Von Wolf Stegemann
Unter dem Titel-Stichwort Wiedergutmachung stellen wir hier eine Artikelreihe vor, wie in Rothenburg ob der Tauber nach Ende des Krieges mit der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts umgegangen wurde. Federführend war für Rothenburg die „Widergutmachungsbehörde III für Ober- und Mittelfranken“ in Fürth. Dann gab es beim Bayerischen Staatsministerium des Innern ein „Staatskommissariat für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“, das Bayerische Staatsministerium für Finanzen, das Bayerische Landesentschädigungsamt München mit Zweigstelle Nürnberg, das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung mit den Außenstellen Nürnberg und Rothenburg ob der Tauber. Letztere war im „Haus der Militärregierung“ mit den Telefonnummern 637 und 638 untergebracht (Herrngasse, frühere NSDAP-Kreishaus). Noch vor 1949 zog diese Außenstelle mit beibehaltener Firmierung Rothenburg nach Ansbach um. Die dortige „Betreuungsstelle für politisch und religiös Verfolgte“ wurde Mitte 1951 aufgelöst. Alle diese Dienststellen waren aufgefordert, bei Bedarf Standesämter, Finanzämter, Ordnungs- und Meldeämter in Rathäusern und Landratsämtern, Polizeiverwaltungen, Katasterämter, Amtsgerichte, Entnazifizierungsbehörden bei der Suche nach Dokumenten in das Wiedergutmachungsverfahren einzuschalten. Zudem musste die Wiedergutmachungsbehörde darauf achten, dass Entscheidungen nach Recht und Gesetz, Vorschriften und Anordnungen getroffen wurden.
Langwierige und jahrelange Wiedergutmachungsverfahren
Diesem notwendigerweise hochbürokratischen Koloss stand der Emigrant irgendwo in den USA, in Shanghai oder Südafrika gegenüber, der Verfolgte im eigenen Land oder Angehörige von in Konzentrationslagern Ermordeten. Diese Betroffenen wurden durch eigens gegründete Vereinigungen wie die „Jewish Restitution Successor Organization“ (JRSO), der „Jewish Trust Corporation“ oder anderen Treuhänder-Gesellschaften oder Anwaltsgruppen vertreten, die deutsche Anwälte stellten. In den Rothenburger Wiedergutmachungsfällen geht es um Grundstücke, Häuser, Inventar und Gegenstände aus der geplünderten Synagoge in der Herrngasse, die Rothenburger ihren jüdischen Nachbarn durch scheinbare Kaufverträge weggenommen oder einfach nur gestohlen hatten. Auch die Stadtverwaltung selbst befand sich unter den arisierenden Tätern. Die Wiedergutmachungsakten liegen im Staatsarchiv Nürnberg. Leider wurden nicht zu allen Arisierungs- und Wiedergutmachungsfällen Akten gefunden.
Was war die Wiedergutmachung?
