Von Wolf Stegemann
In den 1950er-Jahren ging ein politischer und gesellschaftlicher Rechtsruck durch Rothenburg – aber nicht nur dort. Eine „Schlussstrich“-Mentalität machte sich bereit, mit der beispielsweise die FDP in den Wahlkampf zog. Das lässt sich an den Ergebnissen der Bundestagswahl von 1950 und der wichtigen Stadtratswahl von 1952 deutlich erkennen, so dass der „Fränkische Anzeiger“ am 2. April 1952 titelte: „Das Fazit des 30. März 1952 in Rothenburg ob der Tauber – Ruck nach rechts“. Der Boden für diesen sichtbaren Rechtsruck wurde bereit seit Ende 1945 beackert. Das geht aus den Ratsprotokollen und Reden hervor, die in Rothenburg gehalten wurden.
Selbst nach dem Kriegsende und der Aufdeckung der nationalsozialistischen Verbrechen in den Konzentrationslagern gab etlichen repräsentativen Erhebungen im Auftrag der US-Besatzungsmacht von 1945 bis 1949 zufolge jeweils mehr als die Hälfte der Befragten an, dass der Nationalsozialismus eine gute Idee gewesen sei, die nur schlecht ausgeführt worden wäre. In der Familie des Autors, diese persönliche Einflechtung sei erlaubt, sagte vor wenigen Jahren dessen Mutter im bereits fast hundertjährigen Alter: „Der Hitler war ja ganz gut, aber das mit den Krieg und den Juden hätte er nicht tun sollen!“
Am Anfang der fünfziger Jahre waren die politischen Kenntnisse der Bevölkerung immer noch gering und autoritäre Einstellungen weit verbreitet. „Wenn Bonn dennoch nicht Weimar wurde“, wie der Schweizer Publizist Fritz René Allemann 1956 erleichtert feststellte, „lag dies zunächst vor allem an der wirtschaftlichen Wohlstandsentwicklung, die mit der parlamentarischen Demokratie in Zusammenhang gebracht wurde.“
Sich selbst vor der Verantwortung in der Opferrolle weggeduckt
Beim Studium der Stadtratsprotokolle bis in die 1960er-Jahre hinein fällt auf, dass kaum oder überhaupt nicht von der nationalsozialistischen Vergangenheit der Stadt und ihrer damaligen Funktionsträger gesprochen wurde, keine Aufarbeitung der schweren Verbrechen der Nationalsozialisten, wie die eigenen Verbrechen der Vertreibung der Juden 1938 aus der Stadt und die Aneignung ihrer Häuser und Grundstücke. Stattdessen lamentierten die Stadträte in ihren Sitzungen und in öffentlichen Gedenkreden an Jahrestagen der Bombardierung der Stadt darüber, dass die Rothenburger doch so große Opfer bringen mussten. Anstatt über die Opfer der Deutschen im eignen Land und den vielen anderen Ländern Europas zu sprechen, duckte man sich von der Verantwortung weg in die Opferrolle. In Rothenburg mit dem Wissen, dass bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933 in der Stadt auf 5.868 abgegebenen Stimmzetteln 3.671 Rothenburger ihr Kreuzchen bei der NSDAP machten. Im Bezirk prozentual sogar noch mehr. Zwischen 1933 und 1945 war man stolz darauf, als „nationalsozialistische Vorzeigestadt“ zu gelten und vom Staatstourismus der NS-Gesellschaft „Kraft durch Freude“ gut zu leben. War das eine Opferrolle?
Das deutsche Volk Opfer der deutschen Kriegsverbrechen?
