Rolf Oerter begann als Pimpf und erlebte das Kriegsende im kalten Sibirien. „Wir waren alle begeistert“ – Ein irrer Traum, der im Trümmermeer endete

Rolf Oerter erinnert sich; Foto: Dieter Balb (FA)

Rolf Oerter erinnert sich; Foto: Dieter Balb (FA)

Von Dieter Balb

Man glaubte an das goldene Zeitalter, das für Deutschland unter seinem neuen wortstarken Führer hereinbrechen würde; das Regime verstand es die Jugend schon von Kindesbeinen an für die nationalsozialistische Bewegung zu begeistern. Einer, der damals als „Pimpf“ im Alter von zehn Jahren dabei war ist Rolf Oerter. Ebenso wie er gehörten auch Fritz Schaumann und Fritz Gehringer (alles spätere Stadträte) zum Rothenburger Jungvolk. Bis heute erhalten sich Freundschaften aus jener Zeit. Freimütig erzählt uns Rolf Oerter von diesen prägenden Jugenderlebnissen.
Sie waren alle in Rothenburg, die Großen jener Zeit: Adolf Hitler, Generalfeldmarschall Göhring, der Reichsführer SS Heinrich Himmler, SA-Führer Ernst Röhm und schließlich auch Reichsjugendführer Baldur von Schirach. „Wir waren begeistert, ich bin ja in dem System aufgewachsen“ sagt Rolf Oerter, den viele als Geschäftsmann des einstigen Blumengeschäftes am Rödertor und ehemaligen Stadtrat kennen, der heute überzeugter Grüner ist und weiß, dass der Nationalsozialismus ein völlig falscher Weg war.

Stachern im Taubertal und Bootfahren auf dem Lindleinsee

Genau am 1. Mai 1933 wurde er, noch vor seinem 10. Geburtstag, Pimpf, wie man die bis 14-Jährigen im Jungvolk nannte. Stachern im Taubertal, Bootfahren auf dem Lindleinsee, Zeltlager im Schandtaubertal und gemeinsame Fahrten sowie das rundherum bes­tens organisierte Erlebnis guter Kameradschaft prägte seine Jugend von früh an. Und Rothenburger Straßenbanden wie die von der Klingengasse oder Galgengasse trugen Fehden aus. „Ich kann mir fast keine schönere Jugend vorstellen, es war eine wunderbare Zeit für uns!“ ist Rolf Oerter rückblickend sicher. Zu seinen Lehrern im Jakobsschulhaus hatte auch der Jude Sigmund Marx gehört.

Freundschaften aus der Jungvolkzeit hielten an

Sein Original-Notizbüchlein mit den akribischen Eintragungen (Jungenschaft 2, Zug 3 der 1. Hundertschaft des Fähnleins im Jungbann 308 Franken) zu Heimabenden, Schulung oder Fahrt ist noch vorhanden und da tauchen die heute alten (teils schon verstorbenen) Jungvolk-Kameraden nochmals auf: Hübsch, Hanselmann, Altreuter, Lorenz, Hufnagel, Krämer, Stahl, Haag und Endreß sowie Fritz Gehringer und Fritz Schaumann. Für Letzteren ist die bis heute dauernde Freundschaft zu Rolf Oerter auf die gemeinsame Jungvolkzeit gegründet. „Ich habe gebetet, dass ich gesund bleibe und gehofft, dass ich als Pimpf dabeibleiben kann“, erzählt Fritz Schaumann, denn als Neunjähriger hätte er von Oerter gar nicht aufgenommen werden dürfen, „aber der Fritz hat so gebettelt“, lacht Rolf Oerter noch heute darüber.