Eine Wiedergutmachung setzt das Vorliegen und Wissen einer Schuld voraus. Der Journalist Franz Heitgres machte sich kurz nach 1945 über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts Gedanken, die sich am 10. Oktober 1946 in einem Essay in der Wochenzeitung „Die Zeit“ niederschlugen. Über die Erkenntnis von Schuld schrieb er aus der Sicht von 1946:
„Wir finden aber bei dem kleinen Mann und dem Mitläufer mehr Verständnis, als bei dem wirklich Verantwortlichen. Wenn der Mitläufer aus eigener Erkenntnis bereit ist, in der veränderten Situation mit seinen geringen Möglichkeiten wieder gutzumachen, so öffnet diese Handlungsweise einen Weg zu neuer und besserer Verbundenheit der deutschen Gesamtheit; unerlässlich ist aber, dass das zu Unrecht erworbene Vermögen und der Besitz der wirklichen Kriegsverbrecher für die Wiedergutmachung erfasst wird.“
Diese Aussage von 1946 ist zwar eindeutig und vermittelte auch die Meinung der Verfolgten-Verbände, war aber bei anderen umstritten. Von alliierten Besatzungspolitikern wurde anfangs die Forderung laut, eine hundertprozentige Wiedergutmachung ohne Rücksichtnahme auf den deutschen Staat und seine Bevölkerung zu verlangen, was praktisch das Ende Deutschlands bedeutet hätte. Ebenfalls das Pariser Reparationsabkommen (Beschlagnahme des deutschen Auslandsvermögens, Beschlagnahme von Devisenbeständen, Warenzeichen und Patenten sowie die Demontage der Industrie) sollte mit geschätztem Wert 25 Millionen US-Golddollar (bzw. bis 20 Milliarden Reichsmark) für geschädigte Emigranten zur Verfügung gestellt werden. Allerdings war dieser Beschluss umstritten und wurde letztlich durch andere Abkommen auch nicht umgesetzt. – Worin soll nun die Wiedergutmachung bestehen? fragt Franz Heitgres 1946 und gibt die Antwort:
„Darin, die Möglichkeit einer neuen Existenz zu schaffen! Bei weitgehendem Entgegenkommen in jedem Einzelfall ist stets die Gesamtlage des deutschen Volkes zu berücksichtigen. Auf dieser Basis erfolgt die Wiedergutmachung. Zugleich erfüllt sie damit zwei weitere Aufgaben. Erstens, die Schuld dem Schuldigen begreiflich zu machen; zweitens, den Geschädigten zu erziehen, damit er begreift, welche Verpflichtung er dem neuen demokratischen Staat gegenüber hat. Dieses ist auch die Meinung der verschiedenen Komitees der aus politischen Gründen Verfolgten, wie es die Interzonenkonferenz unterstrichen hat.“
Die Schuld von Personen im Wiedergutmachungsverfahren
Schließlich setzte sich durch, dass in erster Linie jenen geholfen wurde, die aus den Höllen der Konzentrationslager befreit wurden und zumeist vor dem Nichts standen. Voraussetzung für die Wiedergutmachung war auch die rechtzeitige Beschlagnahme und Sicherstellung des Vermögens der Schuldigen, also von Personen. Dafür setzte die Wiedergutmachungsbehörde Treuhänder ein, die das Vermögen des Schuldigen, zu dem auch das arisierte Haus oder Grundstück gehörten, verwalteten bis das Wiedergutmachungsverfahren abgeschlossen war. Bis dahin flossen beispielsweise die Mieteinnahmen der 1938 arisierten Häuser auf Sperrkonten. Zur Rückerstattung des Vermögens, das unter NS-Herrschaft aufgrund der Verfolgung verloren worden war, erließen die Besatzungsmächte zwischen 1947 und 1949 unterschiedliche Gesetze. Differenzen gab es insbesondere bei der Behandlung der erbenlosen Vermögenswerte.
Rückerstattung von Immobilien und Vermögen
Die Sowjetunion wollte diese als Entschädigung für NS-Verfolgte und für Reparationsleistungen einbehalten, die USA beabsichtigten, diese den jüdischen Organisationen im Ausland auszuhändigen. Die Briten fürchteten hingegen, dass diese Gelder dann in das unter britischem Mandat stehende Palästina fließen würden, und dadurch die Unabhängigkeit und Gründung des Staates Israel beschleunigt werden würde, die insbesondere durch Überlebende des Holocaust angestrebt wurde. Schließlich setzte sich in den drei Westzonen die Linie der USA durch, die bereits 1947 im Militärregierungsgesetz Nr. 59 festgeschrieben war.
