Von Wolf Stegemann
Nachdem nach dem Ersten Weltkrieg das Wahlrecht für Frauen eingeführt worden war, konnte 1919 auch in Rothenburg mit Maria Philipp eine Frau in den Stadtrat einziehen. Hatten die Sozialdemokraten vordem schon immer einen schweren Stand in Rothenburg gehabt, so konnten sie sich nach dem Ersten Weltkrieg in Rothenburg gut etablieren, hatten stets Vertreter im Stadtrat, kamen aber gegen die dichte rechtsnationale und rechtsextreme Stimmung in der Stadt und im Bezirk nicht an. Nur einmal mit den Fäusten. In der legendären Saalschlacht am 12. April 1929 im „Bären“ wollten SA-Männer die SPD-Versammlung mit dem damaligen SPD-Landtagsabgeordneten und Münchener Staatsanwalt Wilhelm Hoegner (1954 bayer. Ministerpräsident) durch eine provozierte Schlägerei sprengen. SPD-Mitglieder und Sympathisanten ließen sich das nicht gefallen und schlugen zurück. Es gab zahlreiche Verletzte. Wegen „der bei ihnen (SA) allgemein wahrzunemenden Rauflust“, wie ein Bezirksamtsvorstand schrieb, kam es selbst außerhalb von Versammlungen in ganz Mittel- und Oberfranken zu schweren Schlägereien. Nach der Schlägerei im „Bären“ gab es Gerichtsurteile. Dem entsprach diese„Bären“-Schlacht in der Kleinstadt. Michl Emmerling, der in der Nachkriegszeit ein angesehener SPD-Bürgermeister in Rothenburg werden sollte, wurde damals wegen gefährlicher Körperverletzung zu 30 Reichsmark Strafe verurteilt.
Karl Höfler, NSDAP-Propagandaleiter der Ortsgruppe Rothenburg, schrieb über die „Bären“-Schlägerei unterm 12. April 1929 in seine Chronik:
„Die Lage scheint interessant zu werden. Die zwei Holzversammlungen [gemeint Karl Holz, NSDAP-Nürnberg], die sich nicht gegen die Sozialdemokraten richteten, sondern sich fast ausschließlich mit der Judenfrage befassten, rief plötzlich die SPD auf den Plan. Sie setzte eine öffentliche Versammlung mit einem ihrer namhaftesten Redner – es war der damalige Staatsanwalt Högner [Hoegner], München – an. Die Nationalsozialisten wurden hierzu öffentlich eingeladen. Dadurch war diese Versammlung zu einer Prestigefrage für die Ortsgruppe Rothenburg geworden. Wahrscheinlich glaubte man den Nationalsozialisten damit für immer das Handwerk im Stadtgebiet zu legen …“
SA-Schläger kamen in Zivil
Die Schlägerei mit Biergläsern, Tischen und Stuhlbeinen im Hotel „Bären“ hatte Folgen. Nicht nur, dass der Vorstand des Bezirksamtes als Stadtkommissär für den Bezirk Rothenburg „bis auf weiters alle öffentlichen Versammlungen politischen Charakters“ verboten hatte, wie der „Fränkische Annzeiger“ am 16. April 1929 schrieb, sondern die an der Schlägerei beteiligten Sozialdemokraten und Nationalsozialisten wurden vor dem Ansbacher Landgericht wegen Körperverletzung angeklagt. Der Saal war bereits vor Beginn der Versammlung überfüllt, so dass die Polizei den Zugang sperren musste. Der Versammlungsredner aus München, Dr. Wilhelm Hoegner, SPD-Abgeordneter, warnte in seiner Rede vor dem Nationalsozialismus und sagte unter anderem:
„Wir wollen die Farben schwarz-rot-gold entrollen. Wir wollen zeigen, dass das republikanische Bayern besteht, dass es vorwärts marschiert. Wir wollen kämpfen gegen den bayerischen Faschismus und wir wollen sterben für die große deutsche Republik.“
Laut Polizeibericht gab es während der Aussprache am Rednerpult einen Tumult. Es wurde mit Biergläsern und Stühlen geworfen, wobei Teilnehmer schwere Verletzungen erlitten. Die Polizei räumte den Saal und ermittelte gegen die Randalierer.