Flink wie Windhunde, hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder

Rolf Oerter als Pimpf; Foto: privat

Rolf Oerter als Pimpf; Foto: privat

In den dreißiger Jahren als Hitler mit wirtschaftlichen Erfolgen und einem neuen Selbstbewusstsein der unter dem Versailler Diktat leidenden Nation auftrumpfte und Parolen wie die vom wiedererstarkenden „friedlichen Deutschland in der europäischen Völkergemeinschaft“ auf große Resonanz stießen, galt: „Der deutsche Junge muss schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ forderte der Führer. Er postulierte die angebliche Überlegenheit der arischen Rasse, die ohne Rücksicht auf andere Völker die Welt beherrschen wollte – ein irrer Traum, der im Trümmermeer endete.
In der Rothenburger Jungenschaft herrschte wenige Jahre vor Kriegsausbruch noch eine ausgelassene, zuversichtliche Aufbruchstimmung. Das NS-Jungenblatt „Der Pimpf“ schreibt vom „Traum eines kleinen Mannes“ in die SS zu kommen, denn Jungvolk und Schutzstaffel seien „ein Herz und eine Seele“. Rothenburgs FRV-Bürgermeister Fritz Gehringer, einst Jungenschaftsführer in Oerters Zug, wird rund fünfzig Jahre später in der Reichsstadthalle bei einem Treffen alter Wehrmachtsoffiziere und SS-Angehöriger sagen, er sei heute noch stolz darauf in der SS gedient zu haben!

Russische Kriegsgefangenschaft im eisigen Sibirien

Das Gelände-Kriegsspiel wurde schnell grausamer Ernst, aber das empfanden noch nicht alle so. „Wir erlebten die Veteranen mit ihrer Verherrlichung des 1. Weltkriegs und glaubten es gibt nichts Schöneres“, erinnert sich Rolf Oerter und meldete sich 1941 freiwillig als 17-Jähriger zum Wehrdienst. Mit zwanzig Jahren wurde er Leutnant der Wehrmacht und die russische Gefangenschaft führte ihn nach Sibirien, wo ihm im Bergwerk klar wurde, wohin der Führer die Jugend und Deutschland gebracht hatte. Aus dem einstigen Spaß des „Schlachtenspielens“ war nicht nur blutiger Ernst, sondern Völkermord geworden.
Rolf Oerter sah sein Ende vor sich, als er nach der Gefangennahme am 10. Mai 1945 in der Tschechei mit andern im Hof eines Wasserkraftwerkes zusammengetrieben und von Tschechen erschossen werden sollte. Er hatte Glück, denn stattdessen folgte ein zehntägiger Marsch, auf dem viele umkamen, manche erschlagen wurden. „Ich war so stolz als Offizier, dass ich es ablehnte, als mir eine Frau Brot geben wollte, was mir heute noch furchtbar leid tut, wenn ich an das Schicksal dieser Frau denke“, bedauert Rolf Oerter und berichtet weiter: „Dann wurden wir mit bis zu 70 Leuten, alles Offiziere, in einen Viehwaggon gepfercht und nach Auschwitz-Birkenau“ gebracht, das berüchtigte Todeslager, in dem die Nazis die Juden umbrachten.

Sogar 300 Rubel Lohn erhalten

Schließlich ging der weitere Gefangenentransport über Lemberg (Ukraine) nach Russland hinter den Ural ins schon westsibirische Tscheljabinsk. Das Essen war rar, Trockenkartoffel und Wasser gab es, Durchfall und in den Lagern Diphtherie und Typhus führten dazu, dass man „starb wie die Fliegen“, sagt Oerter. Die Russen wollten von den Offizieren eine Selbstverpflichtung unterschrieben haben, dass sie sich als „faschistische Räuberoffiziere“ bekennen, aber Rolf Oerter dachte nicht daran, was ihn endgültig ins Bergwerk als „Kettensträfling“ brachte. Er landete dann aber im Lazarett und langsam besserte sich die Lage. Man kam in ein Traktorenwerk, konnte später Baracken bauen und hatte Handwerker im Einsatz. Positiv erinnert er sich nach 1947 an ein Lager in Erdhäusern und erhielt sogar 300 Rubel als Lohn, wenn man die Norm erfüllte.

