Von Wolf Stegemann
Wer bei Google nach einer Adolf-Hitler-Straße sucht, wird keine mehr finden, wer eine Julius-Streicher Straße sucht, sucht ebenfalls vergebens. Beiden und vielen anderen Nationalsozialisten, nach denen bis 1945 zigtausend Straßen und Plätze benannt waren, wurden diese Ehre auf Anordnung der alliierten Militärregierung entzogen. Wer aber deutschlandweit nach einer Ludwig-Siebert-Straße sucht, dessen Namensgeber von 1933 bis 1942 amtierender bayerischer Ministerpräsident, ein hochrangiger Nazi und SA-Führer war, wird fündig. Aber nur in einer einzigen Stadt: in Rothenburg ob der Tauber. Warum? Weil der Rothenburger Stadtrat eine Straße 1955 nach dem 1942 verstorbenen Nationalsozialisten benannt hat. Somit ist ihm, der als Ministerpräsident die Verfolgung der Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und anderer sowie die Arisierung und Deportation der Juden und schließlich ihre Ermordung mitgetragen hat, ein ehrendes Andenken gesetzt – bis heute. Die Straße hieß schon einmal so. 1945 musste sie auf Weisung der amerikanischen Besatzer umbenannt werden. Da hieß sie dann bis 1955 Obere Bahnhofstraße. Als die Straße Anfang der 1920er-Jahre nach Ludwig Siebert genannt wurde, weil Siebert von 1908 bis 1919 Bürgermeister in Rothenburg war, wussten die Rothenburger natürlich nicht, dass Siebert einmal eine solche prominente Nazi-Figur sein würde. Allerdings wurde für die Wiederbenennung im Jahr 1955 mit den zweifelhaften Verdiensten Sieberts als NS-Ministerpräsident argumentiert. Dieser Vorgang von 1955 und das starre Festhalten an dieser Nazi-Ehrung dürften in Deutschland einmalig sein.
Offene Widersprüche in der Begründung
Die Benennung der Straße wurde damals und wird von Teilen des Stadtrats auch heute noch mit einer erstaunlichen Begründung versehen, wie sie schon aus dem damaligen Ratsprotokoll hervorgeht:
„Ebenfalls einstimmig hat der Stadtrat die Obere Bahnhofstraße in Ludwig-Siebert-Straße umbenannt auf Antrag der Freien Wählervereinigung (FWV). Stadtrat Franz Weber (FWV) hob die Verdienste Sieberts hervor, dass Ludwig Siebert-Hilfswerk (Hilfswerk Alt-Rothenburg) und dass Rothenburg einen ständigen Posten im Haushaltsplan des Landes Bayern hätte. Nach ihm wurde 1941 die Oberschule in die Ludwig-Siebert-Oberschule benannt. Stadtrat Weber meinte auch, dass Sieberts späterer Werdegang [zum hochrangigen Nationalsozialisten] nicht ausschlaggebend sei.“
Ein offener Widerspruch, denn die „Wohltaten“ für die Stadt hat der Ministerpräsident als Teil des NS-Regimes begangen. Bedenken meldete allein Stadtrat Michl Emmerling (SPD) an. Die Stadtratsfraktion der SPD zog sich zur Beratung zurück, anschließend erklärte sich auch Emmerlings Fraktion „einstimmig mit der Umbenennung dieser Straße in Anerkennung der Verdienste Ludwig Sieberts einverstanden. Der Beschluss wurde am 29. Juli 1955 in nichtöffentlicher Sitzung gefällt (StaRbg, Abt. NS 024.5 Stadtrat 1955-1956. Beschluss Nr. 4237 vom 29. Juli 1955). Das kommentierte anderntags der „Fränkische Anzeiger“ mit dem erstaunlichen Satz:
„Mit der Wiederbenennung der Oberen Bahnhofstraße mit dem Namen Ludwig Siebert erfüllt die Stadt Rothenburg eine selbstverständliche Ehrenpflicht, denn der Name Ludwig Siebert wird, über alle politischen Entscheidungen hinweg, in Rothenburg unvergessen bleiben.“
Ebenso erstaunlich ist das Umschwenken von Michel Emmerling (SPD), der und dessen Partei von den Nationalsozialisten verfolgt waren; in Bayern auch unter Verantwortung des Ministerpräsidenten. Mittlerweile regt sich in der Bürgerschaft Widerstand gegen die „ehrenpflichtige“ Benennung der Straße. Bislang ohne Erfolg. Die Straße heißt immer noch so. Die Diskussion über die mögliche Umbenennung einer weitere Straße in Rothenburg dürfte ebenfalls anstehen: die Martin-Weigel-Straße. Er war evangelischer Pfarrer und aktiver Nationalsozialist.