Oberbürgermeister Friedrich Hörners Rede zur Eröffnung der ersten Stadtratssitzung am 2. November 1945 war ambivalent. Das Gremium war nicht gewählt, sondern eingesetzt. Parteien bildeten sich später. Dem Rat gehörten neben Hörner noch 15 Rothenburger an, die durch ihre politischen und wirtschaftlichen Erfahrungen sich der Probleme in der Stadt und ihrer Bürger in unmittelbarer Nachkriegszeit annehmen sollten. Im Beisein von Landrat Zimmermann sprach Friedrich Hörner von „Kriegsverbrechen“ der Deutschen. Er relativierte dies sogleich, indem er auch das deutschen Volk zum Opfer dieser deutschen Kriegsverbrechen machte – und mit den Deutschen sogleich die „ganze Menschheit“. Friedrich Hörner sagte:
„Wir ersehen heute mit Genugtuung aus den sich in ganz Deutschland abspielenden Prozessen gegen die Kriegsverbrecher, dass die alliierten Besatzungsmächte hart aber gerecht zugreifen, um die Verbrechen, die an der ganzen Menschheit und nicht zuletzt am deutschen Volk selbst begangen wurden, an den Schuldigen zu sühnen, soweit von einer angemessenen Sühne überhaupt gesprochen werden kann. Aber wir hoffen zugleich, dass uns selbst noch die Möglichkeit gegebenen wird, Schuld und Sühne im Einzelfall in Einklang zu bringen und alle die, deren Vergehen in nur erzwungener oder durch besondere Verhältnisse veranlasster Parteizugehörigkeit bestand, die sich aber nicht aktivistisch, denunziatorisch und sonst wie gemein gegen anders denkende Volksgenossen bestätigten, politisch, beruflich und gesellschaftlich zu rehabilitieren.“
Diese Argumente, angeführt von denen, die in den folgenden Jahren vor den Spruchkammern „entnazifiziert“ werden sollten, waren plötzlich in die NSDAP gezwungen worden oder wussten nichts von ihrer Mitgliedschaft, mussten eintreten und mit „Heil Hitler“-Rufen öffentlich auftreten, weil sie ihre Familien beschützen oder ihre eigene Karriere und den Schulbesuch der Kinder nicht gefährden wollten, wie sie sagten. Mit Ausreden und Lügen manövrierten sich die Betroffenen in ihre Opferrolle. Schließlich musste daran das aufwändig durchgeführte Vorhaben, die Deutschen „entnazifizieren“ zu wollen, scheitern.
Friedrich Hörner: Das deutsche Volk leidet wie unter einer Gottesgeißel
In seiner Rede zur Vereidigung des Stadtrats vom 12. März 1947 erklärte Friedrich Hörner, warum es zum Leid der Flüchtlinge und zu den zerstörten Städten kam. Es sei der Meineid Hitlers als braunschweiger Regierungsrat gewesen, den er 1933 auf die Verfassung abgelegt hätte, obwohl „bei ihm und seinen Trabanten … der Verfassungsbruch ausgesprochene Absicht“ war.
„Heute stehen wir nun vor den furchtbaren Folgen der Meineide, die ihren sichtbaren Ausdruck in Millionen Toten und Hunderttausenden durch Verstümmelung und Krankheit für ihr ganzes Leben unglücklicher Menschen, in Millionen von Flüchtlingen, die Heimat, Hab und Gut verloren, in der Zerstörung ganzer Städte und Dörfer, in der Ruinierung unserer Eisenbahn, Brücken und Straßen und in der folgenschweren Untergrabung von Moral und Autorität finden, die ihrerseits wieder Diebstahl, Raub und Mord im Gefolge haben. Ich glaube, dass sich angesichts der furchtbaren Not auf allen Lebensgebieten, in der unser Volk infolge dieser Meineide und des offenen Verfassungsbruches vom 23. 3. 1933, genannt Ermächtigungsgesetz, wie unter einer Gottesgeißel leidet und noch Jahrzehnte zu leiden haben wird…“
Damit stimmt er ein, in die verbreitete Tendenz, alle nicht zu leugnende Verbrechen auf Hitler als den Alleinverantwortlichen abzuladen und diesen gleichzeitig zu dämonisieren. Die deutsche Bevölkerung erhält dadurch eine unangemessene Rolle, nämlich die eines Opfers dieses Dämons. Deshalb kommt auch in dieser Rede Hörners kein einziges Wort über die Opfer in den Konzentrations- und Todeslagern oder über die 1938 spektakulär-öffentliche Vertreibung der Juden aus Rothenburg vor, an der breite Einwohnerschichten teilnahmen, johlten und dafür Lob des Gauleiters bekamen. In jener Stadtratssitzung wurde Adolf Hitler nach der Vereidigung der Ratsmitglieder symbolisch die Ehrenbürgerschaft entzogen, obgleich sie mit dem Tode Hitlers gesetzlich bereits als erloschen galt.