NSDAP-Propagandist Höfler, einer der Randalierer, schilderte in der Partei-Chronik unter dem Datum 12. April 1929 – vermutlich aber später geschrieben – die Ereignisse so: Die NSDAP hatte zu zwei Versammlungen mit dem Nürnberger Schriftleiter Karl Holz eingeladen, auf denen man sich ausschließlich mit der „Judenfrage“ gefasst hatte. Das habe die SPD auf den Plan gerufen, die mit dem Staatsanwalt Wilhelm Hoegner als Parteiredner zur Versammlung in den „Bären“ einlud und im Vorfeld die Aussage traf, dass man dem Nationalsozialismus für immer das Handwerk im Stadtgebiet legen werde. In Rothenburg sei die Ortsgruppe der NSDAP damals noch ziemlich schwach gewesen. Daher, so Höfler, sei von der Partei angeordnet worden, dass die SA in der Versammlung anwesend zu sein hatte.
„Um die eigene Stärke nicht zu verraten, wurde befohlen, keine Abzeichen anzulegen. Die beabsichtigte Sitzordnung der SA konnte nicht durchgeführt werden, da der Saal des Hotel ,Bären’ beim Eintreffen der einzelnen Gruppen schon gefüllt war.“
NSDAP-Chronist: „Aufleuchten in den Augen“
Weiter schreibt Höfler, dass die Ausführungen des Redners „eine einzige Hetze und Anpöbelung der Nationalsozialisten“ gewesen sei. Unter anderem empfahl der Redner, die „Nationalsozialisten an ihren eigenen Gedärmen aufzuhaspeln“. Der NSDAP-Chronist weiter:
„Bei dieser Auseinandersetzung spielten sich auch humoristische Szenen ab. Einige der Kämpfenden waren förmlich ineinander verbissen und prügelten sich redlich herum. Plötzlich ein Aufleuchten in den Augen des einen. Dann folgte der freudige Ausruf: ,Du Depp, ich bin doch auch ein Nazi!’ Sie haben sich, da sie ohne Abzeichen waren, nicht erkannt.“
Höflers Bewertung dieser „Saalschlacht“ für die NSDAP:
„Mit dieser Versammlung hatten sich die Nationalsozialisten in der Stadt restlos durchgesetzt. Das Selbstvertrauen war gestiegen. Der Stadtkommissär aber verhängte zur Beruhigung der Gemüter ein Versammlungsverbot.“
Der oben erwähnte Befehl, wie die SA in der SPD-Versammlung aufzutreten habe, wurde vom SA-Sturmführer Hans Voit am 11. April 1929 schriftlich erlassen („NSDAP-Ortsgruppe Rothenburg/Tbr. – Stubefehl Nr. 3“; Stubefehl = Sturmbefehl). Darin steht u. a.:
„2. Es geht deshalb seitens des Herrn Staffelführer Stegmann der Befehl, dass sämtliche SA-Leute sich am Freitag, den 12. April 1929 abends 7.30 Uhr bei Pg. Meister (Am Weißen Turm) einfinden (…) Pg. Die nicht erscheinen, werden wegen Feigheit aus der SA ausgeschlossen (…) 3. Anzug: Zum Besuch obiger Versammlung erscheinen alle Parteigenossen ohne Abzeichen. Kein Parteigenosse darf einen Stecken oder sonstiges Schlaginstrument dabei haben. Es wird auch verboten, Taschenmesser ect. mitzunehmen. Die Parteigenossen haben größtes Stillschweigen über alles zu bewahren.“
Angeklagt vor dem Landgericht – Freisprüche und Geldstrafen
Die Schlägerei hatte ein juristisches Nachspiel vor dem Landgericht Ansbach. Angeklagt waren nicht nur die randalierenden SA-Männer, sondern auch SPD-Teilnehmer, die nun – insgesamt ihrer acht – zusammen vom 17. bis 19. Oktober 1929 auf der Anklagebank saßen. Unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Ruttmann wurde versucht, die persönliche Schuld eines jeden einzelnen Angeklagten festzustellen. Angeklagt waren Emil Reichel, Michael Emmerling, Leonhard Großmüller, Wilhelm Steinmüller (alle SPD) und von der SA Hans Braun (Dombühl), Leonhard Braun (Wettringen), Hans Voit, Johann Haag (Gebsattel), Wilhelm Stegmann (Schillingsfürst) und Leonhard Six. Ihnen wurden Vergehen der gefährlichen bzw. leichten Körperverletzung, Six und Haag auch „Übertretung des Waffengebrauchs“ vorgeworfen. Staatsanwaltschaft und der Verteidiger der Angeklagten, Dr. Rosenfelder, ließen zur Beweisaufnahme eine lange Reihe von Zeugen das schildern, was sie gesehen hatten. Vor Gericht war es dann meist nur das, was sie aus ihrer politischen Sicht gesehen haben wollten, um den jeweiligen Angeklagten zu helfen oder zu belasten
Etliche Zeugen wollten sich vor Gericht nicht mehr festlegen
Die Zeugen waren: „Frontoffizier“ August Roth aus Schillingsfürst bzw. Nürnberg (Aussage für SA), Zimmermann Hans Lutz erinnerte sich an nichts mehr, Gutsverwalter Georg Küstner aus Volkach (für SA), Hans Geuber (für SA), Studienprofessor Tachauer (für SPD), Stephan Kern aus Vietigheim (für SA), Lehr aus Wettringen (für SA), Fritz Herrscher konnte sich an nichts mehr erinnern, Ernst Hofmann aus Wettringen (für SA), Lechner aus Dombühl (für SA), Leonhard Appler (für SPD), Maschinist Herrscher erkannte den SA-Schläger, den er bei der Polizeiüberstellung noch erkannte, nicht wieder (für SA), Polizei-Oberwachtmeister Gräter erkannte Hans Braun als SA-Schläger ebenfalls nicht wieder (für SA), Johanna Reitzler konnte auch keine Aussagen mehr machen (für SA), Gendarmerie-Kommissar Baier aus Dombühl hat bei dem Angeklagten die von Zeugen als rot-weiß gestreifte Hose nicht gefunden (positiv für SA), Johann Wagner verweigerte als Schwiegervater des Angeklagten Emmerling die Aussage, Johann Schmieg sagte das Gegenteil zu seiner ersten Bekundung aus, Johann Löhner schilderte, dass er von Voit (SA) mit einem Bierglas am Kopf getroffen worden war (gegen SA), Hilfsarbeiter Georg Sulzer bezeugte, dass er von dem Angeklagten Haag (SA) mit einem Stuhlbein getroffen wurde (Haag beteuerte daraufhin, er wollte mit dem Stuhlbein herumfliegende Biergläser abwehren), Gärtner und SS-Mann Kitzinger aus Gebsattel half mit seiner Aussage dem Parteifreund Stegmann (NSDAP; für SA), Zeuge Ebert aus Schillingsfürst beobachtete, wie Lehr (SA) geschlagen wurde, Förster Julius Porzelt aus Nürnberg entlastete Stegmann (für SA), Otto Steinmüller machte neutrale Aussagen, Landwirt und Stadtrat Schmidt habe beobachtete, wie der Stuhl Reichels nach hinten kippte, Karl Goller konnte sich an nichts mehr erinnern, Steinmetzmeister Herrscher sagte aus, dass er junge Burschen sagen hörte, dass es „heute noch kracht“, Verlagsvertreter Leonhard Hofmann konnte sich an nichts mehr erinnern, Fabrikarbeiter Stephan Klein wusste genau, dass Leonhard Braun auf mehrere Personen eingeschlagen hatte (gegen SA), Georg Braun aus Dombühl (Bruder des Angeklagten) will gehört haben, wie SPD-Leute bei der Aussprache Stegmanns riefen „Erschlagt ihn doch, den Hund!“ (gemeint war Stegmann von der SA), Fabrikarbeiter Georg Arlt sagte aus, dass der SA-Führer Wilhelm Stegmann niemals etwas zum Werfen in der Hand gehalten hätte (für SA). Die Aussagen der weiteren Zeugen, alle aus Rothenburg, brachten keine Erhellung der Ereignisse: Haushälterin Betty Uhl, Fabrikarbeiter Fr. Kummleiter, Metzger Georg Mitesser, Stadtrat Ernst Körner, Polizei-Hauptwachtmeister Hans Hörber.