Die Rückerstattung war konfliktträchtig
Wenn der Sachverhalt des „Zwangsverkaufs“ vorlag, musste das von Juden erworbene Vermögen – insbesondere Grundstücke und Betriebe – auch bei anderenfalls „gutgläubigem Erwerb“ rückerstattet werden. Zudem führte die Rückabwicklung der Kaufverträge wegen der seit dem Krieg eingetretenen Geldentwertung (Währungsreform 1948) praktisch zu einer fast entschädigungslosen Enteignung der „Käufer“. Die Rückübertragung von Immobilien war im Wesentlichen bis 1957 abgeschlossen. 44 Prozent der Antragsteller lebten in den USA; Geschädigte aus dem Ostblock kamen in Zeiten des Kalten Krieges nicht zum Zuge, insbesondere auch, weil sich die Rückerstattung auf Vermögen beschränkte, das sich in der Bundesrepublik und Westberlin befand.
Im 1957 verabschiedeten Bundesrückerstattungsgesetz (BRüG) verpflichtete sich die Bundesrepublik, Schadenersatz für entzogene und nicht mehr auffindbare Vermögenswerte zu leisten. Voraussetzung war jedoch, dass diese Gegenstände auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gelangt waren. So musste etwa ein Antragsteller nicht nur den Wert des geraubten Schmucks oder Gemäldes glaubhaft machen, sondern auch nachweisen, dass dieser in das westdeutsche Gebiet verbracht worden war. Es gab zahlreiche Prozesse, und die Summe der ausgezahlten Entschädigungsleistungen blieb wegen dieser hohen Nachweishürde vergleichsweise gering.
Die bayerischen Rückerstattungsbehörden
Der Aufbau der Rückerstattungsverwaltung war von der der Entschädigungsverwaltung in aller Regel unabhängig. Allerdings wies auch sie je nach Besatzungszone bzw. Bundesland andere Strukturen auf. In Bayern wurde bereits 1946 ein eigenständiges Landesamt für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung eingerichtet. Dieses ging 1948 in dem Landesamt für Wiedergutmachung auf, wurde aber schon 1949 in alter Form wiederhergestellt. Wie das Landesentschädigungsamt unterstand es dem Staatsministerium der Finanzen. Die Durchführung der Rückerstattung wurde allerdings nachgeordneten Dienststellen, den so genannten Wiedergutmachungsbehörden, übertragen. Davon gab es insgesamt fünf, also eine pro Regierungsbezirk. Welche Dienststelle im Einzelnen für die Rückerstattung zuständig war, richtete sich dabei nach der Lage eines entzogenen Grundstücks oder einer Immobilie, bei Hausrat nach dem Wohnsitz, bei Wertpapieren nach dem Sitz der das Depot führenden Bank.
Weitere mit der Wiedergutmachung befasste Behörden
Neben den genannten Behörden gab es weitere staatliche Einrichtungen, die in den Vollzug der Entschädigungs- und Rückerstattungsgesetze involviert waren. Im Bereich der Entschädigung waren dies vor allem die Gerichte, vor denen die zahllosen Einwendungen der Betroffenen verhandelt wurden: das Landgericht München und das Münchner Oberlandesgericht. Die Prozessvertretung nahm dabei das Bayerische Landesentschädigungsamt nicht selber wahr, vielmehr wurde der Freistaat Bayern vor Gericht durch die Finanzmittelstelle München, die später in Bezirksfinanzdirektion München umbenannt wurde, vertreten. Bei dieser erwuchsen daher so genannte Parteiakten, die mit den Prozessakten, die beim Landgericht anfielen, weitgehend identisch waren.
Von der Rückerstattung waren sowohl die Oberfinanz- als auch die Bezirksfinanzdirektionen massiv betroffen. Richteten sich die Ansprüche gegen das Deutsche Reich, so wurde dieses durch die Oberfinanzdirektionen München und Nürnberg vertreten, war der Freistaat Bayern die beklagte Partei, etwa weil das beanspruchte Vermögen in seinen Besitz gelangt war oder er die Rechtsnachfolge von in Bayern ansässigen NS-Institutionen angetreten hatte, so übernahm die örtlich zuständige Bezirksfinanzdirektion die Prozessvertretung.