Den Ratsherren fehlte die Würdigung ihres Einsatzes nach Kriegsende
Neuwahlen für den Stadtrat gab es am 30. Januar 1948. In der ersten Ratssitzung am 30. Juni dankte Oberbürgermeister Hörner den ausgeschiedenen Ratsmitgliedern, wobei er ihr tätiges Opfer würdigte:
„Die Herren Collischan, Ebert, Habel, Holstein, M. Meyer, Schletterer und Dr. Schlee, die mit so vielen Männern das Schicksal teilen, dass sie in Deutschlands schwersten Tagen in die Bresche sprangen, jahrelang verantwortungsbewusst und intensiv unter Aufwand von viel wertvoller Zeit und Opferung ihrer eigenen Interessen an der Milderung der ungeheuerlichen Not des deutschen Volkes mitwirkten, ohne dass ihr Tätigkeit und Opfer je gewürdigt wurden.“
Einige der genannten Ratsmitglieder mussten auf Veranlassung der US-Militärbehörde ausscheiden, da die Behörde zwischenzeitlich ihr öffentliches Wirken in der NS-Zeit herausgefunden hatte, was die Betroffenen auf ihren Fragebogen zur Entnazifizierung verschwiegen hatten. Darüber geben die Ratsprotokolle allerdings keine Auskunft, vielmehr aber das Schreiben der US-Behörde und des Bayer. Staatsministeriums für besondere Aufgaben (im Staatsarchiv Nürnberg). Friedrich Hörner vermisste die mediale Begleitung der Ratsarbeit und bedauerte, dass es nicht so war „wie früher“:
„Eine Möglichkeit wie früher, ganze Seiten der Tageszeitung für den Bericht einer Stadtratssitzung in Anspruch nehmen und die Ausführungen jedes einzelnen Mitglieds auszugsweise zu bringen, hat bisher nicht bestanden, besteht auch heute noch nicht und wird auch in absehbarer Zeit nicht erfolgen.“
Mit früher meinte Hörner die NS-Zeit, in der die Partei der Zeitung vorgeschrieben hatte, was und wie viel zu berichten ist. Zu der Zeit aber, als Hörner sich Mitte 1948 über die fehlende Berichterstattung beklagte, war die Herausgabe des „Fränkische Anzeigers“ noch nicht wieder erlaubt. Erst im September 1949 erschien die erste Nachkriegsausgabe.
Nahezu sämtliche Beamte mussten wegen NS-Belastung entlassen werden
1945 mussten auf Anordnung der US-Militärregierung Beamte der Stadtverwaltung entlassen werden, die über ihre städtische Verwaltungsarbeit hinaus dem NS-Regime und seiner Partei dienten. Zweiter Bürgermeister Dr. Wünsch sagte dazu in der Ratssitzung vom 30. Juni 1948: „Nahezu sämtliche Beamte.“ Weiter berichtet das Protokoll:
„Diese Beamten, die teilweise in jahrzehntelanger Pflichterfüllung im Dienste der Stadtverwaltung tätig waren, heute zu gedenken, halte er (Wünsch) für seine Pflicht.“
In dieser Stadtratssitzung ging es hoch her, als Stadtrat Weber im Auftrag der „Arbeitsgemeinschaft der CSU“ versuchte, den Stadtrat und ehemaligen Stadtamtmann Hans Wirsching, der in nationalsozialistischer Zeit der NS-Verwaltung ohne bislang bekannt gewordene Widerstand gedient hatte, beispielsweise den jüdischen Friedhof für die Stadt arisierte und den Forderungen der NSDAP-Kreisleitung stets „dienstbeflissen“ nachgekommen war, in die Position eines stellvertretenden Bürgermeister wählen zu lassen. Dies scheiterte an der anschließenden geheimen Abstimmung.
