Vorwort. In den zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur war auch die gegenwärtige deutsche Literatur ganz und gar vom Staat gelenkt und waren die Sichtweisen auf die deutsche Dichtung vergangener Jahrhunderte ebenso vom Nationalsozialismus verbogen wurden. Namhafte Professoren, Literaturwissenschaftler, Deutschlehrer und Schriftsteller stellten die Dichter des Sturm und Drang sowie des Klassizismus – Goethe. Schiller, Storm, Kleist, Lessing – als wahre Nationalsozialisten und Nordmannsgeister hin, die Germanentum und Wikingertum schon immer in sich hatten. Literatur und Publizistik wurden systematisch in den Dienst der Unterdrückung gestellt. Das Verhalten vieler Schriftsteller, die trotz oder gerade wegen der öffentlichen Bücherverbrennung 1933 in Deutschland blieben und veröffentlichten, ist dies das düsterste Kapitel deutscher Literaturgeschichte. Und dem nicht genug. Namhafte Professoren, Studienräte sowie Literatur- und Theaterwissenschaftler versuchten in Gutachten und Veröffentlichungen die Dichter für den Nationalsozialismus, für das Nordmännerdenken und „Wikingertum“ zu verbiegen. Schiller war schon immer Nationalsozialist und Lessings Tellheim ein nordischer Typ. Und der Schriftsteller Will Vesper schrieb: „Wenn ein deutsches Mädchen ein Verhältnis mit einem Juden hat, so werden beide wegen Rassenschande mit Recht verurteilt. Wenn ein deutscher Schriftsteller und eine deutscher Buchhändler ein Verhältnis mit einem jüdischen Verleger eingeht – ist das nicht eine weit schlimmere und gefährlichere Rassenschande? Es genügt aber nun keineswegs, dass man eine einzelne Ratte erwischt und hinauswirft!“ Wie ein Spuk muten heute jene Jahre an, in denen es hieß: „Schiller als Nationalsozialist! Mit Stolz dürfen wir ihn als solchen grüßen!“ Oder: „Mit Recht feiert man Heinrich von Kleist als den Klassiker des Nationalsozialismus.“
Heinrich von Kleist (1777-1811)
Im Heft 14 der „Deutschen Kultur-Wacht“ stand 1933 die Notiz: Der Erotomane Ferdinand Bruckner [1891-1950, in die USA emigriert], – alias Theodor Tagger – vollendet zurzeit ein Drama von Heinrich von Kleists Novelle „Die Marquise von O.“ Wer die bisherigen Bühnenstücke Taggers kennt, weiß, dass sie alle nach der beliebten Melodie komponiert sind: „Das Lieben bringt viel Freud, das wissen unsre Leut“. Gegen die Schändung Heinrich von Kleists durch diesen Konjunkturerotomanen erheben wir jedenfalls rechtzeitig unmissverständlichen Einspruch. Wir werden die Aufführung eines Stückes, das eine der keuschesten Dichtungen unserer Literatur durch bloßes Berühren mit bewährt unsauberen Fingern besudelt, nicht dulden!
Kleist-Gesellschaft nun mit neuer Zielsetzung nationalsozialistisch
Prof. Dr. Horner schrieb in der „Deutsche Bühnenkorrespondenz“ vom 6. November 1935, Ausgabe den Artikel: „Die Kleist-Gesellschaft in der NS-Kulturgemeinde“:
Der Vorsitzende der [1920 gegr.] Kleist-Gesellschaft, Prof. Dr. Minde-Pouet [1871-1950], brachte auf der diesjährigen Tagung in Kiel die völlige Eingliederung der Kleist-Gesellschaft in die NS-Kulturgemeinde formell zur Kenntnis. Die Aufgabe der Kleistgesellschaft, sich gegen Liberalismus und Marxismus für deutsche Art und deutsche Kunst einzusetzen, decke sich derart mit dem Bildungsziel der NS-Kulturgemeinde, dass eine gemeinschaftliche Arbeit selbstverständlich sei. Der neuen Zielsetzung der Kleistgesellschaft galt eine öffentliche Kundgebung für Volk und Jugend, in der die tiefe Verbundenheit Heinrich von Kleists mit deutschem Wesen und deutscher Kultur den breiten Schichten des Volkes in Vorträgen und Aufführungen zum Bewusstsein gebracht wurde und die beweisen sollte, dass zu Kleist stehen deutsch sein heiße. Die Amtsleiter der NS-Kulturgemeinde, Dr. Walter Stang, führte sodann in einem Vortrag „Kleists Weltanschauung“ in das Seelenleben des Dichters hinein, der in faustischem Drange die letzten Geheimnisse des Menschenschicksals zu erforschen versuchte und sich scharf gegen die landläufigen Ideen des Liberalismus erhob. Aber erst das Schicksal des am Boden liegenden Vaterlandes weckte die vollen Kräfte seines Dichtertums und machte ihn in seinen nationalen Dramen zum Vorbild und Wegweiser in echter Vaterlandsliebe und artdeutscher Gesinnung.
