Von Wolf Stegemann
Dienen und marschieren lernte beizeiten, wer in das Dritte Reich hineingeboren wurde: Im Jungvolk, in der Hitlerjugend, beim Arbeitsdienst und schließlich als Soldat. Viele überlebten diese Jugend nicht. Wer davongekommen war, hatte es schwer, sich von der totalen Prägung zu befreien. Heute gehen Hitlers Kinder in die Rente. 1947 wurde die Hitlerjugend-Generation im Zuge der Entnazifizierung als „unbelastet“ amnestiert. Dies war ein einmaliger Vorgang, denn beispielsweise die Amerikaner ließen ihre üppige Militärbürokratie zur Erforschung nationalsozialistischer Beschäftigung der deutschen Jugend üppig wuchern. Nicht selten wurden Hitlerjugend-Führer oder BDM-Führerinnen als „Hauptschuldige“ eingestuft.
Inzwischen hat sich die Diskussion darüber beruhigt, ob diese oder jene HJ-Jahrgänge „umerziehbar“ seien, ob ihnen jemals als Demokraten zu trauen sei, nachdem sie in den entscheidenden Jahren der Persönlichkeitsprägung den Namen Hitlers getragen hatten und für sein System erzogen worden waren.
Hitlerjugend diente zur Schaffung eines neuen Menschen
Der Nationalsozialismus verstand unter Hitlerjugend die „einheitliche Organisation der gesamten deutschen Jugend im nationalsozialistischen Geist“. Aus Hitlers Äußerungen in „Mein Kampf“ über die Jugenderziehung ist zu entnehmen, dass nichts Geringeres als die Schaffung eines neuen Menschen geplant war. Der Vorrang der körperlichen Ertüchtigung sollte der „Heranzüchtung kerngesunder Körper“ dienen, wobei der Begriff Züchtung im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen war. Dem biologischen Denken entsprechend wurde die intellektuelle Bildung gering bewertet. Nicht im „Einpumpen so genannter Weisheit“ bestehe die Aufgabe der Jugenderziehung, sondern in der „Stählung der jungen Körper“.
Hitler brauchte für die Durchführung seiner Ziele Menschen, die, vom „Recht des Stärkeren“ überzeugt, „unwertes Leben“ ohne Hemmung vernichteten. Die 1926 gegründete Hitlerjugend erhielt vom 1. Dezember 1936 an die Aufgabe, „die gesamte deutsche Jugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen“. Neben die geschlossene Erfassung aller Jugendlichen zum HJ-Dienst traten ab 1937 parteieigene Schulen: die auf den Parteiordensburgen Sonthofen (Allgäu), Vogelsang (Rheinland) und Crössinsee (Pommern) untergebrachten Adolf-Hitler-Schulen (1938 wurden zehn weitere gegründet), die ebenso wie die SS-Schulen Internatsschulen waren. Hier wurde den ausgewählten Zöglingen täglich das Empfinden eingeimpft, eine Auslese darzustellen und künftig besondere Aufgaben lösen zu dürfen.
Hitler bekam zum Geburtstag einen ganzen Jahrgang Jungvolk „geschenkt“
Das Jahr 1936 war als „Jahr des deutschen Jungvolks“ der Übergang von den bis dahin noch relativ freien, abenteuerlichen HJ-Gruppen zu strenger Neugliederung der Staatsjugend. Am 19. April dieses Jahres wurden 90 Prozent des Jahrgangs 1926 in Jungvolk und Jungmädelbund aufgenommen und in einer Feierstunde, die sich alljährlich wiederholte, am Vorabend von Hitlers Geburtstag, dem Führer geschenkt, dessen Namen die Jungen und Mädchen trugen. Hitler sollte sich dieses Geschenkes noch bedienen. Am 20. April 1936 leisteten ihm 190.000 junge Führer und Führerinnen in einer Massenkundgebung den Treueid. Die Hitlerjugend wurde regional an die Ortsgruppen und Kreise der NSDAP angelehnt.