Wieder in Rothenburg in die nationalistischen Partei Deutsche Gemeinschaft

Erst am 24. Oktober 1949 wurde der Rothenburger aus der Gefangenschaft in Tscheljabinsk entlassen. Am 7. November früh um 7 Uhr kam er in seiner Heimatstadt an. Politisch wurde er bald in der Deutschen Gemeinschaft aktiv, die als nationalbewusst galt und für die Wiederherstellung des Deutschen Reiches mit den Ostgebieten eintrat. August Haußleiter spielte dabei eine wichtige Rolle, vor allem dann bei der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD), die aus der DG hervorging und in der sich Rolf Oerter nachhaltig engagierte. „Damals war kalter Krieg und ich erlaubte mir eine eigene Meinung zu haben“, erzählt Oerter: „Meine einstigen Jungvolkfreunde waren da schon bei der Staatspartei“.
Er sei immer Kriegsgegner gewesen und als der Stadtrat das Schützenhaus eingeweiht hat, habe er kein Gewehr in die Hand genommen, betont der ehemalige Offizier, der jedes Wehrmachts-Kriegsverbrechen ebenso wie jedes andere schrecklich findet, aber hervorhebt, dass er kein Verbrechen der Wehrmacht selbst erlebt hat.

Als Nationalist bei den Grünen angekommen

Von 1960 bis 1978 war Rolf Oerter Stadtrat, pausierte dann und ließ sich 1984 als Mitglied der Grünen nochmals wählen (bis 1993), an deren Gründung er sogar zusammen mit Haußleiter insofern beteiligt war, als die AUD in der neuen Partei im Jahr 1980 aufging.
Ist er heute ein Linker? „Nein, ich vertrete auch als Grüner immer noch eine nationale Politik“, stellt Rolf Oerter fest und spricht von der längsten Friedensperiode in Europa, die man nicht gefährden dürfe. Er ist gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan und im früheren Jugoslawien, weswegen er drauf und dran war wie seine Frau es getan hat bei den Grünen auszutreten. Mit Oskar Schubart war er mehrmals in Susdal und freut sich über die gute Partnerschaft mit der russischen Stadt. Nicht die Amerikaner, sondern die Russen hätten die Wiedervereinigung ermöglicht und die Zusammenarbeit mit ihnen sei für Europa sehr wichtig. Die AUD und die Grünen hätten erkannt, dass es weltweit viele dringliche Probleme gibt, die man nur im Frieden bewältigen könne. Rolf Oerter: „Was wir mit unserer Art zu leben auf der Erde anrichten, verträgt nicht auch noch einen Krieg, sonst kann man jede Klimakonferenz vergessen“.
Er hofft, dass die Nachkriegsgenerationen aus den Erfahrungen lernen, auch wenn es bald keine Zeitzeugen mehr gibt, die den Weltkrieg am eigenen Leib verspürt haben. Seinen Kindern und Enkelkinder gibt er seine Erkenntnisse weiter. „Die Zeiten sind vorbei, um sich anzufallen und um Besitztümer zu streiten, das geht nicht mehr beim Zustand dieser Erde und den Waffenarsenalen“, zieht Rolf Oerter das Resümee.

Link für den Original-Artikel:
http://www.archiv.fraenkischer-anzeiger.de/ISY/index.php?get=2&action=read&kieRID=5485&kieCID=1

Nachtrag: Rolf Oerter starb am 24. Dezember 2015 im Alter von 92 Jahren.

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Quelle: Erschienen im „Fränkischen Anzeiger“ (FA) am 3. Februar 2012. – Hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors (Chefredakteur des FA). Die Originalüberschrift lautete: Rolf Oerter begann als Pimpf und erlebt das Ende in Russland – „Wir waren alle begeistert“. Sie wurde wegen des veränderten Online-Zeilenlaufs ergänzt, ebenso wurden Zwischenüberschriften der besseren Lesbarkeit halber eingesetzt.
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