Von Dr. Stefanie Fischer und Hartwig Behr
Ein spektakulärer Quellenfund aus dem hohenlohischen Wiesenbach, 15 Kilometer von Rothenburg entfernt, klärt ein weiteres Kapitel des Nationalsozialismus auf. Aufgefundene Karteikarten zeigen, wie die Landbevölkerung auf die Verdrängung der jüdischen Viehhändler reagierte. Sowohl Amtsträger wie der Ortsbauernführer (OBF) und Geschäftsleute denunzierten Volksgenossen als „Judenknechte“, wenn sie Umgang oder Handel mit Juden pflegten. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 setzte eine massive Hetze gegen die jüdische Bevölkerung ein.
Starke Anfeindungen gegen jüdische Viehhändler schon vor 1933
Bei den Nationalsozialisten galten Juden als Volksschädlinge, die es mittels wirtschaftlicher Boykotte und sozialer Ausgrenzung aus Deutschland zu verdrängen galt. In ländlichen Regionen richtete sich die antisemitische Boykottpolitik insbesondere gegen jüdische Viehhändler, die als An- und Verkäufer an einer sehr sensiblen Stelle agierten. Zwar waren jüdische Viehhändler in Mittelfranken und im Hohenlohischen bereits vor 1933 vehementen Anfeindungen und Boykottaktionen ausgesetzt gewesen, doch erreichten die antisemitischen Übergriffe mit dem Machtwechsel im Jahr 1933 eine neue Qualität. Was zuvor lokal erprobt worden war, wurde nun reichsweite Politik, mit der systematisch die wirtschaftliche Existenz der gesamten jüdischen Bevölkerung angegriffen wurde.
Dies wird vor allem im Bereich des Viehhandels deutlich, wo sich Bauern und jüdische Viehhändler seit Generationen begegneten. Der Viehhandel, der bis ins 20. Jahrhundert als Handschlaggeschäft geführt wurde, war wie kein anderes Geschäft „Vertrauenssache“. Die Nationalsozialisten versuchten einen Keil in die lang erprobten Vertrauensbeziehungen zwischen jüdischen Viehhändlern und Bauern zu treiben. Beispielsweise wurde bereits am 20. März 1933 im redaktionellen Teil des in Gerabronn erscheinende „Vaterlandsfreund“ Folgendes abdruckt:
„Von der Ortsgruppe Blaufelden der NSDAP wird uns mitgeteilt: Diejenigen Landwirte, die glauben, durch Geschäfte mit dem Liegenschaftsvermittler S. Pfeiffer, Braunsbach, zu Schaden gekommen zu sein oder sich benachteiligt fühlen, wollen sich bei der Ortsgruppe Blaufelden melden.“
Es folgt sofort im Anschluss an diesen Aufruf die Meldung: „Pfeiffer und seine 2 Söhne wurden übrigens am Samstag früh von SA-Leuten in Schutzhaft genommen“. Pfeiffer handelte auch mit Vieh und Pferden. In Bad Mergentheim provozierte der NSDAP-Kreisleiter Reinhold Seiz in ähnlicher Weise die Bevölkerung, den (nichtjüdischen) Bankdirektor Weidner zu denunzieren, der prompt in „Schutzhaft“ kam. Am 27. März heißt es in einer hetzerischen Anzeige, über der ein großes Hakenkreuz abgedruckt war:
„Über die einwandfreie Geschäftstätigkeit des Herrn Bankdirektor Weidner, hier sind seit langer Zeit starke Bedenken hervorgetreten. Alle Personen, die glauben, auf irgendwelche Art durch diese Tätigkeit des Herrn Weidner zu Schaden gekommen zu sein, werden hiermit aufgefordert, sich bei dem Unterzeichneten zu melden unter Vorlage etwa vorhandener Unterlagen. Im Auftrage der Regierung der nationalen Revolution: Seiz, Kreisleiter.“
In Rothenburg Viehmarkt auf den Judenkirchhof verlegt
Der Ausschluss von Juden aus dem Wirtschaftsleben verlief zeitlich und örtlich unterschiedlich. Bis am 6. Juli 1938 durch das Reichsgesetz Juden der Hausierhandel sowie die Ausübung ihres Gewerbes außerhalb des Ortes ihrer Niederlassung und damit der Viehhandel offiziell untersagt wurde, entfalteten antisemitische Aktionen von lokalen Entscheidungsträgern, wie die des NSDAP-Kreisleiters, eine derartige Wirkung, dass Juden die Ausübung des Handels nur noch sehr eingeschränkt möglich war. Beispielsweise beschloss die Stadt Rothenburg im Jahr 1934, den Viehmarkt auf den Judenfriedhof („Judenkirchhof“) zu verlegen. Auf dem Creglinger Pferdemarkt wurden die jüdischen Pferdehändler von 1934 an zunehmend eingeschränkt. Beispielsweise wurde von diesem Zeitpunkt an die Anzeige der Prämierungen der Pferde von jüdischen Händlern in der Tauber-Zeitung untersagt. Im Jahr 1936 bekamen jüdische Händler für ihre Pferde keine Geldpreise mehr, sondern nur noch eine Auftriebsprämie. Diese erhielten im darauffolgenden Jahr nur noch nichtjüdische Händler. Mit solchen Aktionen sollten Juden aus dem Viehhandel verdrängt werden.
