Von Wolf Stegemann
Er war vieles: US-Amerikaner, Jurist, Banker, Lobbyist, Verwaltungsfachmann, Politiker und Präsidentenberater. Für Rothenburg war er noch mehr: Retter aus der Not der alliierten Bombardierung und Beschießung der Stadt und somit aus ihrer totalen Vernichtung. Denn es stellte sich Jahre später heraus, dass er es war, der Rothenburg weitere Zerstörung ersparte. Die Rede ist von John Jay McCloy (1895-1989), damals stellvertretender Staatssekretär im US-Kriegsministerium und Liebhaber der Stadt Rothenburg. Er sagte selbst: „Im Bewusstsein der Schönheit und der geschichtlichen Bedeutung … bat ich den kommandierenden General, ob es nicht möglich sei, die Beschießung der Stadt zu vermeiden…“ Es war möglich. Dafür machte ihn der Rothenburger Stadtrat im Jahre 1948 zum Ehrenbürger der Stadt.
Deutschland kannte ihn kaum, aber er Deutschland
McCloy war in der Nachkriegszeit wesentlich am politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands beteiligt. Auf Grund seiner engen Verflechtungen mit Politik und Wirtschaft galt McCloy als „Chairman of the American Establishment“ und wurde vom renommierten „Harpers Magazin“ als „einflussreichste Privatperson Amerikas“ bezeichnet. McCloy gründete 1952 mit dem deutsch-amerikanischen Weltbankier Eric M. Warburg den American Council of Germany und die Atlantik-Brücke.
Nach seinem Studium begann seine Anwalt- und Bankerkarriere bei der ältesten Wirtschaftskanzlei der USA in New York, wechselte zur Wallstreet und beteiligte sich u. a. an Dollar-Kreditvergaben der Banken an Deutschland in dreistelliger Millionenhöhe. In Paris vertrat er mehrere Banken und heiratete 1930 die Deutsch-Amerikanerin Ellen Zinsser, eine Kusine von Konrad Adenauers Ehefrau, eine geborne Zinsser. In den 1930er-Jahren repräsentierte er als Firmenanwalt unter anderem die Rockefellers, den Weltbankier und Gründer der privatisierten US-amerikanischen Zentralbank FED Paul Warburg sowie die JP Morgan Bank. Anschließend lebte er ein Jahr lang in Italien und versorgte das Mussolini-Regime mit Krediten. Zwischen. Bis 1939 bearbeitete McCloy den so genannten Black-Tom-Fall, einen Sabotagefall aus dem Ersten Weltkrieg. McCloy erbrachte den Beweis, dass deutsche Geheimagenten für den Fall verantwortlich waren, woraufhin das Haager Schiedsgericht Deutschland zu einer Schadensersatzzahlung von 50 Millionen US-Dollar verurteilte, die bis 1979 abbezahlt wurden. 1940 wurde McCloy als Experte für Gegenspionage ins US-Kriegsministerium berufen.
Er lehnte die Bombardierung der Bahnlinien nach Auschwitz ab
Von 1941 bis 1945 war er im Staatsdienst u. a. mitverantwortlich für die Internierung von 120.000 US-Amerikanern japanischer Herkunft, als Folge des Angriffs auf Pearl Harbor, und für die Auschwitz-Kontroverse. 1944 sprach er sich gegen die Bombardierung der Bahnlinien aus, die zum KZ Auschwitz-Birkenau führten, zunächst mit dem Argument, dass eine Bombardierung seitens der Amerikaner technisch nicht durchführbar sei. Nachdem diese Aussage zweifelsfrei widerlegt worden war, da vielfach Flüge über dieses Gebiet hinwegführten und sogar Bombardierungen in unmittelbarer Nähe stattfanden, lehnte McCloy einen erneuten Antrag auf Bombardierung mit dem Hinweis ab, dass dabei schließlich auch Tote unter den KZ-Insassen zu beklagen sein würden. Die besondere Fragwürdigkeit der Nichtbombardierung Auschwitz’ zeigt sich insbesondere in den späteren Berichten überlebender Häftlinge, die angesichts der nahen Flieger hofften, die Krematorien, Vergasungskammern und Zufahrtswege würden doch noch bombardiert und so dem Morden Einhalt geboten.
Entschiedener Gegner des Morgentau-Plans
McCloy gehörte zu dem kleinen Kreis von Personen, die von der Absicht der US-Regierung erfuhr, Atombomben in Japan einzusetzen. McCloy sprach sich für eine Vorwarnung der japanischen Bevölkerung mit Atombomben aus, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. In seiner Funktion als Berater Roosevelts wandte er sich entschieden gegen den Morgenthau-Plan, der Deutschland auf einen Agrarstaat reduziert hätte.
1945 bis 1952 war er Anwalt, Weltbank-Präsident und Hochkommissar
Im Anschluss an die Zeit als Staatssekretär kehrte er in seinen zivilen Beruf zurück und gehörte bis zu seinem Tod 1989 einer Anwaltskanzlei an, die hauptsächlich im Ölgeschäft tätig war. Er war zwei Jahre lang Präsident der Weltbank und von 1949 bis 1952 amerikanischer Hochkommissar in Deutschland und damit Nachfolger des Militärgouverneurs General Lucius D. Clay. In dieser Position, die seine Talente als Diplomat und Manager forderte, residierte er zunächst noch in Bad Homburg, später in Bad Godesberg. McCloy förderte in dieser Funktion die Umsetzung des Marshallplans und die Integration der Bundesrepublik in den Westen.