Bürokratie löste Willkürpraxis ab
Wie gezeigt, erforderte der Vollzug der Entschädigungs- und Rückerstattungsgesetze den Aufbau breit angelegter Behördenapparate mit einer Vielzahl von Mitarbeitern. Über den damit einhergehenden Bürokratismus ist – sicher nicht ganz zu Unrecht – von Anfang an heftig geklagt worden. Die Folge waren kleinliche Antrags- und lang dauernde Bearbeitungsverfahren. Es ist nicht zu bezweifeln, dass viele Verfolgte dies als schikanös und entwürdigend erlebten. Hinzu kam, dass bestimmten Verfolgtengruppen die Anerkennung lange Zeit versagt wurde (Verfolgungen auf dem Gebiet der osteuropäischen Staaten, Sinti und Roma, Zwangsarbeiter etc.). Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die Bürokratisierung eine Willkürpraxis beendete, die in hohem Maße von subjektiven Auffassungen einiger Weniger geprägt war und bei der die Unterstützungen beinahe wie Almosen verteilt worden waren. Die Wiedergutmachungsgesetze schufen Ansprüche, die notfalls auch über den Rechtsweg eingeklagt werden konnten.
Verwaltungsverfahren nach vorgegebenen Regeln
Entschädigung und Rückerstattung stellten damit Verwaltungsverfahren dar, die nach fest vorgegebenen Regeln abliefen und sich in Schriftform niederschlugen. Wegen der ungeheueren Zahl von NS-Opfern erwuchsen daher bei den Entschädigungs- und Rückerstattungsbehörden, aber auch bei den Verwaltungseinrichtungen, die mittelbar davon betroffen waren (Bezirksfinanzdirektionen, Oberfinanzdirektionen, Gerichte), massenhaft gleichförmige Einzelfallakten, die den in dieser Form einzigartigen Versuch dokumentieren, individuellen Schadensersatz zu leisten.
Maßnahmen vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland
Hilfsmaßnahmen zur Wiedergutmachung gab es bereits vor Gründung der Bundesrepublik für überlebende Juden und die aus politischen und religiösen Gründen Verfolgten. Die Leistungen waren allerdings in den ersten Jahren regional begrenzt und unkoordiniert. Immerhin wurde dieser Personenkreis bei der Beschaffung von Hausrat, Wohnung und Arbeit sowie bei der Zuteilung rationierter Lebensmittel bevorzugt. Diese frühen Entschädigungsleistungen zeigten auch Nachteile: Bei der ratenweisen Rückzahlung der Sondervermögensabgabe, die den Juden im Dritten Reich abverlangt worden war, minderte die Währungsreform den Wert. Manche staatenlose Juden (Displaced Persons), die in die USA auswandern wollten, traten ihre Ansprüche gegen einen Vorschuss an deutsche Banken ab. Außerdem erließen die Besatzungsmächte zwischen 1947 und 1949 mehrere Gesetze und Verordnungen zur Rückerstattung des Vermögens, das unter NS-Herrschaft geraubt oder durch „Zwangsverkäufe“ verloren worden war. In der amerikanischen Zone galt das Gesetz Nr. 59 der Militärregierung.
Weitergelten der Gesetze und Verordnungen der Alliierten
Nach Gründung der Bundesrepublik galten alle Verordnungen und Gesetze der Besatzungsmächte unverändert weiter, so auch die Entschädigungsleistungen. Neben der Wiedergutmachung der Personen, die aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt worden waren, gehörten auch Entschädigungsleistungen für Kriegerwitwen, Heimatvertriebene und Bombengeschädigte, die als vordringlich galten. Zu bewältigen war zudem die Integration der NS-Belasteten. Die ablehnende Haltung der Öffentlichkeit wurde dadurch bestärkt, dass Fälle von angeblichem oder tatsächlichem Missbrauch von Entschädigungsleistungen bekannt wurden (zum Beispiel Unterschlagungen durch Philipp Auerbach vom „Staatskommissariat für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ oder die umstrittenen Zahlungen an den Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier). Aus taktischen Gründen wurden daher die wenig populären Entschädigungsmaßnahmen für NS-Verfolgte stets zeitgleich mit Gesetzen zugunsten einer der anderen Gruppen beschlossen.
