen ukrainische und russische Staatsangehörige das Gehöft. Nachdem der Hof wenige Monate später wieder geräumt war, bezogen „80 jüdische Staatenlose“, die von einem Auffanglager in Ainring kamen, den Pleikershof und gründeten den „Kibbuz Nili“ (auch „Kvuza Nili“). Die jüdische Zeitung „Undzer Wort“ berichtete darüber am 2. August 1946. Der Name „Nili“ ist eine Abkürzung und steht für ein Bibelzitat. „Nezach Israel le Ischaker“ was sinngemäß übersetzt etwa „Die Ewigkeit des Volkes Israel ist nicht zu verleugnen“ bedeutet. Beim Einzug fanden die Juden die beiden Hunde Streichers „Rasso“ und „Nero“ sowie ein Schilde mit der Aufschrift vor: „Ohne die Lösung der Judenfrage gibt es keine Lösung der Weltfrage“. Sowohl die Hunde wie auch das Schild durften bleiben. Das Schild wurde von den jüdischen Bewohnern in ihrem Sinne als Errichtung eines eigenen jüdischen Gemeinwesens gedeutet Die „Judenfrage“ konnte also für sie nur durch die Gründung des Staates Israel gelöst werden. Dementsprechend verstanden die „Chawerim“ (Genossen) das Leben im „Kibbuz Nili“ nur als Zwischenstation. Fast alle Kibbuzniks planten nach Palästina überzusiedeln um sich dort an der Errichtung des Staates Israel zu beteiligen. Auf dem Hof wurden Juden zur Auswanderung nach Palästina durch Sprachunterricht und Landarbeit vorbereitet. Der Pleikershof bot dank 80 Hektar landwirtschaftlicher Fläche, etwa 8 Hektar Weideland sowie ca. 50 Rindern und modernster landwirtschaftlicher Ausrüstung hierfür beste Bedingungen. Kontakt mit der deutschen Bevölkerung gab es kaum.
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