Vertrauensverhältnis zwischen Bauern und jüdischen Viehhändlern
Bei der Durchsetzung ihrer rassistischen Ziele standen den NS-Machthabern zunächst die Interessen vieler Bauern entgegen. Aus sämtlichen Teilen des Reichs sind Quellen überliefert, aus denen hervorgeht, dass zahlreiche Landwirte trotz der massiven antisemitischen Hetze an ihren vertrauten Handelspartnern festhielten. Obwohl die Nationalsozialisten die jüdischen Viehhändler als gnadenlose Bauernschlächter darstellten und Bauern Gefahr liefen, in der antisemitischen Wochenzeitschrift Der Stürmer denunziert zu werden oder gar in Schutzhaft genommen zu werden, brachen viele Bauern die Beziehungen zu ihren vertrauten jüdischen Handelspartnern nicht einfach ab.
Kartei im Haus der Familie Keitel aufgefunden
Einen Eindruck über das Ausmaß der von den Nationalsozialisten verpönten Geschäfte zwischen jüdischen Viehhändlern und nichtjüdischen Bauern gibt die Rubrik „Kleine Nachrichten“ im Stürmer. Dort wurden wöchentlich die Namen von Bauern mit ihrem Wohnort abgedruckt, die noch mit Juden handelten. Gerade in Mittelfranken waren fast in einem jeden Ort so genannte Stürmerkästen aufgestellt, in denen die Ortseinwohner den Stürmer kostenlos lesen konnten. Besonders deutlich zeigt eine weitere Quelle das Ausmaß des Denunziantentums unter der ländlichen Bevölkerung sowie des Drucks vonseiten öffentlicher Instanzen auf das Beziehungsgeflecht von Bauern und Viehhändlern: Eine Kartei aus Rothenburg wurde im 15 Kilometer entfernten Wiesenbach (bis 1938 gehörte der Ort zum Oberamt Gerabronn) gefunden, und zwar in einem Wirtschaftsgebäude der Familie Keitel. Amerikanische Truppen hatten – einer mündlichen Überlieferung zufolge – die Karteikarten bei ihrem Abzug aus Wiesenbach im Haus der Familie Keitel liegen gelassen. Unklar ist außerdem, wer diese Kartei angelegt hat und wie groß ihr Umfang war; insgesamt sind 56 Karteikarten überliefert.
Auf manchen Karten ist notiert, dass Landwirte sich weigerten, im Jahr 1936 Flachs anzubauen oder für das NS-Winterhilfswerk zu spenden, auf anderen, dass Metzger oder Gastwirte eine Ordnungsstrafe vom V.W.V. (Abkürzung steht vermutlich für „Viehwirtschaftsverband“) erhielten. Die Tatsache jedoch, dass 25 von insgesamt 56 Fällen von Bauern handeln, die in den Jahren 1936 und 1937 trotz der vehementen Boykottpolitik Rinder oder Pferde von jüdischen Händlern gekauft oder an diese verkauft hatten, deutet die Brisanz für die NS-Machthaber an. Neben den Namen und den Wohnorten der Bauern – einer wird als „alter Bauernbündler“ und als „Judenknecht“ bezeichnet – sind die Namen der jüdischen Geschäftspartner verzeichnet, die aus Rothenburg und dessen Umgebung wie aus Windsheim, Colmberg und Ermetzhofen stammten.
Viehhändler Assel aus Rothenburg denunzierte
Der Urheber der Kartei bzw. die Institution ist nicht bekannt, jedoch sind in ungefähr der Hälfte der Fälle die Namen der Denunzianten oder aber der Informanten verzeichnet, unter ihnen NSDAP-Ortsbauernführer, die NSDAP-Kreisleitung und die Gendarmerie, was eine öffentliche Instanz – zum Beispiel das Bezirksamt Rothenburg – als Verwalter der Kartei nahelegt. Zu den Denunzianten zählen neben den öffentlichen Stellen auch zwei Privatpersonen.