Das Bundesentschädigungsgesetz vom 1. Oktober 1953 regelte die Entschädigung der an Leben, Körper und Gesundheit, Freiheit, Eigentum und Vermögen erlittenen Einbußen. Allerdings waren nur deutsche Staatsangehörige antragsberechtigt; zudem mussten sie ihren Wohnsitz in Westdeutschland haben. In dem Gesetz wurde die Entschädigungssumme auf fünf Mark pro Tag „Freiheitsentzug“, der in einem KZ, Ghetto oder Zuchthaus verbracht wurde, festgelegt.
Keine Entschädigung für Zwangssterilisation
Bereits am 26. Januar 1950 schrieb das Bayerische Staatsministerium des Innern alle Bezirksregierungen an, darunter die von Mittelfranken, mit dem Betreff: „Vollzug des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Entschädigungsgesetz) vom 12. 8. 1949; hier: Wiedergutmachung für durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Geschädigter.“ Darin steht, dass Sterilisationen nur insoweit wieder gutzumachen seien, soweit sie unter Missbrauch des Erbgesundheitsgesetzes aus Gründen der politischen Überzeugung der Rasse, des Glaubens, der Weltanschauung des Betroffenen erfolgt seien. Unfruchtbarmachungen aus allen anderen Gründen werden nicht entschädigt, wenn sie medizinisch einwandfrei durchgeführt worden waren.
„Bei der Prüfung dieser Frage wurde davon ausgegangen, dass eine gesetzliche Unfruchtbarmachung Erbkranker gegen ihren Willen auch in demokratischen Rechtsstaaten seit längerem besteht und in ihr dabei unbeschadet der weltanschaulichen Einstellung zur Frage der Unfruchtbarmachung im allgemeinen eine Verletzung allgemein anerkannter Menschenrechte nicht ohne weiteres erblickt werden kann.“
An dieser menschenverachtenden Aussage (A. III 8 – 5292 a 2) in einem bürokratischen Beamtendeutsch kleben noch die Vorstellungen nationalsozialistischer Erbgesundheit. Die Kreisverwaltungsbehörden und Gesundheitsämter wurden in dem Schreiben angewiesen:
„Personen, die durch das (nationalsozialistische) Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses geschädigt sind und eine Wiedergutmachung im Sinne des Entschädigungsgesetzes anstreben, sind im Sinne vorstehender Ausführungen zu belehren.“
Bundesentschädigungsgesetz vom 29. Juni 1956
Ein großzügiger ausgelegtes Bundesentschädigungsgesetz (BESG) vom 29. Juni 1956 erweiterte den Kreis der Personen und umfasste weitere Tatbestände, schloss allerdings Ansprüche von Personen mit Wohnsitz im Ausland weiterhin aus. Einige Opfergruppen erhielten keine Entschädigungs- oder Wiedergutmachungszahlungen. Der Psychiater Werner Villinger (1887–1961), 1961 Gutachter im Wiedergutmachungsausschuss des Bundestags, prägte den Begriff der „Entschädingungsneurose“, was zur Folge hatte, dass die während der NS-Diktatur Zwangssterilisierten (etwa 400.000 Menschen) aus dem Bundesentschädigungsgesetz heraus fielen. Keine Entschädigungen erhielten weiterhin sowjetische Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, prominente Kommunisten, Roma, Sinti, Euthanasieopfer, als „Asoziale“ verfolgte Jenische sowie in Konzentrationslager eingelieferte Homosexuelle.
Weitere Entwicklungen seit 1980
Erst in den 1980er-Jahren kam es zu einer Auseinandersetzung mit der Wiedergutmachung, einem Begriff, der nunmehr als verharmlosend angefochten wurde. Die benachteiligten Minderheiten der Sinti und Roma und der Homosexuellen, die Opfer der Zwangssterilisation, Wehrmachtsdeserteure und Zwangsarbeiter wurden nun als NS-Opfer wahrgenommen. Das Parlament stellte zwar Mittel zur Verfügung, um einen weiteren Härtefonds auszustatten, die Entschädigung der Zwangsarbeiter blieb jedoch außen vor. Auch für Homosexuelle fand bis heute weder eine geregelte individuelle noch eine kollektive Wiedergutmachung statt.
