Von Wolf Stegemann
Bei der national-patriotischen Gesinnung Martin Weigels, die schon 1925 durch Mitgliedschaft in die NSDAP zum offenen Bekenntnis führte, bietet sich an, seine 1923 erschienene „Rothenburger Chronik“ nach überhöhten nationalistischen oder sogar antisemitischen Spuren in seiner Sprache und Darstellung durchzusehen. Die Chronik wurde damals und wird heute noch hoch gelobt, so wie es Hans Ottin der städtischen Festschrift zum 700-jährigen Stadtjubiläum 1974 tat: „Vielleicht hat unser liebenswerter Chronist Martin Weigel nicht ganz so unrecht, wenn er in seiner mit so viel Liebe zur Stadt und verzeihender Toleranz meint: Rothenburg könne alles und in allem eine aristokratische Note nicht verbergen.“
Dazu ein Wort von heute als vorweggenommenes Resümee: Der Pfarrer, Historiker und Nationalsozialist Dr. Martin Weigel war kein toleranter Mann. Nationalsozialisten waren dies nicht. Und Weigel zeigte in seinen Reden für die Hitler-Partei, dass er das auch nicht war. Martin Weigel war auch kein guter Chronist, da er die historischen Ereignisse aus seinem engen Blickwinkel beurteilte. Hier beschränken wir uns lediglich auf die Geschichte der Juden in Rothenburg und deren teils fehlerhaften Darstellung in der Weigelschen Chronik.
450 Juden – Männer, Frauen und Kinder in der Burg getötet
Nicht dargestellt und somit gänzlich weggelassen hat Martin Weigel den 1298 auch für damalige Verhältnisse abscheuliche Mord an Juden. Der verarmte Adelige namens Rintfleisch aus dem nahen Röttingen hatte dieses Pogrom angezettelt. Seine Totschläger zogen auch nach Rothenburg, wo bereits etwa 450 Juden Schutz suchend in die kaiserliche Burg flüchteten, die von den aufgehetzten Totschlägern gestürmt wurde. Der versprochene kaiserliche Schutz kam nicht. Alle Juden, darunter 178 Kinder wurden ermordet und zum Teil lebendig verbrannt. In ganz Franken kamen beim Rintfleisch-Pogrom fast 5.000 Juden ums Leben. Warum Martin Weigel dieses Ereignis in der Chronik ausließ, ist nicht bekannt, wohl aber bemerkenswert. Im Reichsstadtmuseum ist der jüdische Märtyrerstein von 1298, der in Hebräisch das Geschehene schildert, zu sehen. Er wurde im Mai 1914 gefunden, dann verschollen geglaubt und 1980 wieder aufgefunden.
Schäfertanz führt angeblich auf Brunnenvergiftung der Juden zurück
Eine Heuschreckenplage, ein Erdbeben und die Pest suchten die Stadt im 14. Jahrhundert heim. Und eine Seite weiter schildert Weigel eine weitere Katastrophe, die Juden verursachen wollten, daran aber verhindert wurden. Weigel schreibt, dass sich die Judengemeinde seit 1180 stark vermehrt habe.
„Unter dem Vorwand, sie hätten das geweihte Brot aus der Kirche gestohlen und geschändet (durchstochen) und andere Beschuldigungen erneuerten sich diese Verfolgungen, am stärksten unter dem Einfluss politischer Verhältnisse im Jahr 1349“.
