Von Wolf Stegemann
Wörter haben nicht nur Gewalt, sondern auch die Eigentümlichkeit, dass sich ihre Bedeutung wandelt und zu Begriffen werden, die sich mit ihrem ursprünglichen Sinn nicht mehr decken. Gegen Ende des 18. Jahrhundert wurde das Sanskrit von der europäischen Sprachwissenschaft wiederentdeckt. Sie stellte ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem großen Sprachstamm der Menschen in einem großen Teil Asiens und fast ganz Europas fest. In Deutschland nannte man dies „indogermanisch“. Nebenbei kam der Name „arisch“ auf. Die deutsche Wissenschaft bezeichnete zudem die indisch-iranische Gruppe des gesamten Sprachstammes als „arische“ Gruppe zum Unterschied von den armenischen, albanischen, griechischen, keltischen und baltisch-slawischen Sprachen.
Dieser Ursprachgruppe musste nun im Verständnis der damaligen Sprachwissenschaftler ein Urvolk zugeeignet werden, das aber unbekannt war. Richard Tungel erklärt dies in der ZEIT vom 21. Juni 1946 so:
„Damit traten die Indogermanen oder Arier zum ersten Male auf den Plan. Aus einem sprachwissenschaftlichen Begriff wurde so eine Personifikation, und wie gedankenlos es war, ein Volk, dessen indischer Zweig seine Eroberungen doch noch nicht begonnen haben konnte, ,Arier’, das heißt Herren, zu nennen, fiel nicht auf. Die historische Situation, aus der das Sanskritwort arya entstanden war, blieb vergessen. Der ,Arier’ wurde zu einer leeren Bezeichnung ohne Wortsinn.“
Aus prähistorischen Funden versuchten die Wissenschaftler die Gesittung dieses angenommenen Urvolkes zu erforschen. Sie stellten fest, dass zur „arischen Kultur“ der einfache Ackerbau und gezähmte Haustiere gehörten, darunter auch das Schwein. In diesem Sinne bezeichnete der NS-Agrarpolitiker und Schriftsteller Walter Darré in seinem Buch „Das Schwein als Kriterium für nordische Völker und Semiten“ (München 1933) das Hausschwein als Zeichen arischer Kultur.
Teile dieses erfundenen Urvolks müssen aus ihrem ursprünglichen Wohnsitz, den man übrigens nicht kennt, Wanderungen unternommen haben; denn sonst wäre die Entwicklung der verschiedenen Sprachstämme nicht zu erklären. Diese Eroberungszüge nannte man die „arischen Wanderungen“ und dekretierte ebenso schnell wie falsch die „Überlegenheit der arischen Kultur“. So wurde der Begriff „arisch“ im 19. Jahrhundert vom völkischen Fanatismus verfälschend als Bezeichnung für den „wertvollsten“ Teil der weißen Rasse, nämlich die Germanen, verwendet. Trotz aller seit Jahrtausenden stattgefundenen starken Vermischungen stand das Wort als Wortgötze für den „rassisch reinen Herrenmenschen“, für eine „überlegene Kultur“. Wie zum Tag die Nacht wurde zum Arier der Nichtarier gesellt.
„Solange dieser Wortfetischismus sich nur in Schriften austobte, von Gobineau über Houston Stuart Chamberlain bis zu Alfred Rosenberg, war er noch verhältnismäßig harmlos. Bücher wie Rosenbergs ,Mythos des 20. Jahrhunderts’ bedeuten an sich nicht mehr als eine Kuriosität des abstrusen Denkens. Wahrhaftig gefährlich wurden die Wörter erst, als sie in die Politik eindrangen und zur Hauptstütze des NSDAP-Parteiprogramms wurden“ (ZEIT, 1946).
Der Begriff diente dann nur noch zur Abgrenzung gegen Juden
In der NS-Ideologie wurde daraus eine bloße Abgrenzung gegen die Juden als rassischer Inbegriff der „Nichtarier“. In dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1933 hieß es im Paragraphen 3, dass „Nichtarische Beamte“ zu entlassen seien. Gemeint waren in erster Linie Juden. Aber das Wort war stärker als der Sinn. Es war ja längst kein einfaches Wort mehr, sondern eine Weltanschauung. In der NS-Praxis aber blieb diese Weltanschauung ungenau. „Arier“ war in der NS-Ideologie und im Sprachgebrauch gleichbedeutend mit „Angehöriger der nordischen Rasse“ und deshalb für die Rassisten allmählich zu ungenau. Daher wurde „arisch“ als amtlicher Rechtsbegriff ab dem Jahr 1935 nicht mehr verwandt. An die Stelle des in dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verwendeten Begriffs des „Ariers“ trat die ausweislich des Gesetzestextes und seiner Begründung in den „Nürnberger Gesetzen“ (September 1935) gebrauchte Formulierung „Person deutschen oder artverwandten Blutes“.
Arierparagraf, Ariernachweise, Euthanasie und Arisierung
Das NS-Regime rechtfertigte mit dieser zentralen Ideologie die Diskriminierung, Vertreibung und Ermordung der Juden, Sinti und Roma sowie die Deklassierung der Slawen zu „Untermenschen“. Die Menschen im Dritten Reich und in den von den Nationalsozialisten beherrschten Gebieten mussten zum Beweis ihrer „rassischen Reinheit“ so genannte Ariernachweise erbringen. Mit der ideologischen Rechtfertigung „Reinhaltung der arischen Rasse“ wurden auch die Ermordung und Zwangssterilisation geistig behinderter oder „unerwünschter“ Menschen betrieben. Unter dem Begriff „Arisierung“ betrieb das NS-Regime eine Enteignung insbesondere der Juden; auch hierbei beriefen sie sich auf ihre Rassenideologie.
Siehe auch:
Ariernachweise bestimmten die Karriere…
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Quellen: Friedemann Bedürftig: „Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg. Das Lexikon“, Piper 2002. – Christian Zentner/ Friedemann Bedürftig: „Das große Lexikon des Dritten Reiches“, Südwest Verlag 1985. – Wikipedia, Online-Enzyklopädie (Arier, 2014). – Richard Tungel „Der Arier“ in „Die Zeit“ vom 21. Juni 1946.