Seit 1998 wurden in den USA zahlreiche Sammelklagen auf Entschädigung von Zwangsarbeitern eingereicht. Der ungewisse Ausgang solcher Klagen, aber auch die dadurch ausgelöste politische Diskussion führten im Jahre 2000 zur Gründung der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Diese soll das Kapital von 10 Milliarden DM, das zu gleichen Teilen von Industrie und Bund aufgebracht wurde, an ehemalige Zwangsarbeiter in fünf osteuropäischen Staaten, Israel und den USA auszahlen. Vorbedingung für diese Zusage war die vollständige Rücknahme der Klagen.
Schlussstrich: Novellierung des Bundesentschädigungsgesetzes von 1965
Nach 1965 wurde die Entschädigungsfrage von den folgenden Bundesregierungen (z.B. der ersten großen Koalition, dem Kabinett Kiesinger) als erledigt angesehen. Zahlungen an Jugoslawien und Polen bezogen sich nicht auf individuelle Entschädigungen; lediglich einige Härtefallregelungen wurden neu aufgelegt. Bis 1965 gab es 28 Bundestagsausschüsse, darunter die vier Folgenden: Wiedergutmachung, Lastenausgleich, Kriegsopfer- und Heimkehrerfragen sowie Heimatvertriebene. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier regte im November 1965 an, die Zahl der Ausschüsse deutlich zu verringern.
Nach der Wiedervereinigung
Erst kurz vor der Auflösung der DDR, am 12. April 1990, distanzierte sich die erste frei gewählte Volkskammer vom Antisemitismus der DDR:
„Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.“
Die Bundesrepublik und die DDR schlossen wenige Wochen vor der Wiedervereinigung die „Vereinbarung zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrages“. Der Artikel 2 lautet:
„Die vertragsschließenden Seiten geben ihrer Absicht Ausdruck, gemäß Beschluss der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik vom 14. April 1990 für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste der Opfer des NS-Regimes einzutreten. In der Kontinuität der Politik der Bundesrepublik Deutschland ist die Bundesregierung bereit, mit der Claims Conference Vereinbarungen über eine zusätzliche Fondslösung zu treffen, um Härteleistungen an die Verfolgten vorzusehen, die nach den gesetzlichen Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland bisher keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten haben.“
Rechtsgrundlagen für Restitutionen von Vermögenswerten bzw. Entschädigungen an NS-Verfolgte im Beitrittsgebiet sind § 1 Abs. 6 Vermögensgesetz sowie das NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz. Die finanziellen Lasten wurden nicht mehr von der DDR, sondern aus den öffentlichen Haushalten des wiedervereinigten Deutschlands getragen. Über die Höhe der Wiedergutmachungsleistungen an jüdische Verfolgte bis zum 30. Juni 2013 unterrichtete die Bundesregierung den Deutschen Bundestag am 4. November 2013. Danach erhielt die „Jewish Claims Conference“ an Einmalbeihilfen rund 727 Millionen Euro (sowie rund 251 Millionen Euro auf einer anderen Rechtsgrundlage), knapp 3 Milliarden Euro an laufenden Beihilfen, Überbrückungszahlungen in Höhe von rund 110 Millionen Euro, eine institutionelle Förderung in dreistelliger Millionen-Euro-Höhe sowie einen Verwaltungskostenersatz.