Auch Wilhelm Hoegner (SPD) musste als Zeuge vor Gericht erscheinen
Auch SPD-Parteiredner Dr. Wilhelm Hoegner, Staatsanwalt in München und nach dem Krieg Ministerpräsident in Bayern, musste als Zeuge vor Gericht aussagen. Er bestätigte, in seiner Rede „einige scharfe Wendungen gegen politisch Andersdenkende“ gebraucht zu haben. Auch habe er gesehen, wie der Nationalsozialist Stegmann und seine Anhänger mit Stühlen geworfen hätten. Polizei-Oberwachtmeister Gräte erkannte den von ihm nach der Tat vernommenen SA-Mann Hans Braun, der Emmerling geschlagen hatte, vor Gericht nicht wieder. Auch die Zeugin Johanna Reitzler, will ihn nicht wieder erkannt habe, da er damals „Tirolerhosen“ mit „nackten Knien“ getragen hatte. Der Holzbildhauer Otto Schneider konnte sich nur „im subjektiven Sinne“ äußern, ob die Nationalsozialisten diese Versammlung sprengen wollten. Und der Nationalsozialist Karl Holz aus Nürnberg, nach Streicher der spätere Gauleiter von Franken, wollte gesehen haben, dass sein Parteigenosse Stegmann weder was geworfen noch mit einem harten Gegenstand zugeschlagen hatte, der Sozialdemokrat Michael Emmerling hingegen auf Holz mit einem Stuhl eingeschlagen habe. Andere sagten aus, Stegmann hätte doch „zugeschlagen“. So und ähnlich liefen alle Zeugenaussagen ab. Der Angeklagte Leonhard Braun aus Wettringen (SA) gab zu, mit dem Koppelriemen einen Unbekannten geschlagen zu haben, dass er „rückwärts angepackt“ und von Emmerling mit einem Stuhl angegriffen worden sei, was Emmerling als „völlig unwahr“ bezeichnete.
Körperverletzung: Mäßige Geldstrafen
Die Rechtslage, die unter diesen Zeugenaussagen zustande kam, führte am Ende zu zwei Freisprüchen und sechs Geldstrafen. Zu Lasten der Staatskasse wurden die beiden Nationalsozialisten Wilhelm Stegmann und Hans Braun freigesprochen. Geldstrafen und Beteiligungskosten am Verfahren mussten zahlen: Emil Reichel, Michael Emmerling, Wilhelm Steinmüller je 30 RM, ersatzweise 6 Tage Haft; Leonhard Großmüller 20 RM, ersatzweise 4 Tage Haft; Hans Voit 30 und 60 RM, ersatzweise 6 und 10 Tage Haft; Johann Haag 20 und 5 RM, ersatzweise 4 und 1 Tag Haft sowie Leonhard Six 5 RM ersatzweise 1 Tag Haft.
Schläger machten nach 1933 Karriere
Mitte 1933 wurde die SPD im gesamten Reich verboten. Michael (auch Mich) Emmerling kam vorübergehend in Schutzhaft. Vorher stimmten die Reichstagsabgeordneten der SPD noch gegen das Ermächtigungsgesetz. Waren die Sozialdemokraten in Berlin bereits in der Minderheit, so erst recht in Rothenburg, wo die NSDAP bei den Reichstagswahlen im Bezirk Rothenburg rund 93 Prozent der Stimmen erhielt. Noch vor dem braunen Landkartenfleck Bückeburg (Westfalen) mit 91 Prozent brachte dieses Wahlergebnis den Rothenburgern höchstes Lob („bester Landbezirk Deutschlands“) von Propagandaminister Joseph Goebbels und Gauleiter Julius Streicher. – Karl Holz wurde 1942 Gauleiter von Franken, Wilhelm Stegmann 1931 landwirtschaftlicher Referent in der Obersten SA-Führung (schon bald mi6 Hitler überworfen), Georg Arlt SA-Obersturmbannführer.
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Quelle: Fränkischer Anzeiger vom 21. Oktober 1929, abgedruckt als Faksimile in FA vom 19./20. März 1983 (Serie 8 „Rothenburg im Nationalsozialismus“).