Sondergericht (4): Siegmund Marx, jüdischer Lehrer, kam 1933 in Schutzhaft und sollte angeklagt werden. Er kam frei und ging nach Speyer

Fränkischer Anzeiger vom

“Fränkischer Anzeiger” vom 14. März 1933

Von Wolf Stegemann

„In Schutzhaft genommen wurde der Lehrer der israelitischen Kultusgemeinde Siegmund Marx.“ Mit diesem einfachen Satz informierte am 13. April 1933 der „Fränkische Anzeiger“ seine Leser über die Verhaftung des jüdischen Bürgers. Diese Polizei- und Justizaktion der Nationalsozialisten erfolgte kurz nach der Machergreifung und wenige Tage nach der Anordnung des Bayerischen NS-Statthalters Ritter von Epp in München, Schutzhaft für unliebsame Volksgenossen einzuführen. Hinter dieser Zeile steckt aber bereits der Anfang der Rechtsbrüche und Grausamkeiten, die der Staat an seinen Staatsbürgern bis hin zum zig-tausendfachen Mord in den nächsten zwölf Jahren noch begehen sollte.

Bezirksamt Rothenburg nahm ihn in „Schutzhaft“

Siegmund Marx, geboren 1895 in Bödigheim (Baden) und wohnhaft in der Herrngasse 21, wurde vorgeworfen, gegen die „Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“ vom 21. März 1933 verstoßen zu haben. Was hat er getan? Gendarmerie-Kommissär Würsching von der Gendarmeriestation Rothenburg teilte dies am 5. April 1933 dem Stadtrat mit:

„Am 2. April 1933 nachm. erschien aus hies. Hauptstation der Sonderkommissär beim hies. Bezirksamt Karl Kitzinger von Gebsattel und teilte mit, dass der israelitische Lehrer Marx von hier inbezug auf die SA-Leute Lassauer und Ulrich geäußert habe, beide gehörten an die Wand gestellt und standrechtlich erschossen und solange solche Elemente in der Partei sind, tauge die Regierung nichts…“

Haftbefehl

Haftbefehl

Karl Kitzinger forderte die Gendarmen auf, „eine Frau Martha Weiß von hier als Zeugin“ zu vernehmen, ob diese Aussage stimme. Dann wolle er, Kitzinger, einen Schutzhaftbefehl gegen Siegmund Marx erlassen. Gendarmerie-Kommissär Würsching stellte fest, dass es sich bei der „Frau Martha Weiss“ um die Schwägerin des SA-Manns Lassauer handelte und teilte am 7. April 1933 dem Bezirksamt Rothenburg mit, dass Siegmund Marx vermutlich zur Beerdigung seines in Bödigheim verstorbenen Vaters reisen wolle und der Verdacht bestehe, „dass er von dort aus flüchtig geht“. Noch am selben Tag ersuchte das Bezirksamt der Amtsanwaltschaft des Amtgerichts Rothenburg, den Juden Siegmund Marx zu inhaftieren. Nach Feststellung der Zuständigkeit zwischen den Staatsanwaltschaften Ansbach und Nürnberg-Fürth erließ das Sondergericht für den Bezirk des Oberlandesgerichts Nürnberg am 13. April Haftbefehl (Ger.-Reg. No. I 20/1933) mit dem bereits erwähnten Heimtücke-Vorwurf. Siegmund Marx wurde vorerst in das Ansbacher Landgerichtsgefängnis gebracht.