Gesamtsumme der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts
Die Gesamtsumme aller Entschädigungsleistungen belief sich bis Ende 2012 auf 70,05 Milliarden Euro, sie umfasst Zahlungen nach dem BEG, dem BRüG, dem ERG, dem NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz, dem Israelvertrag, Globalverträgen, Leistungen im Öffentlicher Dienst, für das Hilfswerk „Wapniarka“, Fonds für Menschenversuchsopfer, Leistungen der Bundesländer außerhalb des BEG, diverse Härteregelungen und Leistungen an die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Die Zahl ergibt sich als Summe aus Zahlungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten; die jeweils sehr unterschiedliche Kaufkraft ist dabei nicht berücksichtigt.
Heute: Statt Entschädigungspolitik lieber Erinnerungskultur
Constantin Goschler schreibt 2015 in der „Zeit“, dass die Entschädigungsdebatten auch 70 Jahre nach Kriegsende nicht zur Ruhe gekommen seien – selbst in juristischer Hinsicht setze sich das Ringen bis in die jüngste Zeit fort. 2012 habe der Europäische Gerichtshof in Den Haag den Grundsatz der Staatenimmunität bestätigt, der es ausschließt, dass ausländische Staatsbürger zivilrechtliche Klagen gegen die Bundesrepublik einreichen. Genau dies hatten zuvor Nachfahren von Opfern eines von deutschen Soldaten verübten Massakers im griechischen Distomo getan. Die Erleichterung über das Urteil war bei der Bundesregierung groß.
„Doch statt den steinigen Pfad der Entschädigungspolitik weiterzugehen, wählt man hierzulande lieber den samtenen Pfad der Erinnerungskultur. Gerne werden dann binationale Historikerkommissionen einberufen und Gedenkstätten eingerichtet, wie es etwa die Außenminister der Bundesrepublik und Italiens unternahmen, um die juristische und politische Auseinandersetzung um italienische Militärinternierte zu entschärfen, die 2004 gegen die Bundesrepublik vor Gericht gezogen waren, weil sie nach 1943 Zwangsarbeit hatten leisten müssen. Offizielle moralische Schuldbekenntnisse, wie die von Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Griechenlandbesuch im März 2014, gehen fast immer mit einer klaren Zurückweisung von Reparations- und Entschädigungsforderungen einher… Hochtrabende Hoffnungen, wie man sie um die Jahrtausendwende gehegt hatte, scheinen sich indes nicht zu erfüllen. Damals hatten viele geglaubt, das deutsche Modell der Wiedergutmachung könne zur globalen Blaupause für den Umgang mit staatlichem Unrecht werden. Doch dafür gibt es keine Anzeichen. Bislang ist die Entschädigung der NS-Opfer ein Präzedenzfall ohne Nachfolger geblieben.“
Gewandelte Forschungsinteressen
Dr. Bernhard Grau vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv München stellte eine rasch zunehmende Beschäftigung mit den Akten der Entschädigungs- und Rückerstattungsbehörden fest und begründet dies mit einer Veränderung der Forschungsinteressen, wenn er schreibt:
„Die auch durch gesamtgesellschaftliche Debatten provozierte erneute Auseinandersetzung der Forschung mit der Judenverfolgung erhielt durch die Schwerpunktsetzung auf den Teilaspekt der ,Ausplünderung’ der jüdischen Bevölkerung ihr besonderes Gepräge. Dadurch gerieten zugleich die staatlichen Instanzen, die die Entziehung des jüdischen Vermögens zu verantworten hatten, ins Blickfeld der Historiker, aber auch der Journalisten.
Nahezu zeitgleich lebte auch das Interesse an den nach 1945 einsetzenden Bemühungen um eine Wiedergutmachung der den rassisch, religiös und politisch Verfolgten zugefügten Schäden wieder auf. Anders als bei den frühen Forschungen zur Entschädigung und Rückerstattung geht es nunmehr aber weniger um rechtsdogmatische Erkenntnisse oder eine Behandlung der Wiedergutmachung als politisches bzw. gesamtgesellschaftliches Phänomen, sondern erstmals ganz gezielt auch um die Untersuchung von Entschädigung und Rückerstattung am individuellen Einzelfall.“
- Siehe Einzelfälle der Wiedergutmachung in Rothenburg:……………………
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