Es ist möglich, dass hier ein Darstellungsfehlet Weigels vorliegt: Der Hostiendiebstahl bezieht sich auf das Jahr 1298. In den Jahren 1349/50 gab es in ganz Deutschland Pestpogrome. Diese wurden anders begründet, z. B. mit der Brunnenvergiftungslegende.- Aus diesen „Greueln der Verblendung“, wie Weigel das Pogrom gegen die Juden nennt, entstand „einer der lieblichsten und sinnigsten Gebräuche unserer Stadt, der, nachdem er sich im achtzehnten Jahrhundert noch einer besonderen Pflege sich erfreute, in seiner alten Gestalt verloren ging: Der Schäfertanz.“
Martin Weigel schildert dann unter Einbeziehung der Predigt des Archidiakonus Seyboth von 1771 ausführlich das legendäre Entstehen des Schäfertanzes. Das taten viele Chronisten. In dieser Legende wurde behauptet, die Rothenburger Juden wollten Ende des 14. Jahrhunderts das Stadtregiment übernehmen, um hier ihr Jerusalem zu errichten. Deshalb hätten sie den Plan gehabt, die Brunnen zu vergiften, um die gesamte christliche Bevölkerung zu töten. Dies sei misslungen, weil das Vorhaben von einem Schäfer entdeckt und dem Rat gemeldet worden sei. Als Dank sei es den Schäfern erlaubt worden, einmal im Jahr in der Stadt zu tanzen. Die Juden aber, die nicht hätten fliehen konnten, seien allesamt ins Gefängnis geworfen und lebendig verbrannt worden. Doch am Schluss löst Weigel diese Legende vom Entstehen des Schäfertanzes auf, indem er schreibt: „In Wirklichkeit war der Schäfertanz ein Zunftfest.“
Der in Rothenburg geborene Prof. Dr. Horst F. Rupp bringt in seinem Aufsatz „Die jüdische Gemeinde in der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber“, erschienen in „Vom Leben und Sterben – Juden in Creglingen“ die Seybothsche Predigt und die Weigelsche Veröffentlichung in einen erläuternden Zusammenhang. Er schreibt:
„Der von Martin Weigel in seiner ,Rothenburger Chronik’ gebotene Text legt Zeugnis ab über gleichsam drei Epochen antijüdischen bzw. dann antisemitischen Denkens und Handelns in der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber.
– Zum ersten führt der Text in die Zeit des 14. Jahrhunderts zurück, als man den Juden Vergiftung der städtischen Brunnen vorwarf, die sie Ursache für die Entstehung und Ausbreitung der Pest sein sollte, und sie daraufhin grausam verfolgte, vertrieb bzw. zum großen Teil ermordete. Deutlich wird in dieser ursprünglichen historischen Schicht des Textes die vorgenommene Projektion: Die eigentlichen Opfer des Geschehenswerden zu Tätern umdefiniert, die Böses im Schilde führen, gegen das sich die eigentlichen Täter eigentlich nur wehren wollten.
– Zum zweiten bietet Weigel den Text als die Predigt eines Archidiakonus Seyboth aus dem Jahre 1776, die dieser anlässlich des Schäfertages als Ursprungserzählung des so genannten Schäfertanzes gehalten hat und die damit die äußerst negative Sicht jüdischer Existenz – wie sie vorab für das 14. Jahrhundert aufgewiesen ist – für das 18. Jahrhundert erneuert.
– Und zum dritten schließlich wirft der Text natürlich auch mehr als ein Schlaglicht auf die Einschätzung des Judentums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: Weigels ,Rothenburger Chronik’ – in dritter Auflage Ende der zwanziger Jahre […], also zu Zeiten der Weimarer Republik erschienen, als die Hitlerbewegung in Deutschland ihren politischen Höhepunkt zustrebte –ist durchzogen von solch gehässigen, von antisemitischen Ressentiments gespeisten Darstellungen jüdischen Lebens aller greifbaren Epochen der Stadt Rothenburg.
Antijüdisches bzw. dann eben antisemitisches Denken und handeln scheinen damit – legt man zumindest das Werk M. Weigels zugrunde – quasi eine Konstante der Geschichte der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber bis in [das 20.] Jahrhundert hinein gewesen zu sein.