Zeugin Babette Lassauer stellte Teile von Marx’ Äußerungen in Abrede

Inzwischen nahm die Schutzpolizei Rothenburg Ermittlungen auf. Babette Lassauer, geborene Weiss, wohnhaft in der Herrngasse 23, gab bei ihrer Einvernahme durch Wachtmeister Rottmann an:

„Anfang voriger Woche … kam Marx nachm. In unser Geschäft und erzählte uns von den Vorgängen in Creglingen. Dabei sagte er, in Creglingen sei der Stern erschlagen worden, die Sache würde nun so hingestellt, als ob verkappte Kommunisten dies gemacht hätten. Unter diesen Leuten hätten sich auch 6 Polizei-Beamte von Heilbronn befunden. Marx sei über die Sache stark empört gewesen. Außerdem war er darüber empört, weil er als Seelsorger nicht zu dem verhafteten Mann und seinen Söhnen in das hies. Gefängnis gelassen wurde. Über den hiesigen Vorgang sagte er, dass Ulrich und Lassauer die Sache bei Gebr. Mann selbst gemacht hätten. Der Weg zum Gefängnis ginge jedoch nicht die Adam-Hörber-Straße aufwärts, sondern abwärts. Die Polizei sei zuerst auch nicht da gewesen, erst als Justin Mann auf die Polizeiwache gekommen sei, sei die Polizei in die Adam-Hörber-Straße gegangen. Wörtlich sagte dann Marx: ,So lange solche Buben dabei sind, hat die Regierung für uns keinen Wert, die (die Buben meinend) gehören beseitigt.’ Marx sagte nicht, dass sie an die Wand gestellt und erschossen gehören. Über den Reichskanzler Hitler sprach sich Marx nur lobend aus, er sagte, dass dieser die Juden in seinen Reden nicht genannt und beschimpft habe. Die Angelegenheit ist uns sehr peinlich, da wir geschäftlich für die hies. Juden sehr viel arbeiten.“

Der Leiter der Anklagebehörde bei dem Sondergericht Nürnberg erkundigte sich am 18. April über den Vorfall in Creglingen und bat die Rothenburger Gendarmerie-Station („Eilt!“) um einen Bericht, wie sich die „Angelegenheit Gebr. Mann in Rothenburg abgespielt“ habe, in welchen Punkten „die Darstellung des Marx von der Wirklichkeit“ abweiche und ob er „nach Sachlage wissentlich oder grob fahrlässig Unwahres berichtet“ habe. Zudem hatte er noch eine lange Reihe anderer Fragen.

  • Einschub des Autors: Mit dieser Fragestellung unterstellt der Staatsanwalt in zugegebener Unkenntnis der Sachlage dem Lehrer Marx, dass er gelogen hat. Des Staatsanwalts Frage war nur, ob wissentlich oder grob fahrlässig!

Gendarmerie-Kommissär Würsching übermittelt dem Leiter der Staatsanwaltschaft beim Sondergericht Nürnberg am 21. April, die gewünschte Anzeige sowie das Protokoll der Aussage von Babette Lassauer und schreibt:

„Wenn auch einerseits das Vorgehen der SA heute in dem vorerwähnten Fall (Gebr. Mann) nicht gebilligt werden kann, weil sie ohne jegliche Führung oder ihrer Parteileitung vorgegangen sind, so muss doch andererseits betont werden, dass hiermit die Regierung der Nationalen Erhebung keineswegs etwas zu tun hat. Es ist somit der Vorwurf des Marx ,Solange solche Buben dabei sind, habe die Regierung für uns (Juden) keinen Wert’ unbegründet und unangebracht, und somit strafbar.
Nach der ganzen Sachlage wird wohl dem Marx eine wissentliche unwahre Behauptung nicht unterschoben werden können, dagegen steht fest, dass Marx durch seine Äußerung in grob fahrlässiger Weise gehandelt hat.
Bemerkt wird, dass schon längere Zeit unter der hiesigen Bevölkerung eine große Erbitterung gegen die Gebr. Mann wegen ihrem unehrlichen und unreellen Geschäftsgebaren (im Vieh- und Güterhandel) herrscht. Tatsächlich wurden auch bei den Prüfungen der Geschäftsbücher und sonstiger Geschäftspapiere durch die hies. Gendarmerie u. eines hierzu bestellten Revisors namens Settler, Richard, Diplom-Kaufmann von Ansbach, Reitbahn 1, große Verfehlungen inbezug auf Zinswucher und Betrugs festgestellt. [Settler war auch Polizei-Oberkommissär.]
Es ist daher in Aufregung u. Erbitterung das Vorgehen der im vorerwähnten Falle (Gebr. Mann) der SA-Leute wohl begreiflich.
Gegen die Gebr. Mann wurde auch schon eine Sammelanzeige wegen Betrugs und Zinswuchers, bzw. gewerbemäßigen Wuchers und auch wegen Meineids unterm 9. April 1933 an die Staatsanwaltschaft Ansbach erstattet. Es liegen auch noch mehrere Anzeigen gleicher Art gegen sie vor, die in allernächster Zeit erstattet werden. Als Verhaftete, zu welchen Marx als Seelsorger nicht durfte, kommen die Gebr. Justin und Norbert Mann, sowie deren Vater Josef Mann von Rothenburg o/T. in Betracht.“