Ein Dichter mit erdnaher und bluthafter Leidenschaft
Auf Wunsch des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, verfasste Prof. Dr. Gerhard Fricke (1901-1980) ein Gutachten über das Günther Haupts „Der Empörer“, Fricke war Direktor des Instituts für Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Kiel:
Günther Haupt erzählt und deutet in schlichter, eindringlich-lebendiger und innerlich ergriffener Sprache die Geschichte des Menschen und Dichters Heinrich von Kleist. Sein Leben und Werk war in besonderem Maß der Tummelplatz der zersetzenden, reizlüsternen, zumeist jüdischen Psychologie und Psychoanalyse. Die Versuche wiederum, Kleist vor solchen Missdeutungen ins Pathologische zu „retten“, verharmlosten sein Bild z. T. All zu sehr ins Bürgerlich-Gesunde und -Normale. Gunther Haupt stellt die adlige und tragische Größe dieses heldischen Dichterlebens und -werks wieder her, in dem sich die kompromisslose Unbedingtheit nordischer Art, die nach dem Größten und Gefährlichsten greift, um an ihm sich zu bewähren, mit der erdnahen und bluthaften Leidenschaft und mystischen Inbrunst des ostdeutschen Menschen vereint. Dabei lässt die Darstellung das letzte menschliche und schöpferische Geheimnis dieser rätselvollen, flammenden Seele überall ehrfürchtig unangetastet.
Günther Haupt gibt die erste und umfassende Lebensbeschreibung Kleists, die wirklich aus der Tiefe nationalsozialistischer Überzeugung erwächst und daher auf jede oberflächliche und gewaltsame Angleichung verzichten kann. Aus gründlicher Bearbeitung der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur und aus sicherer Beherrschung der geschichtlichen Quellen und Überlieferungen erwächst von innen her ein geschlossenes und im wesentlichen überzeugendes Bild Kleists, das ihn aus sich, aus seiner Zeit und seinen Voraussetzungen erstehen lässt und darin die innerste Nähe zur Gegenwart und seine zeitüberlegene deutsche Art und Größe erkennbar werden lässt. Dass auf diesem Wege seit mehr als zehn Jahren auch Deutsch empfindende Literaturforschung vorangegangen ist, hätte wohl noch deutlicher ausgesprochen werden können.
Zusammenfassend: Haupt gibt eine Biographie des größten deutschen Tragikers, in der sich sachliche Zuverlässigkeit und Gegründetheit in nationalsozialistischer Haltung und lebendige kraftvolle Darstellung vereinen. Seine Hauptleistung liegt nicht so sehr auf dem Gebiet neuer Erforschung als auf dem neuer Deutung. Diese Deutung kommt dem geschichtlichen Kleist näher als die meisten bisherigen Arbeiten über den Dichter. Sie bringt ihn zugleich unserem Volke und der deutschen Gegenwart zurück.
Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781)
Georg Stark schreibt 1935 in der Zeitschrift „Deutsches Bildungswesen“ über Lessings Lustspiel Minna von Barnhelm: die Helden sind Major von Tellheim und Minna. Bemerkenswert im Zusammenhang mit den folgenden Ausführungen ist die Auslegung des Lustspiels aus der Feder eines Zeitgenossen Lessings: „Die Anmut und Liebenswürdigkeit der Sächsinnen überwindet die Würde, den Starrsinn der Preußen“ – in J. W. von Goethe: Dichtung und Wahrheit, Siebentes Buch:
Wir wussten schon immer: der Major Tellheim ist ein ganz anders gearteter Mensch als Minna von Barnhelm. Den eigentlichen Grund für diese Wesensverschiedenheit der beiden Hauptgestalten der Dichtung glaubten wir früher kurzweg in dem scharf ausgeprägten Stammesgegensatz zwischen Preußen und Sachsen suchen zu müssen. Heute vermögen wir in diesem Punkte tiefer zu blicken: im Lichte nationalsozialistischer Kunstauffassung erscheint das Drama „Minna von Barnhelm“ als eine künstlerische Gestaltung klar ausgeprägter rassischer Gegensätze, ja, als ein Musterbeispiel dafür, dass für das Wesen und Handeln des Menschen das rassische Erbgut entscheidend ist. Gewiss hat Lessing den rassischen Gegensatz nicht bewusst als solchen gestaltet. Aber er hat instinktiv aus seinem persönlichen, lebendigen Erleben heraus das Bluterbe seiner Personen zu deren Charakterzeichnung benutzt. Im Banne eben dieses starken Erlebens der preußisch-nordischen Wesensart vermochte Lessing die Person des Tellheim in solch meisterhafter Weise nordisch zu zeichnen, dass man das Charakterbild Tellheims als Einzelbild ohne Bedenken irgendeiner allgemein gehaltenen Schilderung des nordischen Rassetyps gleichsetzen könnte.
Gedankentiefe nationalsozialistischer Weltanschauung
Dr. Hellmuth Fechner (1905-1981) schrieb 1935 in „Nationalsozialistische Erziehung“:
Mit Recht feiert man Heinrich von Kleist als den Klassiker des Nationalsozialismus. Noch aber fehlt einer, der die Blütezeit unserer Literatur und des deutschen Geisteslebens eingeleitet hat: Gotthold Ephraim Lessing. Wir sollten uns auch auf ihn besinnen.
Auf Lessing? Den Dichter des „Nathan“, den Philosemiten? Auf Lessing, den typischen Vertreter der Ich-Zeit, den Vorkämpfer der Aufklärung, die unsere arme, kleine, ach so schwache Vernunft zur Gottheit erhob? Die verschwommenen Menschheitsideen anhing und sogar begann, das religiöse Empfinden naiv-gläubiger Christenmenschen zu zersetzen? Ja! Wer anders denkt, kennt Lessing nicht. Wer sich mit solchen einfachen Erklärungen wie „liberal“, „Aufklärer“, „Judenfreund“ zufrieden gibt, darf nicht den Anspruch erheben, zur wirklichen Gedankentiefe nationalsozialistischer Weltanschauung gedrungen zu sein. Wir dürfen doch niemals vergessen: auch die starke Persönlichkeit ist gebunden an ihre Zeit. Nur wenige ganz Große weisen über ihre Gegenwart hinaus und gestalten von sich aus die Zukunft neu. Aber selbst diese zollen bewusst oder unbewusst den Strömungen ihrer Tage einigen Tribut. Wie viel Mittelalter steckt doch noch in einem Martin Luther? Wieweit ist Bismarcks staatsmännisches Genie noch von den volksdeutschen Gedanken des 20. Jahrhunderts entfernt! Und dennoch wäre es Pharisäertum, wollten wir uns erhaben über ihre Fehler dünken und ihnen in jüdisch-krämerhafter Weise die Fehlleistungen ihres Schaffens oder die Grenzen ihrer Wirksamkeit vorrechnen.
Zu Nathan der Weise: Die Handlung des aus fünf Akten bestehenden dramatischen Gedichtes Nathan der Weise spielt im mittelalterlichen Palästina zwischen Christentum, Islam und Judentum; die Hauptfigur Nathan trägt die Züge von Moses Mendelssohn, dessen Freund Lessing war.