Rabbi Meir Ben Baruch nur kurz gestreift
Etliche Seiten weiter geht Martin Weigel in der Chronik wieder auf die Judengemeinde in Rothenburg ein, berichtet über das Schicksal Rabbi Meir Ben Baruchs, der im 13. Jahrhundert in Rothenburg wirkte, beschreibt kurz jüdisches Brauchtum und eine erneute Judenverfolgung in Rothenburg: „Eine der schwersten Judenverfolgungen“ ging 1343 von Rothenburg aus. Ein Ritter von Uffenheim will gehört haben, dass Juden „den Leib des Herrn“ beim Vorbeitragen „mit einem gemeinen Ausdruck beschimpften“. Der Ritter legte ein Gelübte ab, sich „der Ausrottung der Juden zu widmen“ und tat es. Daher riefen die Juden Gottfried von Hohenlohe gegen Bezahlung zu Hilfe, der den Ritter von Uffenheim gefangen nahm und in Kitzingen enthaupten ließ. Am Grab des Ritters an seinem Stammsitz „geschahen viele Wunderzeichen“. Weigel erläutert aber nicht die wenige Sätze vorher erwähnte „schwerste Judenverfolgung“. Vielmehr nennt er Namen von Juden, die zu Bürgermeister Topplers Zeiten (nach 1373) im Rothenburger Judenviertel, der heute noch bestehenden Judengasse, gewohnt hatten. In der Darstellung Weigels über einen Streit der Reichsstadt mit dem Würzburger Bischof um Verpfändungen und Entschädigungen wurden dem Bischof die Rothenburger Juden zugesprochen, worauf Rothenburg die Juden 1349 aus der Stadt trieb. Dazu Weigel: „Der erste Angriff auf die Selbständigkeit Rothenburgs war damit abgeschlagen.“ Und durchaus mitfühlend: „Die Leidtragenden waren wieder einmal die Juden.“ Über eine Vertreibung der Juden im Jahre 1343 ist kaum etwas bekannt. Es mag sein, dass Martin Weigel hier irrt. Die Juden hat Rothenburg im Jahr 1520 vertrieben. Dieses geschehen hat erst Martin Schütz genauer „erforscht“.
Die Niederlassung von Juden im 19. Jahrhundert verschweigt Weigel
Weiter berichtet Weigel über die Ausplünderung und Vertreibung der Rothenburger Juden und die Umwandlung der Synagoge auf dem Kapellenplatz in eine Marienkapelle, die rasch ein „vielbesuchter Gnadenort“ geworden war. Im dritten Buch der Chronik schreibt Weigel detailliert über diese Vertreibung und Ausplünderung der Juden von 1520, die der Prediger Dr. Teuschlein durch Hetzreden und Aufstachelung der Bevölkerung bewirkte. Nach ihm ist heute noch eine Straße in Rothenburg benannt. Zwei Jahre später, 1522, „war in Teuschlein eine Wandlung vorgegangen“, schreibt Weigel. Nicht von Judenfeind zum Judenfreund, sondern der Katholik „begann im lutherischen Sinn zu lehren. […] Teuschlein wurde immer freier. Er predigt gegen Maria, die er einst so hoch verehrt und die er jetzt ein ,Grasmaidlein’ nennt, aber auch gegen soziale Mißstände…“
Juden hat der Chronist nun nicht mehr im Visier seiner Geschichtsbetrachtung. Die gab es nach der Vertreibung von 1520 in Rothenburg nicht mehr. Als Rothenburg sich entschloss, lutherisch zu werden, ließ Weigel in seiner Chronik die Rothenburger aufatmen: „Endlich tut die Stadt den entscheidenden Schritt.“ Das war 1544. Am 23. März war die erste evangelische Predigt in St. Jakob zu hören. „Die beiden Klöster ließ die Stadt aussterben.“ Dann allerdings kamen für die Stadt und ihre Bürger die „tiefen Demütigungen“ im Dreißigjährigen Krieg, von denen das Festspiel „Der Meistertrunk“ heute noch zeugt, und die Besitzergreifung Rothenburgs und des Frankenlandes durch Churbayern 1802. Das hatte zur Folge, dass den Juden wieder Zuzug nach Rothenburg und Niederlassung sowie Berufsfreiheit gewährt werden musste. Doch darüber steht in der Chronik nichts, die Martin Weigel bis Anfang der Weimarer Republik führte und die 1923 die Druckerei Gebr. Schneider in Rothenburg verlegte.
Jüdische Geschichte ist ein wichtiger Bestandteil der Rothenburger Geschichte
Bei Weigels Chronik kommt die Konstituierung der neuen jüdischen Gemeinde in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht vor. Dagegen beschreibt er ausführlich die Zeit des Deutschen Kaiserreichs in Rothenburg und vor allem den Ersten Weltkrieg. Unter den gefallenen Rothenburgern waren auch zwei mit jüdischem Glauben. Auch darüber kein Wort, wohl aber detailfreudig schreibt er über den Metzger Mahlein, der drei Söhne verloren hatte, und viele Familien, die zwei blühende Söhne, den Vater und Versorger hergeben mussten.