Der Gendarmerie-Leiter Würsching schreibt weiter, dass die Familien Mann und Marx nicht miteinander verwandt seien, dass Marx einen guten Ruf hätte und sich bislang politisch öffentlich nicht in Erscheinung getreten sei, aber:

„Dagegen galt Marx bis vor kurzem als links eingestellte Person, wie dies bei der hiesigen jüdischen Bevölkerung allgemein der Fall ist.“

Sodann wird berichtet, dass Siegmund Marx bereits auf „Veranlassung des Sonderkommissars, Karl Kitzinger von Gebsattel“ am 12. April wegen Vergehens gegen das Heimtückegesetz in Schutzhaft genommen worden sei.

„Nachdem die Familie Marx gegenüber dem hiesigen Amtsgerichtsgefängnis wohnhaft ist, u. daher die Gefahr bestand, dass sich Marx mit seinen Angehörigen, die direkt in den Gefängnishof sehen können, verständigen könnte, wurde derselbe auf Anordnung des Herrn Sonderkommissars Kitzinger im Einvernehmen mit dem Herrn Stadtkommissar des hiesigen Herrn Gefängnisvorstandes und des Herrn Oberstaatsanwaltes beim Landgerichte Ansbach am 14. 4. mittels Sammeltransportes in das Landgerichtsgefängnis Ansbach überführt, wo er sich z. Zt. noch befindet. … Auch wurde vom Bezirksamt Rothenburg Passsperre verhängt.“

Der Religionslehrer S. Marx wohnte im oberen Stockwerk der Synagoge an der Ecke Heringsbronnengässchen/Herrngasse und konnte auf das Gefängnis und in den Gefängnishof sehen. – Die Gendarmerie-Hauptstelle Ansbach bestätigte am 22. April 1933 die Aufnahme des Schutzhaft-Gefangenen Siegmund Marx und berichtet:

„Siegmund Marx befindet sich seit Karfreitag, den 14. April 33 in hies.  Landger. Gefgs. In Schutzhaft. Auf dem Wege vom Bahnhof zum Gefgs. erzählte er, dass nun auch der 2. Bundesvorsitzende von Stahlhelm, ,Duesterberg’ abgesetzt worden sei u. zwar deshalb sei der arme ,Karl’ abgesetzt worden, weil sie festgestellt haben, dass dessen Großvater ein Jude war.“

Polizei fand bei Siegmund Marx einen vergessenen Brief aus dem Jahr 1932

Zurück zu den Ermittlungstätigkeiten und Ergebnissen der Gendarmerie in Rothenburg gegen Siegmund Marx, der im Ansbacher Gefängnis einsitzt. Gendarmerie-Kommissär Würsching berichtet am 13. April dem Bezirksamt Rothenburg unter der Betreffzeile: „Durchsuchung und Beschlagnahme von Material gegen die NSDA“, dass er und die  Hauptwachtmeister Helmschmidt von der Rothenburger Schutzmannschaft und Wassner von der Gendarmerie-Station bei dem jüdischen Religionslehrer Marx einen Brief vom 25. Januar 1932 gefunden und beschagnahmt hätten. Ebenso zwei Rundschreiben des „Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV), Landesverband Bayern. Der Brief war verschlossen und an Dr. Julian Morgenstern in Cincinate/USA [Cincinnati] adressiert. Der Brief, so steht es im Polizeibericht, „wurde anscheinend vergessen ihn zur Post zu bringen“. Die Rothenburger Polizei beschreibt den Inhalt, der im Januar 1932 geschrieben worden war:

„Marx vergleicht die nationale Bewegung (NSDAP) mit dem Amalekitern, die das Volk Israel geschlagen haben und weist seine Glaubensgenossen in Amerika auf die große Gefahr hin, in der die deutschen Juden schweben. Die Hebräische Schrift wurde von dem stud. Theologie Herrn Georg Heckel, Sohn des Gend.-Oberkommissärs Heckel dahier übersetzt und lautet wie folgt:

1.      Amalek
2.     
Gleich wie er seine Hand hob und Amalek überlegen war
3.     
Warum soll ich vertilgen das Gedächtnis Amaleks unter dem Himmel?

Die beiden Rundschreiben des CV dürften für die Regierung der nationalen Erhebung gleichfalls wichtig sein, weil aus ihnen zu entnehmen ist, dass sich der CV. in Bayern aktiv an der Bekämpfung der nationalen Bewegung beteiligt hat.“

Polizisten beim Totschlag in Creglingen dabei?

Da Siegmund Marx sich „staatsabträglich“ zu den Creglinger Totschlagsvorfällen geäußert hatte, informierte sich der Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht Nürnberg über die Vorfälle beim Stuttgarter Landespolizeiamt, um vermutlich nachweisen zu können, dass hier Siegmund Marx mit seiner Äußerung gegen das Heimtückegesetz verstoßen hat. Marx hatte nämlich gesagt, dass in Creglingen ein Jude erschlagen wurde und sechs Polizei-Beamte beteiligt gewesen waren. Um dies zu vertuschen, sei der Vorfall den Kommunisten angelastet worden. Das Landeskriminalpolizeiamt Stuttgart gab am 21. April Auskunft und bestätigte, dass die Creglinger Juden Hermann Stern und Adolf Rosenfeld an den Folgen von Schlägen gestorben seien. Die Polizei ermittelte als Täter Fritz Klein (SA-Standartenführer aus Neckarsulm), Fritz Wimpfheimer (Geometer aus Heilbronn), Alfred Dollmann (Kraftwagenführer aus Heilbronn), Fritz Moser (Maurermeister aus Heilbronn), Ludwig Mühler (Kaufmann aus Heilbronn), Hermann Kurz (Kraftwagenführer aus Heilbronn). Gegen die Täter wurde Strafanzeigen wegen Körperverletzung bei der Staatsanwaltschaft Ellwangen erstattet. Von einer angeblichen polizeilichen Beteiligung war keine Rede. Sie wurde in diesem Schreiben weder dementiert noch bestätigt.

Siegmund Marx 1933 nach Speyer versetzt

Damit endet die Sondergerichtsakte Siegmund Marx. Offensichtlich wurde er wegen seiner Äußerungen vor dem Sondergericht doch nicht angeklagt. Denn noch 1933 wurde er als jüdischer Lehrer nach Speyer versetzt. Der Schulleiter des Rothenburger Gymnasiums, an dem er als Lehrer tätig war, überließ ihm beim Abschied jüdisches Schriftgut der Schule, das auf Anordnung der Bezirksregierung eigentlich schon längst vernichtet sein sollte. Siegmund Marx, der von 1929 bis 1933 als angesehener Bürger und Lehrer in Rothenburg lebte, wurde 1942 in Auschwitz ermordet (siehe „Die jüdische Bürger Rothenburgs – eine Übersicht“).

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Quelle: Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Anklagebehörde bei dem Sondergericht Nürnberg, Nr. 2808

 

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