Öffentliche Auseinandersetzung entbrannt
Anderswo reagieren Stadträte sensibler als in Rothenburg. In Schnaittach wurde 2010 eine Straße umbenannt, die nach dem Rothenburger Studienrat, Archivar, Nationalsozialisten und ausgemachten Antisemiten Martin Schütz benannt war. Die Gemeinde wusste angeblich nichts von Schütz’ nationalsozialistischer Vergangenheit. In der Diskussion um Straßenumbenennungen geht es woanders heute längst nicht mehr um politisch agierende Nationalsozialisten als Namensgeber wie in Rothenburg, sondern um Militärs und Adelige aus Kaisers Zeiten, die keine Demokraten waren – wie Generäle und Feldmarschälle im Krieg gegen Frankreich 1870/71. Da, wo eine Nähe von Schriftstellern, Philosophen und Wissenschaftler zum Nationalsozialismus festgestellt werden konnte, wie beispielsweise bei Maria Kahle, Rolf Castelle, Agnes Miegel, Karl Wagenfeld u. a., wurden entweder die Straßen umbenannt oder darüber entbrannte eine öffentliche Auseinandersetzung, die zum Teil noch anhält. Auch über den in Rothenburg noch existierenden Langemarckplatz. Eigentlich mehr ein „Plätzchen“ am Bezoldweg.
Straßenumbenennungen – ein aktuelles Schlagzeilen-Thema
Die Schlagzeilen darüber in den Print- und Funk-Medien quer durch Deutschland lesen sich wie ein zusammenhängendes Aktionsprogramm. Hier eine kleine Auswahl: „Adolf überall – Ende und Neubeginn der NS-Zeit“ (Wolfratshausen, 2012); „NS-belastete Straßen verschwinden“ (Hamm 2012); „Keine Nazi-Straßen“ (Wendland 2010); „Straßennamen auf dem Prüfstand“ (Bremen 2013); „Neue Straßennamen braucht die Stadt“ (Oldenburg 2012); „Historischer Exorzismus“ („Der Spiegel“ 6/2014); „Verbrechen der NS-Zeit, Unbehagen über Straßennahmen“ (Fürstenfeldbruck 2013); Streit um Straßennamen (Nürnberg, Südd. Ztg. 2013); „Straßennamen auf der Kippe“ (Münster 2011); „Umbenennung von Straßennamen scheitert (Handorf 2012); „Umdenken erst durch öffentlichen Druck“ (Wien 2013); „Fragwürdige Ehrungen“ (LWL-Literaturkommission Münster 2011); „Schatten auf den Mythos Heidelberg“ (Heidelberg 2010). Dazu kommen die wenigen bisherigen Rothenburger Schlagzeilen im „Fränkischen Anzeiger“ um die Ludwig-Siebert-Straße: „Vollkommen irreal“ (2004); „Volksverhetzer“ (2004); „Späte Eingebung“ (2009); „Siebert, Langemarck und Luther – Vizepräsident des Zentralrats der Juden ist dafür, nicht alle NS-Erinnerungen zu tilgen“ (2013).
Geschichte der Straßennamen
Straßennamen in Deutschland bestimmten Benennungsgrundsätze und sind in der Regel auf Dauer angelegt. Namenswechsel sind eher selten. Die Benennungen sollen eindeutig sein. So gibt es beispielsweise keine zwei „Dorfstraßen“ in einer Gemeinde. Umbenennungen fanden aber nicht nur bei grundlegendem Politik- oder Regimewechsel statt, wie 1945 und bei der Wiedervereinigung, sondern auch bei anderen Anlässen wie Eingemeindungen, um Doppelungen zu vermeiden. Ein Grundsatz, der überall gilt: Bedeutende Persönlichkeiten bekommen eine bedeutende Straße (1933: Hauptmarkt Nürnberg in Adolf-Hitler-Platz). Auch wird bei der Benennung Rücksicht auf die Anwohner genommen. So ist eine „Straße der Arbeitslosigkeit“ nicht möglich und eine Benennung nach einem Nationalsozialisten nach 1945 eine Zumutung für die Anwohner. Straßennamen sind außerdem dem Grundsatz der nationalen Identität verpflichtet und spiegeln damit die Herrschaftsstrukturen und Ideologien der Namen wider.