McCloy hatte die Vision, dass das vom Krieg verwüstete Deutschland eines Tages seine Rolle als starke europäische Macht wieder einnehmen werde und dieses neue Deutschland unter einer ordentlichen politischen Führung in der westlichen demokratischen Werteordnung neu erblühen werde. McCloy traf bei seiner Ankunft in Deutschland auf moralische und physische Trümmerfelder, und so begann er schnell, seine Vision in die Tat umzusetzen. McCloy setzte sich früh bereits für Strafprozesse anstatt Standgerichte gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher ein und wurde so ein Wegbereiter der „Nürnberger Prozesse“. Als höchster Vertreter der Alliierten begnadigte er allerdings wieder 89 der verurteilten Kriegsverbrecher, was zu heftigen Kontroversen führte, von Seiten McCloys jedoch als „Geste der Versöhnung“ ausgelegt wurde.
McCloy befürwortete die Flucht der Nazi-Mörder nach Südamerika
Auf sein Betreiben hin erhielten Flick und Krupp von Bohlen und Halbach das gesamte 1945 konfiszierte Vermögen ihrer Firmen zurück. Dies war vor allem vor dem Hintergrund fraglich, dass es vornehmlich mit der Produktion von Rüstungsgütern und der Beschäftigung von Zwangsarbeitern und KZ-Insassen, die daraufhin vielfach ausgezehrt in den Tod geschickt wurden, erwirtschaftet wurde. In anderen Fällen versuchte McCloy eine juristische Verfolgung von Kriegverbrechern gänzlich zu verhindern. Das prominenteste Beispiel hierfür ist wohl der gegen Ende des Krieges untergetauchte Klaus Barbie, der 1947 auf Grund seiner als Chef der Gestapo in Lyon durchgeführten Deportationen und Massenfolterungen in Abwesenheit von französischen Gerichten zum Tode verurteilt wurde. Auslieferungsgesuche der Franzosen an die Bundesrepublik Deutschland wies er zurück. Barbie, der vom CIC für spezielle, gegen Frankreich gerichtete Spionageaktivitäten eingesetzt wurde, ermöglichte man, von McCloy befürwortet, ebenso die Flucht wie auch anderen SS-Mördern wie Josef Mengele und Adolf Eichmann. Der CIC richte die so genannte „Rattenlinie“ ein, über die mit Hilfe besonderer Pässe des Internationalen Roten Kreuzes und des Vatikans über 200 gesuchte NS-Täter über Südtirol nach Südamerika entkommen konnten.
McCloys Einsatz war insbesondere deshalb so effektiv, weil er das Vertrauen des US-Präsidenten genoss und ein ausgezeichnetes Verhältnis zum amerikanischen Heer und zu den Geheimdiensten hatte. Er benutzte seine fast diktatorische Macht als Hochkommissar, um in Deutschland Demokratie und die Wiederbelebung der Wirtschaft voranzubringen, auch wenn er sich dabei manchmal auf politisch gefährlichem Grund bewegte. Während seiner Amtszeit trug er dazu bei, den Grundstein für „normalere“ Beziehungen zu legen, die die souveräne deutsche Regierung später mit der neuen US-Botschaft in Bad Godesberg fortführen sollte. Sein Beruf und sein Dienst in zwei Weltkriegen haben seine Verbindung zu Deutschland nie abreißen lassen. Manche Bitterkeit und manches Glück seines Lebens sind mit diesem Land verbunden. Aber in keiner seiner Äußerungen findet sich eine Spur von Hass oder Freundschafts-Pathos. Zu seiner Ernennung zum Hochkommissar für Deutschland sagte er: „Ohne Zweifel, es wird eine heikle Sache werden.“ (Die Zeit, 30. Juni 1949).
1952 bis 1989 beriet er die amerikanische Regierung
1961 wurde er von John F. Kennedy als Sonderberater für Abrüstungsfragen berufen. McCloy war beteiligt am Zustandekommen des Atomwaffensperrvertrags. Zudem war er in der Warren-Kommission zur Aufklärung des Kennedy-Attentats und Mitglied des Koordinationskommitees während der Kuba-Krise. Als Berater von US-Präsident Jimmy Carter arrangierte er auf diplomatischem Wege, dass der gestürzte und schwer erkrankte Schah von Persien in Amerika operiert werden konnte, was zur Erstürmung der US-Botschaft und Geiselnahme in Teheran führte. – John Jay McCloy verstarb kurz vor seinem 94. Geburtstag am 11. März 1989 in Stamford, Connecticut.
Anna May McCloy, die damals 84-jährige Mutter des US-Hohen Kommissars, plauderte 1950 charmant, als sie deutsche Pressevertreter während ihres Erholungsaufenthaltes in Rothenburg ob der Tauber empfing. „Es ist eigenartig, dass ich immer vor einem Kriegsausbruch in Rothenburg bin“, sagte die alte Dame. 1914 und 1939 sei sie in Deutschland gewesen. Jedes Mal habe sie die „reizende Tauberstadt“ wegen eines Kriegsausbruchs vorzeitig verlassen müssen. 1950 konnte sie ungestört in Rothenburg verweilen. Sie war ohnehin nur für zwei Tage dort (Spiegel 31/1950).
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