Stadt musste 1949 ihren vereinnahmten jüdischen Besitz wieder abgeben
Erstmals wird in den Ratsprotokollen der Sitzung vom 22. November 1949 erwähnt, dass die Stadt bei der Rückerstattung jüdischen Besitzes an die Familie Heumann in Verhandlung stehe. Der städtische Rechtsrat Dr. Wirsching (Sohn des oben erwähnten Stadtrats und vormaligen Stadtamtmanns Hans Wirsching) führte aus,
„dass der Stadtrat von Anfang an den Standpunkt vertreten hat, das Unrecht, das vom Dritten Reich an der Familie Heumann begangen wurde, wieder gut zu machen!“
Eine recht eigentümliche Formulierung. In den bis dahin veröffentlichten Ratsprotokollen geht dieser „von Anfang an vertretene Standpunkt“ nicht hervor. Er hätte es deutlicher formulieren können. Denn es war die Stadt Rothenburg, die der Rothenburger jüdischen Familie Heumann die beiden Wohnhäuser in der Herrngasse 2 und im Feuerkesselgässchen 1 abgepresst hatten. Die Stadt schickte am 11. November 1938 Mitarbeiter zu dem 1942 ermordeten Adolf Heumann nach Regensburg und „entzogen ihm“ an seinem Krankenbett seine beiden Häuser „in einer Art und Weise“, dass eine Wiedergutmachung rechtens ist (Wiedergutmachungsbehörde für Ober- und Mittelfranken, Fürth i. Bayern). Die Miete, die von der Stadt für diesen „arisierten“ Besitz in der Folgezeit eingenommen wurde, musste neben der Bezahlung der Häuser in Höhe von 25.000 DM im Jahr 1950 zurückgezahlt werden.
Vollendung des Rechtsrucks bei der Bürgermeister- und Stadtratswahl 1952
Zur Stadtrats- und Bürgermeisterwahl 1952 formierten sich neben der SPD und KPD die rechten Gruppen. CSU, FDP und die Freie Wählergemeinschaft Rothenburg gingen als „Rechtsblock“ eine Listenverbindung ein. Die ebenfalls rechte Partei „Deutsche Gemeinschaft“ verband sich mit der rechten Wählergruppe der Heimatvertriebenen und Kriegsgeschädigten.
Die SPD stellte den amtierenden Oberbürgermeister Friedrich Hörner als Kandidat auf, der Rechtsblock den Nürnberger Juristen Hermann Ulmer, die DG nominierte zuerst den gewesenen NSDAP-Bürgermeister Dr. Friedrich Schmidt (1936 bis 1945), der sich jetzt Fritz nannte, eine größere Gruppe der von parteipolitische unabhängigen Wahlberechtigten stellten den früheren Oggersheimer NSDAP-Bürgermeister Dr. Erich Lautenbach auf. Alt-Bürgermeister Dr. Schmidt wurde noch vor der Wahl zurückgezogen, kandidierte aber weiterhin zum Stadtrat. – Erstaunlich, dass nur sieben Jahre nach der Krieg ein führender „glühender Nationalsozialist“ (Entnazifizierungsunterlagen Staatsarchiv Nürnberg), ein Alter Kämpfer der NSDAP, in derselben Stadt, in der er als Bürgermeister die Verbrechen mitgetragen hatte, wieder zu politischen Ehren kam. – Letztlich wurde 1952 Dr. Lauterbach Oberbürgermeister und die damals rechts angesiedelte „Freie Wählervereinigung“ die stärkste Ratsfraktion (9) gefolgt von der SPD (5), der rechten „Deutschen Gemeinschaft“ (4) und der Wählergruppe Heimatvertriebene und Kriegsgeschädigte (2). Die Kommunisten wurden nicht mehr gewählt.
Über den Wahlkampf 1952, detaillierte Ergebnisse, dass der ehemalige Nazi-Bürgermeister Dr. Schmidt die meisten Stimmen bekommen konnte und welche Folgen dieser Rechtsruck im Rathaus in der Stadt hatte, lesen Sie:
- Rechtsruck in den 1950er-Jahren II: die Stadtrats- und Bürgermeisterwahl brachten in Rothenburg Altnazis wieder in Ämter
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Quellen: Stadtarchiv Rothenburg ob er Tauber, Ratsprotokolle 1945 bis 1952. – Fränkischer Anzeiger vom 31. März 1952, vom 2. und 7. April 1952. – Staatsarchiv Nürnberg, Bestand: Spruchkammer Rotheburg/Tauber, Nr. Sch 85. -Staatsarchiv Nürnberg, Wiedergutmachungsakte Heumann, Bestand BLVW 157 Nürnberg Nr. 389.