1870 bis 1932: In den Jahrzehnten ab 1870 bis heute lassen sich regelrechte Konjunkturen für Straßen-Benennungen feststellen. Zwischen 1870 und 1932 kamen deutsche Kaiser sowie Staatsmänner (Bismarck) auf die Straßenschilder. Gerne bedacht wurden hochrangige Militärangehörige (Goeben-, Hornstraße) oder Adelsgeschlechter (Hohenzollernring, Staufenstraße). Um den Ersten Weltkrieg kamen wieder Generäle und auch Kriegshelden auf die Straßenschilder wie Paul von Hindenburg.
1933 bis 1945: Wie eingangs erwähnt, gelangten mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten Adolf Hitler und seine NS-Parteigrößen und Führer ins Straßenbild. Bei den Nationalsozialisten waren die Generäle des Ersten Weltkriegs ebenfalls gern verwendete Namensgeber. Förmlich beendet wurden die Straßenumbenennungen durch den Runderlass des Reichsinnenministeriums vom 30. August 1939, der für den bevorstehenden Krieg die „Verwaltung im gemeindlichen Bereich“ vereinfachen sollte. Ein weiterer Erlass vom 19. Oktober 1940 verfügte, dass Straßenbenennungen nach verdienten Offizieren bis nach Kriegsende zurückgestellt werden sollten.
Nach 1945: Nach dem Zweiten Weltkrieg galt es, die Straßennamen zu entnazifizieren. Adolf Hitler, Horst Wessel, Hermann Göring oder Ludwig Siebert wurden aus den Stadtplänen entfernt. Die Forderung der Alliierten, alle militaristischen Namen – auch Hindenburg – von den Schildern zu verbannen, fand jedoch keine allgemeine Umsetzung. In den ersten Nachkriegsjahren scheute man zunächst politische Namen und griff beispielsweise auf scheinbar unpolitische Dichternamen für die Benennungen zurück. Eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit fand zunächst nicht statt.
Umgang mit strittigen Straßennamen
Hitzige Diskussionen in den Stadt- oder Gemeinderäten und Streit zwischen Umbenennungswilligen und Nichtwilligen sowie Anwohnern entzünden sich in letzter Zeit heftig an der Frage, ob Straßen und Plätze nach umstrittenen Reichspräsidenten oder in der NS-Zeit aktiven Schriftstellern, Kulturfunktionären, Wissenschaftlern und Gelehrten weiter benannt sein sollten. Daran scheiden sich die Geister.
Anmerkung: In Deutschland gibt es insgesamt 1.182.517 Straßen und Plätze. Das ergibt eine Abfrage in der Datenbank der Deutschen Post Direkt. Die Datenbank verzeichnet alle Postleitdaten, also alle Straßen, in denen sich ein Hausbriefkasten befindet. Daraus lässt sich folgende Hitliste der beliebtesten Straßennamen aufstellen:
- 7.630 mal Hauptstraße, 6.988 mal Dorfstraße (in Putbus sogar 25 gültige Dorfstraßen), 4.979 mal Bahnhofstraße, 2.893 mal Kirchstraße, 2.248 mal Schillerstraße, 2.172 mal Goethestraße, 1.624 mal Friedhofstraße, 1.264 mal Beethovenstraße. Die Reihenfolge ändert sich kaum, wenn man zusätzlich die Gassen, Alleen, Wege und Plätze einbezieht. Insgesamt existieren 396.345 unterschiedliche Straßennamen (Stand 2001).
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Quellen: Spiegel-Gespräch „Historischer Exorzismus“ mit dem Geschichtswissenschaftler Martin Sabrow, Spiegel 6/2014. – Pressestelle Deutsche Post, Bonn, 18. Juli 2001. – Michael Hoch: „Südanzeiger Essen“ vom 6. Februar 2013 – WAZ-Rubrik Kommentar (KOMPAKT: Analyse und Meinung) „Seltsame Wege. Straßennamen heute“ vom 9. Juni 2012. – Auskünfte Stadtarchiv Rothenburg ob der Tauber. Literatur: Rainer Pöppinghege: „Wege des Erinnerns. Was Straßennamen über das deutsche Geschichtsbewusstsein aussagen“, Münster 2007. – Marion Werner: „Vom Adolf-Hitler-Platz zum Ebertplatz. Eine Kulturgeschichte der Kölner Straßennamen seit 1933“, Köln/Weimar/Wien 2008.