„Rothenburgs Einwohnerschaft hielt bis auf einige schwärmerische oder der Verhetzung allzu leicht zugängliche Kreise aus und bekämpfte die aufkeimende Kriegsmüdigkeit, bis das bittere Ende über Nacht erschien. Es war wie einst 1631 ,ein trüber Tag’, als das eilig zurückflutende, sich auflösende Heer durch Rothenburg durchzog.“
Schlusssatz bereits im nationalsozialistischem Geist?
Gemäß seiner politischen Einstellung musste Martin Weigel in der Darstellung der neueren Zeit einen Hinweis auf jüdische Bürger weglassen, denn sonst hätte er seinen im nationalsozialistisch anmutendem Geist verfassten Schlusssatz der „Rothenburger Chronik“ so nicht veröffentlichen können, wie er es tat. Fast sibyllinisch schreibt er:
„Über dies und alles, was noch kam, kann die glänzende Treue der Rothenburger Einwohnerschaft an das große Vaterland, das sie in ihrer Vaterstadt wie in einem Herzlein und Spiegelbild deutschen Wesens und deutscher Geschichte so heiß zu lieben gelernt hatte, nicht verdunkeln. Und so gewiß dieser Geist treuer Vaterlandsliebe, diese Saat unserer toten Helden, sich wieder an das Licht ringen wird, so gewiß wird Rothenburg auch noch weiterhin seine Geschichte haben, als deutsche Stadt, würdig der großen Vergangenheit.“
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Anmerkung: In der Bewertung der Weigelschen Chronik mögen die Leser geteilter Meinung sein. Weigel trat mit seiner Pensionierung 1925 in die NSDAP ein, als er von seinen Kirchenoberen nicht mehr abhängig war. Aus dem Fakt des Beitritts zu diesem Zeitpunkt lässt sich schließen, dass Weigel bereits vorher dem Nationalsozialismus zugeneigt war. Die Chronik erschien zwei Jahre vor seinem Partei-Eintritt und seiner Funktion als NSDAP-Redner in Franken. Ob dies nun berechtigt, ihm in seinen gedanklichen Ausführungen in der „Rothenburger Chronik“ nationalsozialistisches Gedankengut zu unterstellen, mag der Leser selbst beurteilen.
Es gibt durchaus auch die Berechtigung einer „milderen“ Beurteilung. Dr. Martin Weigel war der Vaterlandsrhetorik seiner Generation verhaftet. Da er die Chronik ja nicht im Jahr der Veröffentlichung 1923 verfasst hatte – sie war sicherlich ein Werk über mehrere Jahre – kann der Leser mit Recht nationalsozialistisches Gedankengut in Abrede stellen. Die Frage ist auch, ob man aus dem Schweigen über Teile der jüdischen Geschichte mit dem Wissen von heute eine Zuordnung zum Nationalsozialismus ableiten darf.
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Quellen: Martin Weigel „Rothenburger Chronik“, Gebrüder Schneider Rothenburg, Ausgabe 1923. – Gebr. Schneider Verlag (Hg.) „Reichsstadt-Jubiläum 1274-1974 – Rothenburg ob der Tauber“, Verlag Gebr. Schneider 1974. – Oliver Gußmann „Jüdisches Rothenburg ob der Tauber. Einladung zu einem Rundgang. “, Verlag Medien und Dialog, Haigerloch 2003. – Manfred Vasold „Geschichte der Stadt Rothenburg ob der Tauber“, Thorbecke Stuttgart 1999. – Dr. Horst F. Rupp: Die jüdische Gemeinde in der Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber, in: Hartwig Behr und Horst F. Rupp: Vom Leben und Sterben. Juden in Creglingen, Würzburg, 2. Auflage 2001, S. 17–25.
Siehe auch: „Pfarrer Dr. Martin Weigel: In Rothenburg ein verdienstvoller Chronist und Heimatforscher, in Nürnberg Diener der Nazis – Ein Stück mittelfränkische Kirchengeschichte“ in dieser Online-Dokumentation.