„Adolf-Hitler-Marsch“ durch Rothenburg ob der Tauber
Zu einem „Glaubens- und Bekenntnismarsch“, den die Organisatoren der Hitler-Jugend „Adolf-Hitler-Marsch“ nannten, machten sich Hunderte von Hitlerjungs aus Hessen-Nassau am 19. August 1936 in Frankfurt am Main auf den Weg, um am 9. September in Nürnberg am „großen Geschehen des Reichsparteitags“ (Fränkischer Anzeiger) teilzunehmen. Auf dem Weg zwischen der Mainmetropole und der „Stadt der Reichsparteitage“ lag Rothenburg, das die HJ-Marschierer mit 18 Bann-Fahnen, Trommlern und Tornistern am 30. August erreichten. Hier gönnten sie sich zwei Tage Rast, bevor sie zusammen über Geslau, Neuses, Ansbach und Fürth weitermarschierten. Andere HJ-Gruppen marschierten von anderen Richtungen auf Nürnberg zu.
Freies Gruppenleben wich der Militarisierung
Die Militarisierung zeigte sich äußerlich in strenger, „reichseinheitlicher“ Uniform- und Dienstordnung. Der Junge stieg vom Hordenführer im Jungvolk Stufe für Stufe auf, verführt von Litzen, Sternen und Führerschnüren. Die Leistungsabzeichen in Eisen, Bronze, Silber bis hin zum Goldenen Führersportabzeichen trug man wie Orden. Die Militarisierung der Ränge bewirkte die der Dienste. Die freie Fahrt in losen Gruppen wich der Disziplin des „Wehrertüchtigungslagers“. Aus jugendhaftem Kampfspiel in der Natur wurde Geländedienst unter simulierten Gefechtslagen mit Kartenkunde, Gepäckmärschen und Schießübungen. Was die jungen Pimpfe noch als Abenteuer gern mitmachten, ödete die Älteren an, die über 14 Jahre alt waren. Hier motivierten die Sonderformationen neu: Reiter-HJ, Marine-HJ, Motor-HJ, Flieger-HJ, Nachrichten-HJ. Sie waren unmittelbare Rekrutierungsreserven für die Spezialtruppen der Wehrmacht. Den vom Militarismus noch mehr abgestoßenen Mädchen bot man Kurse im „BDM-Werk Glaube und Schönheit“, wo sie musisch und sozial zu jungen Frauen und späteren Idealmüttern erzogen werden sollten und auch ein „Reichsfeierkleid des BDM“ tragen durften. Pausenloser Sportdienst sollte die Jugend gesund halten und abhärten. „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie Windhunde“, so hatte sich Hitler beim Reichsparteitag die Jungen gewünscht und „rank und schlank“ die Mädchen. Der ideologische Militarismus diente der Erziehung zum Krieg und der immerwährenden Bereitschaft zum Opfergang.
Zur Todesbereitschaft erzogen
Die Lieder, die Fahnen- und Feuersprüche priesen im „Reichsfeierjahr der Hitlerjugend“ die heroischen Vorbilder der deutschen Geschichte und stimmten das Unterbewusstsein derart auf jene Dienst- und Todesbereitschaft für „Führer, Volk und Vaterland“ ein, ohne die Hitler seinen „völkischen Krieg“ nicht hätte führen können. Der Militärarzt und Dichter Gottfried Benn notierte 1944:
„Die Armee im fünften Kriegsjahr wird von zwei Dienstgraden getragen: den Leutnants und den Feldmarschällen; alles andere ist Detail. Die Leutnants, hervorgegangen aus der HJ, also mit der Erziehung hinter sich, deren Wesen systematische Ausmerzung von gedanklichem und moralischem Lebensinhalt aus Buch und Handlung war und deren Ersatz durch Gotenfürsten, Stechdolche – und für die Marschübungen Heuschober zum Übernachten.“