Einer davon ist offenbar der Nachbar eines angeprangerten Bauern, ein anderer ist der „arische“ Viehhändler Leonhard Assel aus Rothenburg ob der Tauber, der Wilhelm Gerlinger aus der Hirtengasse in Rothenburg beschuldigt, noch im September 1937 ein Pferd an den jüdischen Konkurrenten Wurzinger verkauft zu haben. Nur ein Jahr später übernahm Leonhard Assel den Viehhandelsbetrieb der jüdischen Familie aus Rothenburg weit unter seinem tatsächlichen Wert. Leonhard Assel hatte sich demnach auf sehr unterschiedliche Weise an dem Denunziationssystem der Nationalsozialisten und der rechtlichen Ausgrenzung seiner jüdischen Kollegen beteiligt – und sich daran bereichert. Ähnliches lässt sich auch aus den Akten ablesen, die im Jahr 2011 im Finanzamt Bad Mergentheim auf Nachfrage von Hartwig Behr gefunden wurden. Die Tatsache, dass zahlreiche Bauern die Handelsbeziehungen zu den jüdischen Viehhändlern nicht einfach abbrachen, sagt allein jedoch noch nichts über die Beteiligung der ländlichen Bevölkerung an der Vertreibung der jüdischen Nachbarn aus.
Bericht des Gedarmerie-Kommissärs aus Geslau
Wie eng Mittäterschaft, Denunziantentum und ökonomisches Vertrauen miteinander verschränkt sein konnten, hebt der Bericht des Gendarmerie-Kommissär Sägebarth aus dem kleinen Ort Geslau in der Nähe von Rothenburg eindrücklich hervor. Darin erklärt dieser, dass Bauern Geschäfte mit dem jüdischen Viehhändler Benno Gutmann mieden, um sich selbst vor öffentlicher Anprangerung im Stürmer zu schützen – nicht aber, weil sie Gutmann als Person misstrauten. Doch beteiligten sich gleichzeitig viele Bauern an den antijüdischen Aktionen, wie der Gendarmerie-Kommissär weiter feststellte.
In seinem Bericht notierte er, dass Gutmann auf seinen Geschäftstouren in den Bauerndörfern viel Spott zu ertragen habe, „was er sich alles ohne Widerrede gefallen lässt“. Gutmann ginge „stillschweigend“, wenn Bauern ihm erklärten, sie dürften nicht mehr mit Juden handeln, weil sie sonst fürchten müssten, dass ihr Name im Stürmer veröffentlicht würde: dann „läßt er diese Bauern längere Zeit aus, kommt dann aber doch wieder einmal“. Da jedoch allem Anschein nach neben Gutmann kein nichtjüdischer Viehhändler in dem abgelegenen Bauerndorf seine Dienste anbot, verkauften die Bauern, wenn die Gefahr einer Denunziation wieder abnahm, erneut an Gutmann. Und so machte er doch wieder das eine oder andere Geschäft.
Öffentliche Bloßstellung von Bauern als „Judenknechte“
Die Bauern unterließen also den Handel mit „ihrem“ jüdischen Händler, wenn sie selbst etwas zu befürchten hatten, nämlich im Stürmer als Judenknecht gebrandmarkt zu werden; und doch suchten sie den Kontakt zu Gutmann, um ihr Vieh loszuwerden. Diese Bauern handelten somit einerseits aus Selbstschutz und andererseits aus wirtschaftlichem Eigeninteresse. Sie beteiligten sich dadurch an Demütigungen und Kränkungen des jüdischen Viehhändlers.
Die Denunziationen erzeugten darüber hinaus eine Atmosphäre des Misstrauens unter der ländlichen Bevölkerung, die von ihr selbst erzeugt wurde. Denn die Brandmarkung als Judenknecht im Stürmer ging auf die Denunziation eines anderen Bauern zurück. Dies zeigt, dass sich viele bereitwillig an diesem System beteiligten. Auch wenn sie sich nicht finanziell daran bereicherten, so taten sie es durch die öffentliche Bloßstellung eines anderen Landwirts beziehungsweise die des jüdischen Viehhändlers. Letztendlich wird dadurch deutlich, dass die durch Parteiaktivismus forcierte antisemitische Boykottpolitik erst in Kooperation mit der nichtjüdischen Bevölkerung ihre durchschlagende Wirkung entfaltete.
Trotz Ausstoß aus der Volksgemeinschaft blieb die Vertrauensgemeinschaft
Betrachtet man allerdings die Reaktionen der Bauern auf die rassistische Boykottpolitik, so scheinen auch die Grenzen der NS-Ideologie auf. Ein aus Antisemitismus resultierendes Misstrauen gegenüber Juden als „Rasse“ musste nicht mit dem Entzug von Vertrauen in altbekannte jüdische Handelspartner einhergehen, wie es die in Wiesenbach gefundene Kartei belegt. Es konnte vielmehr beides nebeneinander bestehen. Die Ausgrenzung von Juden aus der von den Nationalsozialisten propagierten Volksgemeinschaft vollzog sich nicht gleichzeitig mit dem Ausschluss aus der Vertrauensgemeinschaft.
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