Lessing zieht die jammernden Griechen vor
Dr. phil. Hermann Harder, Studienrat und Schriftsteller (1901-1944) befasste sich 1939 in „Das germanische Erbe in der deutschen Dichtung – ein Überblick“ mit Lessing:
Lessing war nicht nur Aufklärer, auch Klassizist. Früher wurde ein Laokoon auf höheren Schulen allgemein, heute noch gelegentlich gelesen. Darin findet sich eine Stelle, die zeigt, dass Lessing schon die Saga von den Jomswikingern gekannt hat. Es fällt ihm auf, dass die nordischen Helden jede Äußerung des Schmerzes als unmännlich verachten, während die Helden Homers laut weinen und jammern, wenn sie eine Wunde empfangen. Anstatt dieses Nordmannshochziel zu bewundern, verwirft Lessing es als barbarisch, zieht stattdessen die jammernden Griechen vor und tadelt die Ansicht des germanischen Schotten Adam Smith [Moralphilosoph, Volkswirtschaftler 1723-1790], der da schreibt: „Aus diesem Grunde ist nichts anständiger und eines Mannes unwürdiger, als wenn er den Schmerz, auch den allerheftigsten, nicht mit Geduld erringen kann, sondern weint und schreit.“
Lessing zu einem Nationalsozialisten zu machen, ist Mummenschanz
Ernst Suter (Deutschlehrer, 1905-1941) schrieb 1938 den Artikel „Lessing politisch gesehen“ in der „Zeitschrift für Deutschkunde“:
Wir suchen nicht nach Nationalsozialisten in der Literaturgeschichte. Die zahlreichen geschichtlichen Romane, in denen Cäsar, Cromwell, Hannibal oder wer sonst als verkleidete Adolf Hitler vor uns aufmarschieren, sind der Wissenschaft kein Vorbild. Nein, auch Lessing war kein Nationalsozialist, und wer ihn dazu machen möchte, der treibt nicht nationalsozialistische Wissenschaft, sondern einen gesinnungstollen Mummenschanz. Die Fragestellung einer neuen Wissenschaft heißt nicht: War Lessing Nationalsozialist? Sie heißt: Hat Lessing in seiner Zeit und ihren Möglichkeiten mitgewirkt bei dem Ringen des deutschen Volkes um sich selbst, um die Erkenntnis seiner Werte, um die Bildung seiner Menschen? Oder anders: War Lessing ein politischer Dichter?
Vertragen können wir Deutschen den „Nathan“ heute nicht mehr
Adolf Bartels (Journalist und Schriftstelle, 1862-1945) befasst sich in „Deutsche Dichter – Charakteristiken“, Leipzig 1943, mit Lessing und die Juden. Er gab bereits 1918 sein Buch: „Lessing und die Juden“ heraus, das 1934 neu aufgelegt wurde:
„Nathan der Weise“ ist keine Tragödie. Wer die Maßstäbe dieser Form an das Werk legt, wie es u. a. Schiller getan hat, begeht ein Unrecht, er ist aber in der Charakteristik (bis auf Nathan selbst, dessen Großmut übertrieben, und Recha, deren Naivität die der Judenmädchen auf den Bühnen unserer jüngsten Vergangenheit ist) gelungen und als Drama so gut gebaut, wie es bei einem Tendenzstücke, das um eine Parabel herum kristallisiert wurde, möglich war. Ein „dramatisches Gedicht“ hat Lessing selber das Werk genannt, und wir haben, was wir jetzt auch dagegen zu sagen haben, seinesgleichen seit seinen Tagen nicht mehr gesehen; denn der „Faust“ gehört einer höheren Sphäre an. Recht vertragen können wir Deutschen den „Nathan“ heute freilich nicht mehr. Nicht volle zwei Jahre nach dem Erscheinen des „Nathan“ ist Lessing ins Grab gesunken, erst 52 Jahre alt, nachdem in der letzten Zeit seines Lebens seine geistige Kraft beinahe erloschen und er auch in seinem Verkehr etwas herabgekommen war. Für mich wenigstens ist es geradezu schauerlich, dass ihm da der Jude Alexander Daveson am nächsten stand. [Lessing empfahl 1780 den Schriftsteller Alexander Daveson an Moses Mendelssohn].
Siehe auch: Wie die NS-Kulturpropaganda deutsche Dichter der Klassik für ihre Ideologie vereinnahmte und dafür Handlanger in Literatur und Wissenschaft fand (I): Goethe und Schiller