Im Frieden derart vorbereitet, „übernahmen sie so ausgerüstet die Erdteilzerstörung als arischen Auftrag“. Nicht alle. Es verweigerten sich Arbeitermädchen und Studenten, katholische Landjugend und Jugend aus liberalen und aristokratischen Familien. Christoph Probst, Hans und Sophie Scholl, Willi Graf aus der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ oder die Essener „Edelweißpiraten“ leben als Symbolfiguren der Verweigerung weiter; andere starben grenzenlos einsam vor Exekutionskommandos. Einer von ihnen, ein Theologiestudent, schrieb in sein Tagebuch, bevor er hinter der Ostfront wegen Wehrkraftzersetzung erschossen wurde: „Wenn diese Verbrecher siegen, mag ich nicht mehr leben!“ Bei Jahresbeginn 1939 marschierten 8.100.000 Jugendlichen zwischen zehn und achtzehn in den Formationen von HJ und BDM. Bei Kriegsende waren dem ersten Jahrgang Zehnjähriger von 1933 die Zehnjährigen von 1945 nachgewachsen, der Jahrgang 1935, auch er noch im April 1945 in Berlin auf einen Führer verpflichtet, der seinen Selbstmord vorbereitete, während beim Bunker der Reichskanzlei die Fünfzehnjährigen der Berliner HJ kämpften. Von den Männern der Jahrgänge 1916 bis 1930, gezählt in den Reichsgrenzen von 1937, fielen als Soldaten 1.420.000. Von den Jahrgängen 1911 bis 1926 fielen 25 Prozent aller Männer, von den Jahrgängen 1916 bis 1921 sogar 29 Prozent. Einer vom Jahrgang 1921 war Wolfgang Borchert; ihn erfasst keine Statistik, da er erst am 20. November 1947 an den Kriegsfolgen starb. Er schrieb:
„Und dieses Deutschland müssen wir doch wieder bauen im Nichts, über Abgründen: aus unserer Not, mit unserer Liebe.“
Opfer und Instrument des Angriffskrieges
Keine Statistik registriert, wer an den Spätfolgen von Verwundung starb. Nicht mitgezählt wurden die jungen Mädchen und Frauen der HJ-Jahrgänge, die im Kriegseinsatz hinter der Front, in den Bombenangriffen, auf der Flucht und in Lagern starben. Die meisten Eltern, die um die damals Gefallenen weinten, sind tot. Und die Kinder der Gefallenen kannten ihre jungen Väter nicht. Aber selbst die Trauer bleibt gebrochen, weil diese Generation Tod und Verwüstung über Europa brachte. Sie waren als Kinder und Jugendliche Opfer des Systems, als junge Soldaten aber auch Instrument des Angriffskriegs.
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Die Hitlerjugend (HJ) in der NSDAP
Sie war von 1926 bis 1945 die Jugendorganisation der NSDAP. Sie unterstand seit Oktober 1931 einem „Reichsjugendführer“ (Baldur von Schirach, seit 1940 A. Axmann) und zählte 1932 über 100.000 Mitglieder. Die große Zahl der im Reichsausschuss deutscher Jugendverbände zusammengeschlossenen Organisationen (insgesamt 5 Millionen Mitglieder) musste nach 1933 dem Druck des nationalsozialistischen Staates zugunsten der HJ weichen. Durch das von der Reichsregierung am 1. Dezember 1936 beschlossene »Gesetz über die HJ« wurde diese zur Staatsjugend erhoben. Dem „Reichsjugendführer“ der NSDAP wurde als »Jugendführer des Deutschen Reiches« die Erziehung der gesamten deutschen Jugend im Sinne des Nationalsozialismus übertragen. Ende 1937 umfasste die HJ 7,7 Millionen Mitglieder.
Gliederungen: Dt. Jungvolk in der HJ (DJ, Jungen von zehn bis 14 Jahren), die eigentliche HJ (Jungen von 14 bis 19 Jahre), Deutsche Jungmädel in der HJ (DJM, Mädchen von zehn bis 14 Jahre), Bund Deutscher Mädel (BDM, Mädchen von 14 bis 18 Jahre). Nach vollendetem 18. oder 21. Lebensjahr und mindestens vierjähriger Zugehörigkeit zur HJ oder zum BDM konnten die Mitglieder in die Partei aufgenommen werden.